Der norwegische Staat steckt zurzeit in dreifacher Krise. Zum einen lähmt der weltweite Kampf gegen das Coronavirus die exportorientierte Wirtschaft, zum anderen ist der Ölpreis dramatisch gefallen. Zudem machen sich die Folgen des Lockdowns bemerkbar: Die nationale Arbeitslosenquote ist im April auf ein Rekordhoch von 10,7 Prozent angestiegen. Alles in allem eine ungewöhnlich ungemütliche Situation für das wohlhabende Land.
Dabei schien die wirtschaftliche Zukunft im Januar 2020 noch sehr rosig zu sein. Norwegens Ministerpräsidentin Erna Solberg weihte das drittgrösste Ölfeld des Landes ein – Johan Sverdrup heisst es und ist viele Milliarden Dollar wert. «Die Erdölindustrie wird für die nächsten Jahrzehnte bestehen bleiben», sagte die Regierungschefin in ihrer Einweihungsrede.
Drei Monate später, am 30. April 2020, gibt Solberg bekannt, dass die heimische Öl- und Gasbranche in der Coronakrise unter anderem mit Steuervorteilen in Milliardenhöhe gestützt werden muss.
Die Sonderstellung der Erdölindustrie zieht zunehmend Kritik auf sich. Denn Norwegen hat die Rolle des internationalen Klimavorreiters inne. Bis 2050 will das Land klimaneutral sein (siehe Punkt 2). Zeitgleich investiert der Staat aber in die Erschliessung neuer Ölfelder in der Nordsee und im arktischen Ozean. Paradox, finden viele.
Umweltschützer wie Greenpeace und Greta Thunberg kritisieren die Ambitionen der Regierung. In einem Brief appelliert Greta Mitte Mai an Erna Solberg: Norwegen sehe sich mit der Entscheidung konfrontiert, ob es sich an die Klimaziele von 1,5 Grad Celsius halten oder «den schlecht durchdachten Interessen von Öl- und Gasunternehmen erliegen soll», schreibt die Aktivistin gemäss lokalen Medien.
In 30 Jahren eine klimaneutrale Gesellschaft sein aber noch 50 Jahre Erdöl fördern, wie passt das zusammen? Eine Analyse des norwegischen Paradoxes in drei Akten:
Um den Stellenwert des «schwarzen Goldes» in Norwegen zu verstehen, ist ein Rückblick in die Geschichte des Landes notwendig: In den 40er und 50er Jahren erlebte die Kriegs- und Nachkriegsgeneration – wie ein Grossteil der europäischen Bevölkerung – eine Zeit der Knappheit und der starken Rationierungen.
Anfang der 60er Jahre begann die norwegische Regierung, in Zusammenarbeit mit internationalen Öl-Firmen in der flachen Nordsee nach Erdöl und Erdgas zu bohren. 37 Fehlversuche später entdeckten sie im Dezember 1969 das Ölfeld Ekofisk und das Blatt wendete sich. Die Quelle hat das Land von Grund auf verändert.
Die fossilen Öl- und Gasressourcen begründen den Grossteil des norwegischen Reichtums; das Land ist heute Westeuropas grösster Ölproduzent.
Bis heute gilt Ekofisk als das reichste Ölfeld Norwegens – und noch immer sprudelt die Quelle. Der norwegische Petroleum-Direktion zufolge kamen im Laufe der Zeit über 110 weitere Ölfelder hinzu, 87 sind zurzeit in Betrieb. Die fossilen Brennstoffe fliessen in 8'800 Kilometer langen, submarinen Pipelines ans Festland, von wo aus sie in die ganze Welt exportiert werden.
Seit 1996 investiert der Staat die Gewinne der Industrie in einen Staatsfonds alias Öl-Fonds, der die Wirtschaft vor Schwankungen des Ölpreises schützen und zukünftige Generationen am Wohlstand teilhaben lassen soll. Der Fonds ist über 1000 Milliarden Dollar schwer und finanziert unter anderem den Sozialstaat des Landes.
Die Öl- und Gasindustrie ist sowohl zum grössten als auch finanziell wichtigsten Wirtschaftszweig des Landes aufgestiegen. Rund 225'000 Arbeitsplätze sind an das «schwarze Gold» gekoppelt. Der grösste Konzern des Landes ist der staatliche Öl- und Gas-Konzern Equinor, er beschäftigt rund 21'000 norwegische Angestellte. Politik und Industrie sind im Ölsektor eng miteinander vernetzt.
Norwegen gilt in internationalen Klimaverhandlungen als engagiertes Land. Die Politik fördert Elektroautos und Biogasmotoren, erneuerbare Energiequellen wie Wasser- und Windkraft sowie die Aufforstung im In- und Ausland. Rund 95 Prozent der Stromproduktion des Landes stammt aus Wasserkraft – ein Hoch auf die Flüsse und Fjorde.
Die Öl-Nation hat ihre bereits ambitionierten Klimaziele im Februar dieses Jahres weiter verschärft. Bis 2030 will man die eigenen Treibhausgase um neu 50 bis 55 Prozent im Vergleich zum Jahr 1990 reduzieren. Das Ziel: 2050 soll Norwegen eine emissionsarme Gesellschaft sein.
So vorbildlich die Ziele, so fragwürdig der Weg. Die Verbrennung von Erdöl und Erdgas treibt die Klimaerwärmung global voran. Auch wenn die Brennstoffe nicht in Norwegen selbst verbrannt werden, machen Treibhausgase wie CO2 nicht Halt vor Staatsgrenzen.
Gemäss der Umweltorganisation Oil Change International ist Norwegen der siebtgrösste CO2-Exporteur der Welt. Das entspricht zehn Mal so viel CO2, wie im eigenen Land ausgestossen werden.
Mit der Klimastrategie 2030 soll ein klimaneutrales Norwegen entstehen, das gleichzeitig seine ökonomische Stellung auf dem Ölmarkt sichert: Ein politischer Balanceakt, der zunehmend ins Wanken gerät. Im Zuge der Klimabewegung formiert sich im In- und Ausland Widerstand gegen den wichtigsten Industriezweig des Landes. Greenpeace hat im April eine Klage am Obersten Gerichtshof Norwegens eingereicht, in der sie die Expansionspläne in der Arktis als verfassungswidrig einstufen.
Ausgerechnet die Erderwärmung befeuert die Motivation der Ölkonzerne: Mit den steigenden Temperaturen schwindet das Eis in der Arktis und macht riesige Ölfelder für die Bohrung zugänglich. Für das Jahr 2020 hat der norwegische Staat bereits 69 Lizenzen zur Ölsuche und -förderung verteilt. Er setzt somit auch langfristig auf fossile Brennstoffe, hofft auf ein zweites Ekofisk.
Die kommerzielle Erdölförderung wird von der Regierung als umweltsicher, erwünscht und notwendig bezeichnet. Man ist überzeugt, dass kein Land umweltschonender bohrt als Norwegen. Indem auf höchsten Umwelt- und Technologiestandards neue Ölfelder erschlossen werden, soll Norwegen ein Vorbild für andere Ölstaaten sein.
Der staatliche Ölkonzern Equinor schreibt, das Ölfeld Johan Sverdrup sei «nicht nur gut für Investoren, sondern auch für das Klima». Dem Konzern zufolge setzt die moderne Erdöl-Förderung bis zu 90 Prozent weniger Emissionen frei als herkömmliche Bohrinseln. Zudem investiere der Staat in die Technologie, mit der CO2 im Meeresboden gespeichert werden kann.
«Manche Menschen sagen, wir sollen die Ölförderung gänzlich stoppen, dem Klima zuliebe. Aber wir glauben, dass Johan Sverdrup das Paradebeispiel ist, weshalb wir nicht aufhören sollten», schreibt das Unternehmen. Gemäss dem Motto: Wenn Erdöl, dann «sauber» gefördertes aus Norwegen.
Das Engagement für den Klimaschutz auf der einen Seite und der Enthusiasmus über die Erschliessung neuer Ölfelder auf der anderen verdeutlichen das norwegische Paradox. Kritik kommt derweil nicht nur vom Klima- und Umweltschutz, auch aus dem wissenschaftlichen Bereich bezeichnen einige die Energiepolitik des Landes als opportunistisch. Das Ölzeitalter fortzusetzen und in Krisen finanziell zu stützen, wird moralisch zur Herausforderung.
Die norwegische Regierung ist sich ihres Paradoxes sehr wohl bewusst. Das Eröffnen neuer Ölfelder im Norden in Zeiten des Klimawandels ist laut dem früheren Aussenminister Jonas Gahr Stør aber nicht ein norwegisches oder regionales Paradox, sondern ein globales. Dementsprechend sei es keine norwegische Aufgabe, dieses Paradox zu lösen, sondern eine globale.
Norwegen exportiert hauptsächlich Öl und Gas, was in ihrer Klimabilanz kaum negativ ins Gewicht fällt.
China exportiert Smartphones, Computer und Unterhaltungselektronik und da kommt natürlich einiges an CO2 zusammen, was in ihrer Klimabilanz negativ auffällt, dafür in den Importländern nicht.
Klingt für mich eher nach der Suche für einen Sündenbock, da man in anderen Länder nicht in der Lage ist, weniger Öl zu verbrennen