Wie düster ist die Lage für die Weltwirtschaft wirklich? Ein Finanz-Experte ordnet ein
Derzeit geht es an den Börsen wieder einmal ruppig zu und her. Wie sehen Sie das?
Maurizio Porfiri: Es werden viele der Erwartungen an die Künstliche Intelligenz (KI) infrage gestellt. Nicht nur die Aktien der KI-Unternehmen leiden. Wir stellen auch eine Schwäche der sogenannten Momentum-Aktien fest, von den Aktien, die vom allgemeinen Boom mitgetragen wurden. Vergessen wir nicht, wir haben sehr starke Börsen-Monate hinter uns. Deshalb besteht jetzt der weit verbreitete Wunsch nach Sicherheit.
Es gibt ja auch Stimmen, die für einen längeren «Bärenmarkt» plädieren, einen Markt mit fallenden Kursen, um die Übertreibungen der jüngsten Zeit zu korrigieren. Teilen Sie diese Einschätzung?
Nein. Ich denke, dass wir uns grundsätzlich in einem guten Umfeld befinden.
Wirklich?
Ja, ich gehe davon aus, dass die US-Notenbank die Leitzinsen weiter sinken wird, und zwar mehrmals. Wir befinden uns am Ende eines lang gezogenen Zyklus, in dem wir immer noch ein positives Wirtschaftswachstum haben. Zudem gehe ich auch davon aus, dass die Inflation nicht weiter ansteigen wird. Der amerikanische Zollschock ist besser als erwartet verdaut worden.
Sie sind also im «Buy the dip»-Lager. Sehe ich das richtig?
Ja, ich gehe davon aus, dass wir auch 2026 nochmals ein gutes Börsenjahr erleben werden. Die Unternehmensgewinne werden in den USA steigen, aber auch in Europa.
Weshalb?
Die Märkte profitieren grösstenteils von der aktuellen Regierung. Zumindest bis zu den US-Midterm-Wahlen im November 2026. Die politischen Spannungen werden sich legen.
Derzeit deutet jedoch vieles auf das Gegenteil hin, gerade in den USA. Denken wir bloss an das Gerangel um die Epstein-Files.
Das erste Jahr einer Amtsperiode ist meistens das schwierigste. Ich glaube nicht, dass die Epstein-Files eine Gefahr für Donald Trump werden.
Das amerikanische Wirtschaftswachstum ist fast ausschliesslich KI-getrieben. Was, wenn diese Rechnung nicht aufgeht?
Die US-Wirtschaft wächst auch, ohne dass Datenzentren gebaut werden, wenn auch deutlich langsamer.
Trotzdem vergeht heute kaum ein Tag, an dem man nicht entweder in der «Financial Times», dem «Wall Street Journal» oder dem «Economist» von prominenter Seite vor einem bevorstehenden Crash gewarnt wird. Macht Ihnen das keine Bauchschmerzen?
Natürlich haben auch bei mir die Warnlampen auf Gelb gewechselt, denn immer mehr Unternehmen werden ins Ökosystem der KI eingebunden. Das KI-Wachstum wird nicht zuletzt dadurch getrieben, dass diese Unternehmen sich gegenseitig finanzieren.
Und das wiederum sieht geradezu mafiös aus, oder nicht?
Nein, ich denke vielmehr, dass hier eine neue Wertschöpfungskette rund um die KI entsteht. Es zeichnet sich ab, dass dieses System hauptsächlich von bereits etablierten Unternehmen, von den bekannten «Magnificent Seven» (Alphabet, Amazon, Apple, Meta, Microsoft, Nvidia, Tesla) gebildet wird. Oracle und Intel sind neu dazugekommen. Dank ihres Cashflows finanzieren sie den Aufbau dieses neuen Systems.
Wir sprechen hier von gigantischen Beträgen. Allein Microsoft investiert mehr als 100 Milliarden Dollar – jährlich, wohlgemerkt.
Angesichts dieser Beträge kann einem schon ein bisschen schwindlig werden. So rechnet die Beratungsfirma McKinsey damit, dass global in den nächsten 5 Jahren 6,7 Billionen Dollar in Datenzentren investiert werden.
Deutsche Billionen, wohlgemerkt.
Ja, wir sprechen von 6700 Milliarden Dollar. Angesichts dieser Beträge müssen auch die Staaten einen grossen Teil der Finanzierung direkt oder indirekt übernehmen. Die Regierung Trump ist gewillt, dies auch zu tun.
Auch Hedgefonds steigen im grossen Stil ein, schlicht und einfach deshalb, weil zu viel Geld vorhanden ist, das angelegt werden will.
Das macht auch mir Sorgen. Sehr viele private Firmen mischen bei dieser Finanzierung mit. Deshalb spricht man von «Schattenbanken», die mehr oder weniger unkontrolliert wirken können. Diese «Schattenbanken» sind entstanden, weil den normalen Banken nach der Finanzkrise viel strengere Regeln auferlegt wurden. Diese Regeln werden derzeit wieder gelockert. Deshalb werden sich auch die grossen US-Banken wieder vermehrt an der Finanzierung der KI beteiligen, ebenso wie der Staat.
Der grösste Sozialist in den USA ist demnach nicht Zohran Mamdani, der viel geschmähte, neu gewählte Bürgermeister von New York, sondern Donald Trump.
Normalerweise lasse ich die Finger von Unternehmen mit staatlicher Beteiligung, aber im aktuellen Fall von Unternehmen wie Intel lässt sich das vertreten.
Weshalb?
Es geht darum, den Wettbewerbsvorteil gegenüber China nicht zu verlieren.
Es besteht mehr oder weniger Konsens, dass es derzeit eine KI-Blase gibt. Die Meinungen gehen auseinander, wie schlimm das sei. Es gibt auch die These, wonach eine Blase die Voraussetzung für den technischen Fortschritt darstellt. Teilen Sie diese These?
Jeder kapitalintensive Fortschritt geht nicht ohne Blasenbildung ab. Will heissen, Übertreibungen lassen sich nicht vermeiden.
Die Parallelen zur Dotcom-Ära sind also berechtigt?
Ja, es stellt sich einzig die Frage, ob wir uns bei diesem Vergleich im Jahr 1996 oder im Jahr 1999 befinden.
Sagen Sie es mir?
Für mich fühlt es sich wie 1996 an. Das bedeutet, dass wir uns in einer Phase befinden, in der sich die Spreu vom Weizen trennt. Wir werden sehen, dass sich gewisse Technologien bald auch in unserem Alltag durchsetzen werden. Deshalb werden wir noch sehr viele Firmenübernahmen erleben. 2026 wird so gesehen ein entscheidendes Jahr werden.
Die Grundlage des KI-Booms, das sogenannte Large Language Model (LLM), gerät zunehmend in die Kritik. Der KI-Chef von Meta hat kürzlich erklärt, man erreiche damit im besten Fall das Intelligenz-Niveau einer Katze.
Ich sehe das LLM als Zugang zu unserer Kommunikation mit der Maschine. Dabei werden wir an Grenzen stossen.
ChatGPT 5 war ein Flop.
Genau. Zudem wird es dereinst massgebend sein, wie viel solche Dienste kosten werden. Heute werden sie gratis zur Verfügung gestellt, denn um die Modelle zu trainieren, braucht es so viele Anfragen wie möglich. Irgendwann wird es damit Schluss sein.
Oder wir werden auf chinesische Modelle wechseln, die sehr viel billiger sind.
Deshalb werden die Standard-LLM-Modelle irgendwann an ihre Grenzen geraten. Sie werden jedoch auch komplettes Neuland betreten.
Wo genau?
Im Unternehmensbereich.
Merken Sie davon bereits etwas? Gibt es schon Tausende von Mitarbeitern in der Finanzbranche, die um ihren Job fürchten müssen?
Erste Anzeichen haben sich in den letzten sechs Monaten bemerkbar gemacht, beispielsweise im Zugang zu Analysen. Einzelne Banken wie JP Morgan verfügen bereits über Modelle, mit denen man interagieren kann. Generell wird im Research-Bereich, etwa bei der Aufarbeitung von Unternehmenszahlen, schon sehr viel mit KI gearbeitet. Ebenso im Vertragswesen. Ein Vertrag, an dem bis vor Kurzem ein Juristen-Team tagelang gearbeitet hat, schafft KI in ein paar Minuten.
Konkret bedeutet dies: Sie geben der KI ein paar Stichworte. Die KI stellt den Vertrag aus. Dieser wird von der KI der Gegenpartei gelesen und auf ein paar Stichworte reduziert. Ist das nicht irgendwie grotesk?
Die Modelle funktionieren wie wir. Sie konzentrieren sich auf das Wesentliche. Deshalb muss man das Ganze mit Vorsicht geniessen. Doch anderseits erhalte ich dank dieser Modelle den direkten Zugriff auf Daten.
Wenn wir das zu Ende denken, kommen wir zum Schluss: Bald lassen Sie die KI arbeiten und gehen derweil auf den Golfplatz. Richtig?
So weit sind wir nicht. Nach wie vor werden die wichtigen Entscheide von uns Menschen gefällt. Das gilt auch für das Kreditgeschäft. Nur in China entscheidet KI bereits über Kredite. Allerdings nur bis zu einem gewissen Niveau.
Die Angst vor einer durch KI ausgelösten Massenentlassung ist demnach berechtigt?
In gewissen Bereichen werden bald KI-gesteuerte Maschinen Menschen ersetzen. Erste Anzeichen sehen wir beispielsweise bei Callcentern. Doch Entlassung im grossen Stil kann ich noch nicht erkennen. Hingegen werden die Unternehmen vorsichtiger bezüglich Neuanstellungen. Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass wegen der KI auch neue Jobs geschaffen werden. Gerade die LLM-Modelle müssen aufwändig gewartet werden.
Würden Sie einem Teenager heute noch empfehlen, eine Banklehre zu machen?
Ich würde ihr oder ihm empfehlen, in die Finanzindustrie zu gehen, aber nicht unbedingt über eine traditionelle Banklehre, wie ich es seinerzeit getan habe, sondern eher in die Bereiche Fintech oder Digital Finance.
Reden wir über die sozialen Folgen der KI. Kürzlich habe ich ein Interview mit einem amerikanischen Soziologen gehört, in dem dieser Folgendes ausgeführt hat: In den USA gibt es immer mehr junge Männer, die bis 30 im Elternhaus bleiben, keinem geregelten Job nachgehen, zu Hause daytraden und Pornos gucken. Ist das die Folge davon, dass Arbeit durch die KI entwertet wird?
Das sind tatsächlich besorgniserregende Szenarien. Ich sehe andererseits auch, dass die neuen Technologien auch neue Chancen bieten, gerade für junge Menschen. So ist es dank KI viel einfacher geworden, ein eigenes Unternehmen auf die Beine zu stellen. Natürlich braucht es dazu nach wie vor Startkapital und sehr viel Eigeninitiative. Doch gleichzeitig eröffnen sich immer neue Felder. Drohnen beispielsweise verändern die Arbeit von Handwerkern und Architekten. Ingenieurs-Wissen und Feinmotorik werden noch lange gefragt sein.
Was ist mit menschenähnlichen Robotern?
Ich denke, dass sie sich bis 2027 durchsetzen werden. Sie werden vielseitig einsetzbar sein, beispielsweise in Krankenhäusern bei der Zubereitung von Mahlzeiten oder in Militärküchen.
Sprechen wir noch über die Auswirkungen der KI auf das Geldsystem. Kryptowährungen boomen, die Rede ist von Stablecoins und von digitalen Währungen. Wird die KI dereinst die Zentralbanken überflüssig machen?
Eher nicht. Ich bin kein Krypto-Währungsfachmann, doch ich sehe keinen direkten Zusammenhang zwischen der Blockchain und KI. Unbestritten ist, dass virtuelle Zahlungsmittel gerade bei jungen Menschen immer beliebter werden und dass sie jederzeit und überall zwischen Fiat-Money und Kryptos switchen wollen.
Eine fundamentale Gefahr für das traditionelle Geldsystem mit Zentralbanken sehen Sie nicht?
Nein, Zentralbanken wollen vielmehr an dieser Entwicklung teilnehmen. Dank Stablecoins steigt beispielsweise die Nachfrage nach Staatsanleihen, weil diese als Sicherheit gebraucht werden. Die chinesische Zentralbank wird möglicherweise schon bald eine digitale Währung lancieren. Mit anderen Worten: Die Zentralbanken werden auf absehbare Zeit ihre Kontrolle über das Finanzsystem behalten.
Und das ist auch gut so?
Ja. Die Zeit, die Zentralbanken abzulösen, ist noch nicht gekommen.
