Sogar zweihundertprozentig regierungstreue Russen lachten lauthals heraus, als sie die Begründung der russischen Regierung hörten, warum jeder Kamaz-Lastwagen im so genannten «Hilfskonvoi» nur zwei, drei Paletten Hilfsgüter geladen hatte: «Die Kamaz-LKW konnten nicht vollständig beladen werden, um einen übermässigen Verschleiss der fabrikneuen Lastwagen zu vermeiden. Voll beladen wären die Kamaz-LKW zudem auf Bergstrassen zu langsam gefahren, um die Hilfsgüter rechtzeitig vor Ort zu bringen.»
Dazu muss man wissen, dass der «weisse Konvoi» durch die osteuropäische Tiefebene fuhr, wo bis zum Horizont keine Berge zu sehen sind. Und dass Kamaz-Lastwagen seit 1996 zwölf Mal das Langstrecken-«Rallye Dakar» gewonnen haben. Ein Kamaz-LKW ist bärenstark und schier unzerstörbar. Bei einer Kollision mit einer Datscha, dem traditionellen russischen Wochenendhaus, müssten eher dessen Bewohner um ihr Leben fürchten als der Lastwagenfahrer.
Nachdem die Fahrer ihre wenigen Paletten mit Buchweizenmehl, Babynahrung und Trinkwasser in den von (pro-)russischen Separatisten besetzten und kontrollierten Städten in der Ost-Ukraine abgeladen hatten, fuhren sie ihre Lastwagen zu zentralen Parkplätzen.
Dass dafür zielgenau Parkplätze vor Maschinenfabriken ausgewählt wurden, machte die Journalisten vor Ort schon misstrauisch. «Dass uns schwerbewaffnete Kämpfer nicht einmal in die Nähe der leeren Lastwagen vor den Maschinenfabriken liessen, war auch nicht gerade eine vertrauensbildende Massnahme», erklärte ein Journalist vielsagend.
Vorher konnte er bei den beladenen Lastwagen sogar unter die Blachen schauen und die Paletten mit den Hilfsgütern fotografieren. Nach seiner Beobachtung haben die Kamaz-Lastwagen die Maschinenfabriken voll beladen verlassen. Beweise dafür gibt es nicht, aber eine logische Begründung.
Запретных грузов в #гумконвой, как и предп-сь, не обнаружено. Причём открывали любую фуру по желанию ж-в. pic.twitter.com/88G5B7H1cD
— Jüri Maloverjan (@MaloverjanBBC) 15. August 2014
Got to check out more convoy trucks this morning. A lot of them mostly empty like this one pic.twitter.com/9qM7bYliv9
— Courtney Weaver (@courtneymoscow) 15. August 2014
Here is another mostly empty one. Rus emergency services said they wanted reserve trucks if some break down 1/2 pic.twitter.com/4tO1gGOcrN
— Courtney Weaver (@courtneymoscow) 15. August 2014
Die Maschinenfabriken in der Süd- und Ost-Ukraine produzieren die wichtigsten Teile für russische Panzer, Kampfhubschrauber und Kriegsschiffe. Des Gesamtvolumen aller russischen Aufträge für die ukrainische Rüstungsunternehmen beträgt gemäss «Business Week» stolze 15 Milliarden Dollar.
Die hochspezialisierten Rüstungsunternehmen in der Süd- und Ost-Ukraine sind damit von grösster strategische Bedeutung für Russland. So fliegen alle russischen Kampfhubschrauber mit Triebwerken von Motor Sitsch aus Saporischschia.
Die russische Armee soll gemäss dem Rüstungsexperten Wladimir Woronow in den nächsten Jahren 1000 neue Kampfhubschrauber bekommen. Dafür werden (inklusive Ersatzmotoren) 3000 Triebwerke benötigt. «Russische Hersteller haben es 2013 aber nicht einmal geschafft, 50 Triebwerke zu bauen.»
In Sewastopol auf der Krim-Halbinsel und in Odessa in der Süd-Ukraine werden die russischen MiG-21-Kampfflugzeuge und Mi-8-Transporthubschrauber gewartet. Konsterniert erklärte der frühere Rüstungsschef der russischen Luftstreitkräfte, Anatoli Sitnow, im Dezember 2013: «Wenn die Ukraine morgen die Grenze schliesst, dann steht unsere Luftwaffe am Boden.» Selbst die Fliegerstaffel des russischen Präsidenten ist auf ukrainische Rüstungsunternehmen angewiesen.
Auch die geplanten 24 U-Boote und 54 Kriegsschiffe kann Russland nicht ohne ukrainische Rüstungsunternehmen fertigstellen. Durch die Annexion der Krim-Halbinsel hat sich Russland dafür die zwei grössten Werften in Sewastopol am Schwarzen Meer gesichert.
Die Gasturbinen für die russischen Fregatten und Zerstörer baut aber das ukrainische Maschinenbau-Unternehmen Zorya-Mashproekt in Mykolajiw in der Süd-Ukraine. Zudem kann die russische Staatsunternehmen Gazprom ohne Gasturbinen für die Kompressor-Stationen von Zorya-Mashproekt aus der Süd-Ukraine keine einzige neue Erdgasleitung bauen.
Es ist eine Ironie des Schicksals, dass ohne ukrainische Rüstungsbetriebe und Maschinenbau- Unternehmen das russische Militär und die wichtigsten russischen Staatsbetriebe still stehen würden. Ausgerechnet die Rüstungsindustrie der Süd- und Ost-Ukraine ist einer der wichtigsten Faktoren für Putins Pläne, um die russische Armee aufzurüsten.
Das Problem ist nur, dass die Ukraine nach der Absetzung des Kreml-treuen Präsidenten Wiktor Janukowytsch im Februar 2014 eigene Wege geht – eher in Richtung Westen. Ein Problem, das Präsident Putin auf seine Art löst: Die Werften von Sewastopol auf der ukrainischen Krim- Halbinsel eroberte Russland mit «grünen Männchen» in Uniformen ohne Kennzeichen. Für die Rüstungsindustrie in der Ost-Ukraine ist die Lösung offenbar – der «weisse Konvoi».
Was die Kamaz-Lastwagen im «weissen Konvoi» möglicherweise wirklich transportierten – und dies erst auf dem Rückweg nach Russland – enthüllt ausgerechnet das russische Staatsfernsehen. Der Nachrichtensender «Rossija 24» sendete am 26. August 2014 eine TV- Reportage aus der Maschinenbaufabrik Luhansk.
In der TV-Reportage erklärt der junge Direktor der Maschinenfabrik Luhansk, er habe «die schwierige Entscheidung treffen müssen, die Produktion nach Russland zu verlegen, weil die modernen Fabrikationsanlagen durch den Artilleriebeschuss der ukrainischen Armee fast ganz zerstört wurden. Die Anlagen mussten unter feindlichem Feuer demontiert werden.»
In der TV-Reportage sieht man allerdings eine moderne Steueranlage ohne sichtbare Schäden, die sorgfältig demontiert wird. «Zentimeter für Zentimeter bewegen die Arbeiter eine Anlage für hochgenaue Metallarbeit», kommentiert das Staatsfernsehen. Verladen werden die modernen Maschinen in Lastwagen, die nicht gezeigt werden. Dies ist für Fernsehbeiträge eher unüblich, sind doch Trucker und fahrende LKW ein beliebtes Sujet.
1300 Kilometer von Luhansk entfernt wird die Maschinenbau-Fabrik wieder aufgebaut, in Tscheboksary, der Hauptstadt der russischen Föderationsrepublik Tschuwaschien. «23 Mitarbeiter und ihre Familien sind mit den Maschinen mitgefahren und haben die russische Staatsbürgerschaft angenommen», heisst es in der TV-Reportage.
Ihnen wurden schöne, neue Wohnungen und ein neues Fabrikgebäude versprochen. In der TV-Reportage sieht man allerdings, dass die modernen Fabrikationsanlagen in einer maroden Lagerhalle aufgebaut werden. Und die 23 Familien müssen direkt über der Maschinenhalle in eine unfreiwillige «Wohngemeinschaft» einziehen. Wo früher wohl die Fabrikkantine war, bröckelt der Putz von den Wänden und die Räume sind mit Gerümpel vollgestellt.
Und dann gibt es noch ein kleines Problem: «Die Hälfte der modernen Maschinen ist im Zoll-Lager an der ukrainisch-russischen Grenze hängen geblieben», erklärt die Sprecherin der TV-Reportage bedauernd. Die russische Armee kann über Nacht die Krim-Halbinsel erobern. Die russische Bürokratie ist aber schwerfälliger als das grösste russische Kriegsschiff im Hafen von Sewastopol.
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