In der Schweiz war die grosse, internationale Börsenparty in den ersten sechs Monaten des Jahres schon nach der Hälfte vorbei. Nun müssen hiesige Investoren in dem generell schwierigeren Umfeld auch für die zweite Jahreshälfte mit einer unterdurchschnittlichen Performance rechnen. Gestützt wird die pessimistische Prognose durch den Verlauf der aktuellen Berichtssaison, die weit mehr negative als positive Überraschungen hervorgebracht hat.
Die Drift, die sogenannte post earnings announcement drift oder kurz «Pead», ist ein Phänomen, das sich geübte Wellenreiter, die Momentum-Investoren, in den Aktienmärkten gern zunutze machen, um kurzfristig überdurchschnittliche Renditen einzufahren.
Die Drift ist eine Erscheinung, die auf eine ineffiziente Preisbildung in den Märkten hinweist. Sie basiert auf der empirisch belegten Tatsache, dass Investoren nach der Zahlenvorlage oft unterschätzen, welche Bedeutung Abweichungen von der Konsens-Erwartung auf den Unternehmenswert haben. Als Folge davon lässt sich beobachten, dass der erste Kursschock im Zuge einer negativen oder positiven Ergebnisüberraschung typischerweise über Wochen und Monate hinweg in einer Unter- respektive Überperformance des Aktienkurses mündet.
Die beiden Finanzmarktforscher Victor L. Bernard und Jacob K. Thomas haben die Pead Ende der 1980er-Jahre erstmals systematisch untersucht und wissenschaftlich dargestellt und dabei auch festgestellt, dass die träge Anpassung der Ergebniserwartung der Investoren im Fall von negativen Überraschungen besonders ausgeprägt ist.
Für den Schweizer Aktienmarkt ist diese Erkenntnis nicht gerade verheissungsvoll. Schon in der ersten Jahreshälfte hatten einige besonders hoch kapitalisierte Konzerne ihre Aktionäre mit wenig erbaulichem Zahlenmaterial enttäuscht beziehungsweise es nicht geschafft, diese aufzuheitern. Das gilt insbesondere für den erfolgsverwöhnten Pharmamulti Roche, dem in den vergangenen zwei Jahren nicht nur der grösste Teil seiner phasenweise sehr hohen Einnahmen aus dem Geschäft mit Covid-Tests abhanden gekommen sind.
Noch viel mehr leidet Roche am Umstand, dass die Konkurrenz den Baslern im Bereich der Onkologie laufend näher kommt, ohne dass ein vollwertiger Ersatz für die Paradedisziplin in Aussicht wäre. Als Folge davon haben die Roche-Aktien 2022 satte 23 Prozent an Wert verloren und die negative Performance hat sich in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres, in einem notabene positiven Börsenumfeld, fortgesetzt - wenn auch mit vermindertem Tempo (-6 Prozent).
Die Vorlage der Semesterzahlen am 27. Juli haben den Abwärtstrend der Roche-Titel freilich nicht gebremst, sondern eher wieder beschleunigt. Den Rückgang des Umsatzes zur Jahresmitte um währungsbereinigt 2 Prozent auf knapp 30 Milliarden Franken hatten die meisten Finanzanalysten zwar schon auf dem Zettel, doch dem Zwischenbericht fehlten die positiven Überraschungen, die den Investoren Zuversicht für eine baldige Wende hätten geben können.
So gesehen waren die Roche-Zahlen Ende Juli eben doch eine Enttäuschung, welche den Börsenwert des Unternehmens nahe an die Schwelle von 200 Milliarden Franken sinken liess. Ende 2021 hatte der Börsenwert von Roche noch mehr als 300 Milliarden Franken betragen.
Der seither eingetretene starke Rückgang ist ein wesentlicher Teil der Erklärung, dass sich die enttäuschende Performance der Schweizer Börse im vergangenen Jahr in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres fortgesetzt hat. Während der Gesamtmarkt, gemessen am Swiss Performance Index, zwischen Januar und Ende Juni um 8.2 Prozent zulegte, avancierten die 50 wichtigsten Titel im Euro-Stoxx-Index im Mittel exakt um das Doppelte.
Weil Roche nach wie vor ein Schwergewicht im Schweizer Aktienindex darstellt, ist auch die jüngste Bestätigung der allzu bedächtigen Entwicklung des Konzerns für den künftigen Verlauf der massgeblichen Schweizer Börsenindizes eine Hypothek.
Noch schwerer wiegt die Leistung von Nestlé (Marktkapitalisierung 280 Milliarden Franken), die im Zug des globalen Inflationsanstieges ebenfalls geeignet ist, die Investoren zu verunsichern. Zwar hat der Konzern zum Halbjahr erneut bewiesen, dass er die Preise erhöhen und so den Umsatz steigern kann. Den Beobachtern entgeht aber nicht, dass das Unternehmen seit 12 Monaten laufend Kunden verliert beziehungsweise anzahlmässig weniger Produkte unter die Leute bringt. Die Kursentwicklung hat sich auch deshalb in den vergangenen drei Wochen wieder verschlechtert, nachdem sie schon 2022 ein herbe Enttäuschung (-17 Prozent) gewesen war.
Innerhalb des SMI-Universums konnten sich in der aktuellen Berichtssaison nur Alcon, Logitech, Partners Group und vor allem Novartis mit mehr oder weniger eindeutig positiven Überraschungen hervortun. Das dürfte aus heutiger Sicht kaum reichen, um die seit Ende Juni negative Gesamtmarktperformance von über 3 Prozent wieder in positives Territorium zurückzuführen.
Novartis ist mit einem Börsenwert von 207 Milliarden Franken zwar ebenfalls ein Indexschwergewicht, doch hinter dem Super-Trio sind viele mittelgrosse Werte wie Lonza, Richemont, Sika, Geberit oder Holcim ins Stottern geraten. Diese Firmen profitierten zuletzt von besonders günstigen Marktbedingen wie der hohen Nachfrage nach Covid-Impfstoffen (Lonza), dem Post-Pandemie-Boom im Luxusgütergeschäft (Richemont) oder dem langjährigen Tiefzinsumfeld, das die Baukonjunktur länger als erwartet in Schwung gehalten hatte.
Andere Konzerne wie ABB, Kühne+Nagel oder auch die Versicherer Zurich und Swiss Re vermögen die hohen Erwartungen der Investoren aktuell zwar noch immer zu erfüllen, aber mit dem Ausweis von Sollwerten erhält der Markt nicht jene Impulse, die er in dem schwieriger werdenden Umfeld brauchen würde, um wieder nach vorne zu kommen. (bzbasel.ch)