Im deutschen Fernsehen gibt es bei der Satire-Sendung «xtra3» den sogenannten «Irrsinn der Woche». Kennen Sie den?
Nicole Niedermüller: Ja, den kenne ich.
Die Schweiz hat unter anderem dank der Unia nun Stoff für eine mögliche Folge geliefert: Eine Migros-Filiale wurde zum arbeitsrechtlichen Streitfall, weil darum gestritten wird, ob der Laden wegen 20 Metern Distanz zum Bahnhofsareal gehört oder nicht. Stimmen Sie zu?
Wenn man sich nur die 20 Meter anschaut, dann ist es die falsche Betrachtungsweise. Es geht um viel mehr als das: Es geht um die Leute, die im Verkauf arbeiten. Das, was die Migros nämlich an der Zollstrasse durchzudrücken versucht, ist eine Aushöhlung des Sonntagsarbeitsverbots. Sie probiert dies auch andernorts im Kanton, beispielsweise in Winterthur. Beim Streit geht es deshalb nicht nur bloss um eine Filiale, sondern um eine ganze Branche. Sie steht in der realen Gefahr, dass die Arbeit für sie am Sonntag zum neuen Standard wird.
1 In der Zeit zwischen Samstag 23 Uhr und Sonntag 23 Uhr ist die Beschäftigung von Arbeitnehmern untersagt. Vorbehalten bleibt Artikel 19.
Art. 19 Arbeitsgesetz – Ausnahmen vom Verbot der Sonntagsarbeit1 Ausnahmen vom Verbot der Sonntagsarbeit bedürfen der Bewilligung.
Art. 27 Arbeitsgesetz – Sonderbestimmungen für bestimmte Gruppen von Betrieben oder Arbeitnehmern1ter In Verkaufsstellen und Dienstleistungsbetrieben in Bahnhöfen, welche auf Grund des grossen Reiseverkehrs Zentren des öffentlichen Verkehrs sind, sowie in Flughäfen dürfen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sonntags beschäftigt werden
1quater Auf Autobahnraststätten und an Hauptverkehrswegen mit starkem Reiseverkehr dürfen in Tankstellenshops, deren Waren- und Dienstleistungsangebot in erster Linie auf die Bedürfnisse der Reisenden ausgerichtet ist, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sonntags und in der Nacht beschäftigt werden
Bildlich gesprochen wollen Sie also die Büchse der Pandora geschlossen halten.
Ganz genau. Wir wehren uns lediglich dagegen, dass der Sonntagsverkauf sich als das neue «Normal» etabliert. Wir setzen in diesem Streit zudem nur das bisherige Gesetz um. Wenn sich jemand verbissen verhält, dann ist es die Migros: Sie hat seit 2019 kein «Buebetrickli» unversucht gelassen, den Standort neben dem Bahnhof zu öffnen. Sie ist nun auch nach dem neusten Gerichtsurteil nicht in der Lage, das zu akzeptieren.
Die Filiale liegt ja auch an einer lukrativen Lage.
Diesen neusten «Trick» – die Filiale nach einer Umgestaltung der Strasse neu zum Bahnhof zu zählen – kann man schon machen. Wir haben uns aber als Gesellschaft darauf geeinigt, dass wir im Grundsatz alle gemeinsam an einem Tag in der Woche arbeitsfrei haben. Das allgemeine Sonntagsarbeitsverbot im Bundesgesetz sieht ja durchaus notwendige Ausnahmen vor, beispielsweise im Spital. In einer Demokratie muss es erlaubt sein, diese Regelung schlecht zu finden. Wer mit bestehenden Gesetzen nicht einverstanden ist, muss den gegebenen Rahmen einhalten, um eine Gesetzesänderung anzuregen. Die Firmen sollen aber aufhören, die bestehenden Gesetze mit Tricks ständig umgehen zu wollen.
Diese Forderung kommt nicht von ungefähr: Die Gewerkschaften konnten in der Vergangenheit mehrfach in Volksabstimmungen Liberalisierungsversuche bei den Öffnungszeiten abwehren. Was haben Sie falsch gemacht, dass Ihnen nun trotzdem «Zwängerei» vorgeworfen wird?
Es hat vielleicht damit zu tun, dass die Dimension des Streits nicht gut in der öffentlichen Diskussion abgebildet wird. Daran tragen auch die Medien eine Mitschuld: Unsere Auseinandersetzung wird als «Migros vs. Unia» – Grosskonzern gegen den angeblich «roten Klotz» – dargestellt, womit rasch die Komplexität des Falls in der Wahrnehmung untergeht. Die Kommentarspalten sind dann voll mit Sprüchen wie: «Ich kaufe gerne am Sonntag ein», was die Realität zusätzlich verzerrt. Fakt ist: Vom Verkaufspersonal wird heute sehr viel abverlangt. Sie haben lange Arbeitswochen, strenge Schichtpläne und lehnen deshalb die Sonntagsarbeit deutlich ab: Die Stimmbevölkerung weiss das und hat sich mehrfach für deren Interessen eingesetzt.
In Zürich gelten aber liberalere Öffnungszeiten.
Die Läden dürfen hier – anders als in anderen Kantonen – bis zu 96 Stunden die Woche geöffnet haben. Sie können zudem dank der zahlreichen Grossbahnhöfe und dem Flughafen viele Filialen auch am Sonntag geöffnet halten. Das macht es umso unverständlicher, dass die Migros zu unkorrekten Tricks greift.
Fakt ist aber auch: Gerade in Städten wie Zürich und Basel gibt es besondere Lebensrealitäten, die dazu führen könnten, dass man sich am Sonntag einen Zustupf verdienen möchte.
Richtig.
Wieso wird dieses Interesse von der Gewerkschaft nicht berücksichtigt?
Es gibt unterschiedliche Lebenswelten und natürlich Einzelfälle, die gerne am Sonntag arbeiten wollen. Die Gewerkschaft orientiert sich aber in ihrer Arbeit an den Interessen der grossen Mehrheit der Beschäftigten im Verkauf. Unsere Umfragen und die vielen Gesprächen mit dem Verkaufspersonal sind eindeutig: Die überwiegende Mehrheit des Verkaufspersonals wünscht sich einen arbeitsfreien Sonntag. Der Austausch mit den Menschen im Verkauf zeigt auch unmissverständlich: Ja, es gibt Einzelfälle. Ja, es gibt Situationen, in denen man den «Sonntags-Zustupf» benötigt. Das Arbeitsrecht erlaubt es bereits heute, an ausgewählten Standorten am Sonntag zu arbeiten. Sie sollen aber getreu dem Gesetz ausgewählte Ausnahmen bleiben, weil eine Anstellung im Detailhandel heute schon Familienleben, Freizeit und Erholung wegen flexiblen Arbeitszeiten einschränkt.
So wie Sie den Arbeitskampf darstellen, müsste die Migros-Filiale heute bereits verbarrikadiert werden. Stattdessen wählt die Unia den bürokratischen Weg mittels «Antrag auf Feststellungsverfügung».
Das ist der korrekte rechtliche Weg.
Wieso glauben Sie, dass die Unia damit Erfolg haben wird?
Die mittlerweile dreijährige Vorgeschichte, die letztlich in einem Sieg vor Gericht endete, zeigte uns, dass wir nicht auf dem Holzweg sind.
Schaut man aber nach Basel, so erkennt man mit der Coop-Filiale beim Bahnhof SBB eine vergleichbare Situation: Der Laden ist seit Jahren auch am Sonntag offen, obwohl zwischen ihm und dem Bahnhofsgelände eine breite Strasse mit Tram-Schienen steht.
Ich kenne die Diskussion um den Coop in Basel nicht. Solche Öffnungszeiten werden aber nicht von der Unia Zürich bewilligt, sondern von den zuständigen Ämtern im jeweiligen Kanton.
Was werden Sie machen, wenn es am kommenden Sonntag bei der Neueröffnung der Migros-Filiale neben dem Zürcher Bahnhof genauso wie in Basel aussieht?
Wir prüfen derzeit unsere Schritte und überlegen, was das Zielführendste ist. Es ist aber klar: Wenn die kantonalen Ämter das Sonntagsverkaufsverbot durch ihre Praxis aufweichen, dann werden wir auch juristisch dagegen halten.
Und konkret vor der Filiale?
Sie dürfen nicht vergessen, dass diese Auseinandersetzung mit der Migros eine grosse Belastung für die Mitarbeitenden vor Ort ist. Das Verkaufspersonal wird am kommenden Sonntag im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Gleichzeitig müssen die Mitarbeitenden Nachteile befürchten, wenn sie im Streit öffentlich Stellung beziehen. In einer solchen Situation wäre grosser Trubel nicht zielführend. Wir werden andere Wege finden, die Bevölkerung von unserer Position zu überzeugen.