Was hat Sie in den letzten Tagen am meisten enttäuscht?
Carmen Tanner: Am negativsten stiess mir die fehlende kritische Reflexion des Top-Managements bei der Credit Suisse auf. Da war wenig Einsicht vorhanden.
Tatsächlich äusserte CS-Verwaltungsratspräsident Axel Lehmann an der Medienkonferenz kein einziges Wort des Bedauerns oder der Entschuldigung.
Das hat mich enttäuscht. Ein bisschen mehr Demut wäre angesagt gewesen, wenn schon der Staat einschreiten und helfen muss. Die CS hätte aus ihren Skandalen lernen und mit der Situation selbst zurechtkommen sollen. Davon war nichts zu hören.
Auch Tidjane Thiam, CEO von 2015 bis 2020, sieht nur Fehler von anderen. «Nach mir ist einiges schiefgelaufen», sagte er.
Dass sich ehemalige Verantwortliche der CS selbst auf die Schulter klopfen, ist das Tüpfelchen auf dem i. Auch sie begingen Fehler. Sie taten zu wenig. Verantwortung tragen sieht anders aus.
Vor Thiam war Brady Dougan von 2007 bis 2015 CEO. Er erhielt 2010 einen Monsterbonus von 70,9 Millionen – mit Gehalt verdiente er 90,1 Millionen.
Ausgerechnet er liess sich Boni auszahlen wie kein Zweiter – obwohl die Talfahrt des Aktienkurses der CS unter ihm begann. Dougan musste in den USA zudem 2014 vor dem Senatsschuss unter Eid aussagen zu kriminellen Aktivitäten der CS. Danach hätte er eigentlich sagen müssen: «Ich trete zurück. Entschuldigung, aber ich war überfordert und nicht in der Lage, die Bank richtig zu führen.»
Urs Rohner wiederum war von 2011 bis 2021 CS-Verwaltungsratspräsident und verdiente 52 Millionen. Er will nichts zurückbezahlen. 32 Milliarden zahlte die CS in zehn Jahren an Boni. Keiner will etwas zurückgeben. Was sagen Sie dazu?
Man wird ihm wahrscheinlich keine juristischen Verfehlungen nachweisen können. Aber es geht auch um ethische Fragen. Rohner und die anderen Verwaltungsräte und Topmanager trugen Verantwortung. Sie können nicht sagen: Läuft es gut, belohne ich mich. Läuft es schlecht, zahlen Staat und Steuerzahler. Verantwortung heisst: geradestehen auch für Misswirtschaft.
Was erwarten Sie von Rohner?
Eine Entschuldigung fände ich das Minimum. Ich bin auch nicht die Einzige, die es begrüssen würde, wenn er und andere Ehemalige vom Topmanagement und Verwaltungsrat für ihr Missmanagement Farbe bekennen und Geld zurückzahlen müssten.
Was sagen diese Vorgänge bei der CS über das Banking von heute aus?
Es gibt viele verschiedene Banken, die gut funktionieren, wie es auch bei der CS viele rechtschaffene Mitarbeitende gibt. Die Grossbanken sind eine andere Kategorie. Die CS wollte im Investmentbanking mit den Grossen mithalten. Profit, Status und Macht waren im Hauptfokus. Dabei erodierten Werte und gesellschaftliche Verantwortung über die letzten Jahrzehnte.
Wie war eine derartige Erosion möglich?
Das hat mit strukturellen und menschlichen Schwächen zu tun. Auf der menschlichen Ebene unterscheiden wir zwischen Faktoren, die auf Wahrnehmung, Motivation und Verhalten einwirken.
Was ist unter «Wahrnehmung» zu verstehen?
Etwa die Frage, ob es die Leute vor Ort realisieren, wenn die Firma gegen Regeln verstösst oder gegen Werte und Prinzipien wie Ehrlichkeit und Fairness. Es gibt zahlreiche psychologische Fallstricke, die dazu führen, dass man die Risiken unterschätzt.
War das bei der CS der Fall?
Man hat nicht hingeschaut oder die Risken schlicht falsch eingeschätzt. Fallstricke wie «illusion of control», der Glaube, alles im Griff zu haben, oder «overconfidence», eine Überschätzung der eigenen Urteils- und Prognosefähigkeiten, können dazu beitragen. Ganz interessant ist hier ein Bericht einer Anwaltskanzlei, die den Fall des Hedgefonds Archegos näher untersuchte, mit dem die CS fünf Milliarden Franken verlor.
Zu welchem Schluss kommt er?
Die CS hatte die notwendigen Tools für das Risiko-Management. Doch man schaute nicht richtig hin und gab den Warnsignalen ungenügend Beachtung. Dieser Fallstrick wird in der Wissenschaft «willful blindness» genannt – man geht schlechten Nachrichten quasi aus dem Weg.
Sie erwähnten bei den menschlichen Schwächen auch «Motivation». Wie ist das gemeint?
Die Anwaltskanzlei stellte auch eine Motivation zu hoher Risikobereitschaft fest. Es wurde darauf hingewiesen, dass versäumt wurde, wirksam gegen eine Kultur vorzugehen, die die Beteiligten zu aggressiver Risikobereitschaft ermutigte.
War es Gier?
Wir alle haben Gier in uns. Es ist nicht verwerflich, wenn man anständig verdienen und etwas besitzen will. Bei der CS schien mir diese jedoch exzessiv geworden zu sein. Dies wurde auch unterstützt durch das Wissen, dass man Gewinne einstreichen kann, die Verluste aber der Staat und die Steuerzahler tragen müssen. Vor allem Top-management und Verwaltungsrat zeigten wenig Bescheidenheit. Die letzten CEOs der CS waren kein Vorbild in Sachen Integrität. Mit Ausnahme von Oswald Grübel vielleicht. Er trat zurück nach dem Milliardenverlust, den Ex-UBS-Händler Kweku Adoboli verursacht hatte. Chapeau, sage ich da.
Was muss anders werden?
Man muss die Anreiz- und Vergütungsstruktur ändern. Kein Betrieb kann langfristig gesund und verantwortungsvoll wirtschaften, wenn er nur auf den Profit schaut. Man kann auch darüber reden, ob die Lohnschere beschränkt werden soll.
Sie denken an die 1:12-Initiative, welche die Juso 2013 zur Volksabstimmung brachten?
Ja. Dieser Initiative stimmte ich dazumal zu. Man könnte auch Richtung 1:10 oder noch tiefer gehen.
Im Ernst? Das höchste Gehalt in einer Bank dürfte nur noch zehnmal grösser sein als das tiefste?
Soweit ich weiss, haben andere Banken wie etwa die Alternative Bank Schweiz oder die Berner Kantonalbank eine vernünftige und zum Teil sogar noch tiefere Limitierung. Persönlich plädiere ich für eine Abschaffung von Boni. Es gibt ohnehin kaum Evidenz in der Forschung, dass Boni zu ausserordentlichen Leistungen beitragen. Das ist ein Mythos. Zudem müsste man auch über nicht materielle Anreize reden.
Woran denken Sie?
An Wertschätzung und Anerkennung in nicht materieller Form bei guten Leistungen. Das sind zentrale Punkte im Umgang mit Mitarbeitenden.
Wie funktioniert das?
Gewisse Firmen küren die Mitarbeiterin oder den Mitarbeiter des Monats. Nicht nur nach Profitmaximierungskriterien, sondern auch nach Integrität und im Umgang mit den Mitarbeitenden. Es gibt auch Firmen, die ihre Führungskräfte von den Mitarbeitenden beurteilen lassen, gerade in Bezug auf ihren Umgang.
Lernt auch die UBS etwas aus dem CS-Debakel?
UBS-Verwaltungsratspräsident Colm Kelleher sprach von Wachstumspotenzial. Das beunruhigt mich. Man muss verhindern, dass die UBS zum Monster wird und alleinige Bank für internationale Geschäfte ist. Die Schweiz braucht mindestens eine zweite Bank, die den Unternehmen internationale Tätigkeiten ermöglicht.
Sind Sie optimistisch in Bezug auf die Zukunft der Banken?
Ich bin eher pessimistisch. Im Moment gibt es zwar eine grosse Bereitschaft, die Ärmel hochzukrempeln. Man anerkennt, dass es ein riesiges Problem gibt. Ich wünsche mir, dass dieser Elan nicht durch Lobbyarbeit hinter den Kulissen wieder verwässert wird. Mir bereitet aber vor allem ein Punkt grosse Sorgen.
Welcher?
Eine kürzliche Umfrage hat gezeigt, dass 96 Prozent der Bevölkerung die CS-Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wollen. Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Da ist zum einen diese extreme Lohnschere nach oben. Das ist für sehr viele nicht nachvollziehbar. Zum anderen realisiert die Bevölkerung, dass gewisse Leute für Fehler nicht geradestehen müssen. Es ist wichtig, dass die Politik nach Möglichkeiten sucht, wie man die CS-Verantwortlichen irgendwie zur Rechenschaft ziehen kann.
Juristen sagen, das sei kaum möglich.
Ich sehe auch, dass es schwierig wird. Arroganz ist schliesslich nicht illegal, aber sehr stossend.
Sehen Sie einen Weg?
Noch nicht. Wenn wir aber nichts tun in dieser Richtung, riskieren wir nichts weniger als, den Verlust des Zusammenhaltes in unserer Gesellschaft, und das Vertrauen in unsere Institutionen. In den USA ist dieser Vertrauensverlust bereits sichtbar.
Was passiert sonst?
Die Leute fragen sich: Bin ich dumm? Ich gebe mir Mühe bei der Arbeit. Mache ich Fehler, muss ich dafür geradestehen. Aber für andere gilt das offenbar nicht. Wird hier nicht reagiert, erodiert der Glaube an unserer Institutionen. Das wäre verheerend.
Würde ich mich am Arbeitsplatz so verhalten, würde mich wohl innert Tagen eine fristlose Kündigung erwarten.
Wir als Land brauchen ganz klar viel striktere Regeln für Banken, welche via Investmentbanking hohe Risiken eingehen. Wo der Staat Risiken mittragen muss, soll er auch über Befehlsgewalt verfügen. Es braucht dafür neue Gesetze!
Und zeigt auch klar auf was in den Teppich-Etagen so abgeht.