Oh, diese Spannung! Seit Stunden redeten sie sich heiss, an der Wall Street, am Times Square, in den Rund-um-die-Uhr-Nachrichten. Der Wirtschaftsender CNBC zählte die Sekunden mit einer Countdown-Uhr, wie beim Raketenstart. «Liftoff» heisst sie schliesslich, eine Zinserhöhung durch die US-Notenbank, auf die sie warteten wie auf den Sensemann.
Doch dann: Pfffffft.
Wieder mal hat sich Janet Yellen, die Chefin der Federal Reserve Bank und wohl mächtigste Ökonomin der Welt, als übervorsichtig erwiesen: Selbst nach sechseinhalb Jahren krisenbedingter Nullzinsen scheut sie immer noch davor zurück, die Schraube zu lockern – was ihr nicht nur die Demonstranten dankten, die vor der Tür der US-Zentralbank in Washington gegen eine Anhebung der Leitzinsen protestiert hatten.
Yellen und die meisten ihrer elf Kollegen im Fed-Offenmarktausschuss (FOMC) liessen sich freilich weniger von den Parolen der Strasse leiten. Sondern wie immer vom Zahlensalat zahlloser Wirtschaftsindikatoren, aus dem sie sich ein Bild basteln von der Lage, zuhause wie weltweit.
«Wir schätzen es, die Meinungen vieler verschiedener Gruppen zu hören», sagte Yellen nach der zweitägigen Zinssitzung diplomatisch mit typisch monotoner Stimme. Aber: «Letztendlich ist es die Aufgabe des Komitees, zusammenzukommen, um die Daten zu analysieren.» Und eben die verhindern offenbar weiter ein Ende der Nullzinsen, mit denen die Fed die USA durch die Finanzkrise bugsiert hatte.
Zwar hat sich Amerikas Konjunktur nach Ansicht der meisten Experten – auch in der Notenbank – inzwischen genug erholt, um sie vom Zügel zu lassen. «Wir finden, dass es der Wirtschaft wirklich gut geht», sagte Yellen. Das Problem liegt plötzlich allerdings anderswo – im Rest der Welt.
«Globale wirtschaftliche und finanzielle Entwicklungen könnten die ökonomische Aktivität leicht bremsen», erklärte die Fed. Yellen sekundierte: «Wir wollen uns ein klein bisschen mehr Zeit lassen.» Will heissen: Vor allem die Turbulenzen in China funken dazwischen.
«Unsere Finanzmärkte», empörte sich der gern dramatische CNBC-Kommentator Brian Sullivan, «werden von China als Geisel gehalten!» Die US-Börsen reagierten darauf zunächst konfus. Rauf, dann runter: Die Kurssprünge nach der Bekanntgabe offenbarten, wie gespalten die Investoren über die Entscheidung sind.
Die Anleihenmärkte dagegen legten eine «Erleichterungsrally» hin, wie es Gary Pollack, der Trading-Chef der Deutschen Bank, im «Wall Street Journal» formulierte: «Die Fed gibt keine Anzeichen, dass sie es eilig hat, die Zinsen anzuheben.» Die zwiespältigen Reaktionen erklären sich auch dadurch, dass die Fed diesmal noch intransparenter als sonst agierte.
«Die kurzfristige Strategie des Offenmarktausschusses ist so undurchsichtig geworden, dass selbst die erfahrensten Analysten nur raten können», kritisierte der Wirtschaftsprofessor Andrew Levin, ein Ex-Berater Yellens. Die wiederum hatte sich seit Monaten in Schweigen gehüllt – was natürlich alle mögliche Spekulationen nährte.
Die Befürworter einer Zinserhöhung verwiesen auf die Genesung der US-Wirtschaft und die niedrige US-Arbeitslosenquote (5,1 Prozent): «Es herrscht kaum Zweifel, dass die Fed ihre Arbeitsmarktziele erreicht hat oder dem sehr nahe gekommen ist», diagnostizierte Michael Feroli, US-Chefökonom bei JP Morgan Chase – ein Argument, das auch Yellen nun unterstrich. Zugleich aber warnten andere – darunter Larry Summers, Ex-Berater von Präsident Barack Obama – immer wieder vor den potentiellen Risiken einer voreiligen Zinserhöhung für die globale Wirtschaft: Chaos an den Börsen, ein überteuerter Dollar, Absturz der Schwellenländer.
Auch in den USA, so hiess es aus diesem Lager, sei noch Luft nach oben, vor allem, was den Arbeitsmarkt angehe. Was nun? «Wir sind uns bewusst, dass auf der heutigen Entscheidung grosse Aufmerksamkeit lag», schmunzelte Yellen. Doch möge man die Noch-Zurückhaltung auch nicht «überbewerten»: Die optimistischen Prognosen der Banker hätten sich «nicht fundamental geändert».
Beobachter fanden es zudem interessant, dass der Beschluss, doch noch zu warten, erstmals eine Gegenstimme hatte: Jeffrey Lacker, Chef der Fed-Dependance in Virginia, votierte für eine Zinsanhebung. Die stellte Yellen, in einem ungewohnt deutlichen Moment, «bis Ende des Jahres» in Aussicht. Dazu gäbe es zwei Gelegenheiten, bei den FOMC-Sitzungen im Oktober und Dezember. Oh, diese Spannung!