Ökonomen sind sich bekanntlich selten einig, aber es gibt auch in dieser Zunft Gesetzmässigkeiten, die allgemein als verbindlich gelten. Wenn in einem Land die lang laufenden Zinsen sinken, die Preise für Rohstoffe, vor allem für Öl, im freien Fall sind, und wenn die Notenbank noch auf Jahre hinaus eine lockere Geldpolitik verspricht, dann ist der Fall klar: Die Volkswirtschaft befindet sich in grössten Schwierigkeiten.
Umgekehrt ist unter Ökonomen unbestritten, dass auch Folgendes zutrifft: Wenn die Aktienbörsen von Rekord zu Rekord eilen, wenn die Währung stärker und stärker wird, wenn Arbeitsplätze im grossen Stil geschaffen werden und Unternehmen sich dumm und dämlich verdienen, dann strotzt diese Volkswirtschaft geradezu vor Gesundheit und kann so schnell durch nichts erschüttert werden.
Was aber ist mit den USA los? Für die amerikanische Volkswirtschaft trifft derzeit beides zu, ein Umstand, der Ökonomen verzweifeln lässt.
Dabei gibt es für die einzelnen Punkte jeweils einleuchtende Erklärungen: Die Erdölpreise sinken, weil die Nachfrage sinkt. Vor allem China leidet unter einer Formkrise, die sich auch in seinem schwindenden Rohstoff-Hunger niederschlägt. Gleichzeitig steigt das Angebot: Die USA sind dank dem Schiefergas wieder zum grössten Ölproduzenten geworden; und trotz der bedrohlichen Situation in Syrien und Irak sind die Öllieferungen aus dem Nahen Osten nicht eingebrochen.
Die sinkenden Zinsen erklären sich damit, dass die US-Staatsanleihen nach wie vor als sicherste Anlage gelten und derzeit niemand mit einer Inflationsgefahr rechnet. Das Versprechen der US-Notenbank, mindestens bis Ende 2015 die Leitzinsen tief zu halten, ist eine Lehre aus der Grossen Depression. 1936 wurden die Zinsen vorzeitig erhöht und so der Aufschwung abgewürgt.
Auch für die Boom-Symptome lassen sich plausible Erklärungen finden: Die Rekorde an den Aktienbörsen werden durch das billige Geld und die Rekordgewinne der Unternehmen angetrieben. Der tiefe Ölpreis sorgt dafür, dass die US-Konsumenten mehr Geld in der Tasche haben. Das belebt den Konsum und sorgt für neue Arbeitsplätze. Weil die USA immer weniger auf Ölimporte angewiesen sind, schrumpft das Handelsdefizit, und das wiederum verleiht dem Dollar Aufschwung.
Schön und gut. Aber was gilt nun: Boom oder Bust? In dieser Frage werden die Ökonomen ihrem Ruf wieder gerecht. Sie sind heillos zerstritten.
Die Optimisten sind überzeugt, dass der Bullen-Markt noch ein langes Leben haben wird. Die wesentlichen Treiber – vor allem billiges Öl und billiges Geld – werden so schnell nicht verschwinden. «Die amerikanische Wirtschaft wird auch 2015 kräftig wachsen», glaubt beispielweise Martin Davis, CEO von Kames Capital.
Er ist überzeugt, dass die einzige Gefahr von der politischen Front drohen könnte. Sonst wird der Boom weiter gehen. «Die Aktien bleiben im Aufwärtstrend und der Dollar wird noch stärker werden», erklärte Martin jüngst an einer Investorenkonferenz in London.
Der Fracking-Boom, so glauben die Optimisten, werde gar dazu führen, dass die US-Wirtschaft teilweise reindustrialisiert wird und längst verloren geglaubte Arbeitsplätze wieder in Amerika angesiedelt werden.
Die Pessimisten hingegen sehen im Boom ein Strohfeuer. Sie argumentieren wie folgt: Die Aktienkurse haben erstens Höhen erreicht, die nicht mehr in einem vernünftigen Verhältnis zu den realen Bedingungen stehen. Tatsächlich hat sich der wichtigste Börsenindex der USA, der S&P 500, seit dem Tiefpunkt nach der Krise verdreifacht. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis liegt auf einem sehr hohen Durchschnittswert von 27 und hat damit wieder das Niveau von 2007 erreicht.
Die Kurse werden zudem durch die Unternehmen durch massive Aktienrückkäufe künstlich gepuscht, und sie sind ein Indiz dafür, dass die Unternehmen nicht an eine langfristige Erholung der Wirtschaft glauben und sich mit Investitionen zurückhalten.
Die Arbeitnehmer hingegen profitieren bisher kaum vom Aufschwung. Es sind zwar viele neue Jobs geschaffen worden, doch sie sind mit massiven Lohneinbussen verbunden. Die Einkommen der Fabrikarbeiter sind zwischen 2003 und 2013 real um 4,4 Prozent gesunken. Das zeigt eine kürzlich veröffentlichte Studie des National Employment Law Project. Vor allem in der Autoindustrie sind die Löhne teilweise drastisch gekürzt worden.
Die fehlende Kaufkraft des Mittelstands wird zu einer «sekulären Stagnation» führen, glauben führende Ökonomen wie Nobelpreisträger Paul Krugman oder der ehemalige US-Wirtschaftsminister Lawrence Summers.
Die Bankökonomen hingegen sind überzeugt, dass der überraschende Zerfall des Ölpreises und die lockere Geldpolitik der Weltwirtschaft nächstes Jahr Schub verleihen wird. «Ohne überschwänglich zu erscheinen, ist es möglich geworden, dass die Wachstumsprognosen für 2015 korrigiert werden müssen – und zwar nach oben», prophezeite Gavyn Davis kürzlich in der «Financial Times».