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Die Exorzismus-Show der Marthe Brossier

Dämonenaustreibung durch Jesus Christus, Fastentuch im Gurker Dom aus dem Jahr 1458, geschaffen von Meister Konrad von Friesach.
Dämonenaustreibung durch Jesus Christus, Fastentuch im Gurker Dom aus dem Jahr 1458, geschaffen von Meister Konrad von Friesach.bild: wikimedia
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Die Exorzismus-Show der Marthe Brossier

17.07.2022, 19:3718.07.2022, 13:01
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Die einen hielten sie für besessen, die anderen für krank, die dritten für eine Betrügerin. Vielleicht war Marthe Brossier auch von allem etwas – eine merkwürdige Mischung aus dem, was sie eigentlich war und dem, was ihr Vater, all die Priester und Bischöfe, die Gelehrten und Ärzte und schliesslich der König aus ihr machten. Marthe Brossier wurde geformt, und wenn schon nicht durch die drei Dämonen, die angeblich ihren 22-jährigen Körper bewohnten, dann doch durch den festen Glauben an solches Teufelswerk.

Sie war ein Produkt ihrer Zeit, ein durch das Ende des 16. Jahrhunderts spukender Zeitgeist, ja vielleicht sogar die Personifikation ihrer damals so zerrissenen, zwiegespaltenen Heimat, dem Königreich Frankreich.

Die Hugenottenkriege waren eine Reihe von Bürgerkriegen, ausgelöst durch religiöse, machtpolitische und dynastische Konflikte, die Frankreich von 1562 bis 1598 verdüsterten. Höhepunkt war die Bartholo ...
Die Hugenottenkriege waren eine Reihe von Bürgerkriegen, ausgelöst durch religiöse, machtpolitische und dynastische Konflikte, die Frankreich von 1562 bis 1598 verdüsterten. Höhepunkt war die Bartholomäusnacht des Jahres 1572, das Massaker an Tausenden französischen Protestanten, genauer Calvinisten, die man im Königreich Hugenotten nannte.bild: wikimedia

Bald war klar, dass Marthes Geburtsort Romorantin, im Herzen des Reiches, zu klein war für ihr hellseherisch-teuflisches Talent, das sie in öffentlichen Exorzismen zur Schau stellte. Die Dämonen, von denen sie sich besessen zeigte, wussten über geheime Dinge Bescheid, was die Frau dazu befähigte, den Schaulustigen über die Dauer des Fegefeuer-Aufenthaltes ihrer Geliebten Auskunft zu geben. Sie war ein wandelndes Orakel, begleitet von einem katholischen Würdenträger, der sie bei ihren Auftritten mit Verwünschungsformeln und Bibelversen bedachte, auf dass jene satanischen Diener das Tor zur Hölle einen Spalt breit öffneten.

Gänzlich herausgekrochen kamen sie dabei nämlich nicht. Der böse Beelzebub, Askalon, der Hofnarr der Hölle, und der namenlose Küchenjunge desselben unwirtlichen Ortes liessen sich nicht austreiben, und so zogen sie mit der unverheirateten Marthe, ihrem Vater, ihren Schwestern und dem Exorzisten 15 Monate lang durch ganz Frankreich, um den Leuten zu zeigen, wie sie eine Frau dazu bringen, Obszönitäten zu schreien, mit den Zähnen zu knirschen und sich auf unflätige Weise zu verrenken.

Darstellung des Beelzebubs aus dem Dictionnaire Infernal, 1863. Im Tanach ist er eine lokale Gottheit der Philister. Baal Zebub (hebr.) bedeutet «Herr der Fliegen» und ist vermutlich eine Verballhornu ...
Darstellung des Beelzebubs aus dem Dictionnaire Infernal, 1863. Im Tanach ist er eine lokale Gottheit der Philister. Baal Zebub (hebr.) bedeutet «Herr der Fliegen» und ist vermutlich eine Verballhornung des eigentlichen Namens Baal Zebul («erhabener Herr»), um den heidnischen Gott zum Dämonen abzuwerten und dessen Anhänger zu verspotten. Im übertragenen Sinne wird Beelzebub aber auch als Synonym für den Teufel verwendet.bild: wikimedia

Auf ihrem Weg sammelten sie Zertifikate, die die Echtheit von Marthes Besessenheit bezeugen sollten – insgesamt 25 solcher Belege hatte die Wandertruppe bald zusammen, für jedes Zeichen, jede Regung augenscheinlich dämonischen Ursprungs gab es einen.

Am 30. März 1599, kurz vor Ostern, versammelten sich in der Abtei Sainte-Geneviève unter der Leitung von Henri de Gondi, des Kardinalbischofs von Paris, der dort zuständige Abt und andere ranghohe Kirchenväter, um gemeinsam mit den Ärzten Marescot, Ellain, Hautin, Riolan und Duret den Fall Marthe Brossier zu studieren.

Viel war inzwischen über die junge Frau und ihre vorgebliche Besessenheit nach Paris gedrungen, in manchen Städten wurde sie bejubelt, aus anderen als Betrügerin verjagt. Auch hatte der Bischof kurz vor ihrer Ankunft einen Brief erhalten, in dem eine gewisse Anne Chevriou, Marthe Brossiers Nachbarin, innig davor warnte, das dämonische Schauspiel jener listigen Dame allzu leichtfertig für die Wahrheit zu halten.

Marthe nämlich sei zur Besessenen geworden, um dem elendiglichen Leben einer unverheirateten Frau zu entfliehen. Dieses habe sie schon früher zu verlassen versucht, in den Kleidern ihres Vaters sei sie von Zuhause weggelaufen, doch man spürte sie auf und brachte sie zurück. Als dann auch der Versuch, einem Konvent beizutreten, scheiterte, begann sie erste Symptome zu zeigen, gab Tierlaute von sich und verhielt sich wie «ein Hund, ein Schwein oder ein Frosch». Sie ahme bloss nach, was sie gesehen hatte, als sie ganz in der Nähe von Romorantin einem Hexenprozess beiwohnte, so die Nachbarin.

Doch war Anne Chevrious Geschichte zu trauen? Handelte es sich bei Marthe Brossier tatsächlich um eine Betrügerin? Dies herauszufinden, war nun die Aufgabe jenes Experten-Gremiums um den Pariser Bischof.

Goyas Gemälde des Heiligen Francisco de Borja, der einen Exorzismus durchführt, 1788.
Goyas Gemälde des Heiligen Francisco de Borja, der einen Exorzismus durchführt, 1788.bild: wikimedia

In der nahe gelegenen Kappelle, die sie auf eigenen Wunsch besuchen wollte, kniet Marthe nieder und betet zu Gott, doch als sie ihre Hand zur Stirn hebt, um das Kreuz zu schlagen, hält diese plötzlich inne. Ihr ganzer Körper wird steif und fällt ruckartig nach hinten. Erst berührt bloss ihr Gesäss den Boden, dann folgt der Rücken, schliesslich der Kopf. So liegt sie da, reglos, allein die Flanken heben und senken sich wie bei einem Pferd nach einem wilden Galopp. Unter dem linken Rippenbogen, irgendwo aus dem Bereich der Milz heraus, ist ein polterndes Geräusch zu hören.

Dann verdrehen sich die Augen so weit nach oben, verschwinden in ihrem Schädel und lassen einzig zwei weisse, mit roten Äderchen durchzogene Äpfel zurück; prall und immer praller zu werden scheinend, treten sie aus ihren Höhlen heraus. Schon fürchtet manch ein Anwesender, sie würden zerbersten und ihr wie flüssiges Eiweiss über die Wangen rinnen, doch sie halten dem Druck stand, während sich ihr Gesicht zu einer grausigen Fratze verzieht, und unten, aus ihrem Munde kommend, die blutrote Zunge sich weit hervor schlängelt, lose züngelnd, als wäre sie nirgends mehr angewachsen.

Doch all dies vermochte Michel Marescot, den federführenden Arzt in jener Sache, nicht zu überzeugen. Fest im Glauben an Gott und ebenso an die naturwissenschaftliche Beweiskraft, reich wohl auch an Erfahrung mit der menschlichen Natur und ihrer Gerissenheit, ihrer sündigen Angewohnheit, nach Macht, Geld und Ansehen zu gieren, ging er nun mit humanistisch gesinntem Verstande an die Untersuchungen heran, seinerseits Zeugnisse sammelnd, die Marthes Besessenheit als Betrug auswiesen, stets bestrebt, die Meinung seiner geistlichen und ärztlichen Antipoden mit unumstösslichen Argumenten zu entkräften, auf dass der Bischof schliesslich ungestört durch Zweifel jedweder Färbung zu einem gerechten Urteil kommen möge.

Ein Exorzismus im «Stundenbuch des Herzogs von Berry», dem berühmtesten illustrierten Manuskript des 15. Jahrhunderts.
Ein Exorzismus im «Stundenbuch des Herzogs von Berry», dem berühmtesten illustrierten Manuskript des 15. Jahrhunderts.bild: via sublimehorror

Bereits Marescots erste Einschätzung des Falles fiel für Marthe vernichtend aus:

«Nihil a Daemone: Multa ficta: Amorbo pauca.»
Michel Marescot (1539-1605)

«Kein Teufel, viel Betrug, wenig Krankheit», liess er dem Bischof ausrichten. Denn sie spreche keine fremde Sprache, wie es Besessene gemeinhin zu tun pflegen, verstand weder Latein noch Griechisch und auch kein Englisch.

Dies hatte vor ihm bereits Charles Miron, der findige Bischof von Orléans, zutage gebracht, indem er laut nach dem grossen Buch der Beschwörungen verlangte, also dem Werk, aus dem bei Exorzismen üblicherweise zitiert wird. Stattdessen aber brachte man ihm eine reich verzierte Vergil-Ausgabe. Die Worte des römischen Dichters aus dem Munde des Bischofs vernehmend und sie für Austreibungsformeln haltend, reagierte Marthe augenblicklich mit ihren eingeübten Verrenkungen, ihren grausigen Tierlauten und ihren wüsten Beschimpfungen.

Das Einzige, was diese Frau verstand, schlussfolgerte nun Marescot, war das Prozedere. Sie kannte den Ablauf der Exorzismen, bestimmte, stets wiederkehrende Wörter, bei deren Erwähnung sie sich jeweils wollüstig aufbäumte, ähnlich einem Hund, der beim Befehl «Sitz!» seines Herrchens sein Hinterteil auf dem Boden niederlässt.

Der heilige Exuperius führt einen Exorzismus durch, Gemälde von Rupalley in der Kathedrale von Bayeux.
Der heilige Exuperius führt einen Exorzismus durch, Gemälde von Rupalley in der Kathedrale von Bayeux.bild: wikimedia

Auch Marthe Brossier kannte ihren Meister, den Kapuzinervater Seraphin, der bis zuletzt an der Wahrhaftigkeit ihrer Besessenheit festhielt, der sich gemeinsam mit ein paar Ärzten und anderen Geistlichen nicht von seinem Glauben abbringen liess. Nicht durch die Tatsache, dass jene Frau über Tage hinweg und ohne Anzeichen irgendeines Missfallens heiliges Weihwasser getrunken hatte, das sie für nicht geweiht hielt, und später, beim Anblick von ungesegnetem, aber in einem eigens dafür verwendeten Gefäss servierten Wasser sogleich einen ihrer gemeinen Anfälle bekam. Auch dass sie ein Stück des angeblich wahren Kreuzes Christi, das in Wahrheit bloss ein profaner, in ein Tuch eingewickelter Schlüssel war, zu ihrem dämonischen Schauspiel verleitete, vermochte den Mönch nicht von der Falschheit ihres Spiels zu überzeugen.

Schliesslich gab es noch die Hexenprobe, bei der man dem verdächtigen Subjekt eine lange Nadel zwischen Zeigefinger und Daumen stach. War da kein Anzeichen von Schmerz, musste es sich um eine Hexe handeln. Marthe rührte sich nicht einmal, als sich die Nadel in ihren Hals bohrte.

«Sie erweckte niemals den Anschein, dass sie dasselbe fühlte, weder beim Hineinstecken noch beim Herausnehmen der Nadel: [ ...] Ein Schmerz, der ohne Magie und ohne Sprache unserer Meinung nach nicht ertragen werden kann, ohne irgendeine Zählung oder ein Zeichen davon, weder durch die Standhaftigkeit der Mutigsten noch durch die Hartnäckigkeit der Bösartigsten und auch nicht durch die starke Einbildungskraft der verbrecherischsten Übeltäter.»
Aus dem Bericht einiger Ärzte in der Angelegenheit Martha Brossier, u.a. dem besagten Kapuzinermönch Seraphin

Und Blut war da auch keins.

Bei der Nadelprobe stach man auch in vermeintliche Hexenmale, die man als Zeichen der Verbundenheit mit dem Teufel las. Satan habe sie, so die Vorstellung, eigenhändig auf die Körper der Hexen gebrann ...
Bei der Nadelprobe stach man auch in vermeintliche Hexenmale, die man als Zeichen der Verbundenheit mit dem Teufel las. Satan habe sie, so die Vorstellung, eigenhändig auf die Körper der Hexen gebrannt, sodass die Stelle schmerzunempfindlich und blutleer war.bild: stadt bad münstereifel

Doch Marescot weiss auch diese angeblichen Zeichen von Besessenheit wegzuargumentieren: Jene Prüfung sei nicht mehr als eine sanfte Folter, schliesslich habe man schon Leute bei lebendigem Leibe verbrennen sehen, die dabei keine Miene verzogen hätten. Zudem habe der antike griechische Schriftsteller Plutarch selbst von Kindern zu berichten gewusst, die ihren Schmerz bis in den Tod hinein stoisch ertrugen.

«Wir haben gesehen, wie arme Seelen aufgrund einer solchen Prüfung dazu verurteilt wurden, als Hexen verbrannt zu werden, und dann von den Richtern des Gerichts freigesprochen und freigelassen wurden.»
Aus dem Bericht Michel Marescots

Der menschliche Verstand könne sich so stark auf etwas ausserhalb des Schmerzes fokussieren, dass er ihn darob nicht spürt. So wie ein Mann im Krieg, von unzähligen Verwundungen gezeichnet, einfach weiterkämpfe – oder der griechische Mathematiker Archimedes, der, gänzlich mit seinen geometrischen Figuren beschäftigt, die Eroberung seiner Heimat Syrakus nicht mitbekommen habe und dem römischen Soldaten, der in seinen Garten eindrang, mit den erbosten Worten «Noli turbare circulos meos!» («Störe meine Kreise nicht!») bedachte, woraufhin dieser ihn erschlug.

Archimedes (um 287 v. Chr.–212 v. Chr.), gemalt vom italienischen Barockmaler Domenico Fetti, 1620.
Archimedes (um 287 v. Chr.–212 v. Chr.), gemalt vom italienischen Barockmaler Domenico Fetti, 1620. bild: wikimedia

Und ausserdem: «Warum sollte der Teufel seinem Opfer den Schmerz nehmen? Er würde ihn doch viel eher verschlimmern!»

Dass das Blut nicht aus der mit der Nadel zugefügten Wunde schoss, führt der Arzt darauf zurück, dass an der punktierten, fleischigen Stelle keine Vene lag und durch die Feinheit des Instrumentes bloss ein kleines Löchlein zurückbliebe, aus dem heraus das Blut nicht so leicht heraustrete, schon gar nicht, wenn es sich dabei um erdiges und melancholisches Blut handle, wie das bei Marthe der Fall sei.

Die antike Humoralpathologie – auch Vier-Säftelehre genannt – hallt auch in Marescots Bericht nach. Die in der Antike bestimmende und teilweise bis ins 19. Jahrhundert gültige Krankheitslehre basierte ...
Die antike Humoralpathologie – auch Vier-Säftelehre genannt – hallt auch in Marescots Bericht nach. Die in der Antike bestimmende und teilweise bis ins 19. Jahrhundert gültige Krankheitslehre basierte auf vier Leibessäften – Gelbe Galle (cholera, colera), Schwarze Galle (melancholia), Blut (sanguis) und Schleim (phlegma, flegma) –, deren richtige Mischung als Voraussetzung für Gesundheit gesehen wurde.bild: via schoolshistory

Marescot lässt in seinem wissenschaftlichen Eifer nichts als Beweis dämonischer Besessenheit gelten: Nicht den weissen, dünnen Schaum, der Marthe während eines besonders schlimmen Anfalls aus dem Mund trat – «Wer hat schon mal von einem teuflischen Schaum gehört? Und wenn, warum ist er dann nicht schwarz wie alles, was aus der Hölle kommt?» – und nicht die Tatsache, dass sie mit geschlossenem Mund zu sprechen vermochte – Bauchredner seien seit der Antike bekannt und keiner von ihnen wurde von Dämonen dazu befähigt.

Die angeblich derbe, geradezu übernatürliche Heftigkeit, die ihre Verrenkungen, ihre sich windenden Leisten in den Augen der Gegenseite kennzeichneten, entkräftete er mit der simplen Erfahrung, dass er ohne besondere Anstrengung imstande war, Marthe während eines solchen Anfalls festzuhalten, sodass sie sich überhaupt nicht mehr regen konnte.

«Wir sehen täglich Dinge, die viel merkwürdiger anmuten, aber keine Anzeichen von Teufelsanwesenheit sind, sondern einfach zu den Geheimnissen der Natur zählen. Menschen, die aufgrund ihrer fehlgeleiteten Fantasie denken, sie seien Werwölfe und heulen wie sie und Menschenfleisch essen ...»
Aus dem Bericht Marescots
Ein Werwolf auf einem Holzschnitt von Lucas Cranach, 1512.
Ein Werwolf auf einem Holzschnitt von Lucas Cranach, 1512.bild: wikimedia

Zuletzt gab sich der Arzt gar psychologischen Spekulationen hin. Denn wenn Marthe Brossier weder krank noch besessen war, musste sie eine Betrügerin sein. Nur warum führte sie dieses Possenspiel überhaupt auf? Warum mimte sie die von Dämonen Bewohnte, die vom Teufel Geleitete?

Vielleicht habe sie selbst daran geglaubt, von den beteiligten Priestern stetig in ihrem Irrsinn bestärkt. Wahrscheinlicher aber sei es, dass sie von ihrem Vater in die Rolle hineingetrieben wurde. Dieser sah wohl, dass sich seine Tochter mit dem «Teufel von Laon» beschäftigte, dass sie Bücher las über die 15-jährige Nicole Aubrey, die 1566 vom Laoner Bischof von ihrem letzten, hartnäckigsten Dämon befreit wurde: Dem «Fürst der Hugenotten» – auch Beelzebub genannt.

Er war es auch, der dem Bischof laut der Überlieferung verriet, wie grausam und ungläubig die Hugenotten seien, dass sie die Hostien schändeten, sie zerschnitten, kochten und die Stücke verbrannten. Dass sie Jesus weit mehr Böses antäten, als es die Juden je vermocht hätten.

Die Mär von der Hostienschändung: Juden wurden im Mittelalter und der Frühen Neuzeit immer wieder beschuldigt, geweihte Oblate zerschnitten zu haben, angeblich, um die Marter Jesu am Kreuz zu verhöhne ...
Die Mär von der Hostienschändung: Juden wurden im Mittelalter und der Frühen Neuzeit immer wieder beschuldigt, geweihte Oblate zerschnitten zu haben, angeblich, um die Marter Jesu am Kreuz zu verhöhnen. Hier finden wir die katholische Vorstellung des real präsenten Gottes in der Hostie – sie trägt das Antlitz Christi und blutet, während sie vom Dolch durchstossen wird.bild: wikimedia

Das angebliche «Wunder von Laon» war dann auch ein Sieg der Katholiken über die Protestanten. Denn, so will es die Geschichte weiter, als der Bischof während der Heiligen Kommunion die geweihte Oblaten hochhielt, verliess Beelzebub augenblicklich Nicoles Körper. Vertrieben durch Gottes leibliche Anwesenheit im Brot, durch jene in der Eucharistiefeier immer wieder vollzogene Wesenswandlung, die für die Katholiken real, für die Hugenotten aber rein symbolischer Natur war.

Wohl mag es wahr sein, dass der Vater die Tochter für seine Zwecke missbrauchte, dass er mit der angeblich besessenen Marthe zu Spenden und Almosen kam. Doch die Aufmerksamkeit, die diese junge Frau bekam, deren Fall schliesslich gar den König Heinrich IV. beschäftigte, war einer viel grösseren politischen Dimension geschuldet; dem Bürgerkrieg nämlich, der noch immer zwischen Katholiken und Hugenotten schwelte.

Die Tinte auf dem Edikt von Nantes war noch nicht trocken, nur einige Tage vor Marthe Brossiers Ankunft in Paris, Ende März 1599 setzte auch das französische Parlament seine Unterschrift unter das Dokument, das den Hugenotten in Frankreich religiöse Toleranz und volle Bürgerrechte zusicherte, gleichzeitig jedoch den Katholizismus als Staatsreligion fixierte. Damit wurde jedwede weitere Ausbreitung des Protestantismus im Lande gänzlich verunmöglicht.

Das Edikt von Nantes sollte das Land endlich befrieden und zumindest vorübergehend einen Schlussstrich unter die Hugenottenkriege setzen. König Henrich IV., der selbst vom Protestantismus zum Katholiz ...
Das Edikt von Nantes sollte das Land endlich befrieden und zumindest vorübergehend einen Schlussstrich unter die Hugenottenkriege setzen. König Henrich IV., der selbst vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert war, unterzeichnete es am 13. April 1598. 87 Jahre später widerrief Ludwig XIV. das Edikt und die Hugenotten, all ihrer religiösen und bürgerlichen Rechte beraubt, flohen zu Hundertausenden in die Niederlande, die protestantischen Kantone der Schweiz und nach Preussen.bild: wikimedia

Marthe Brossier eignete sich hervorragend als Agitationsinstrument gegen die Hugenotten. Wohl nach dem Vorbild ihrer Vorgängerin Nicole Aubrey war Beelzebub nun auch in sie eingefahren. Und wagte jemand auf ihrer Exorzismus-Tour von Romorantin über Angers, Saumur, Cléry, Orléans bis nach Paris auch nur den Hauch eines Zweifels an ihrer Besessenheit zu äussern, verschrie sie ihn sogleich als Verbündeten jener Glaubensabtrünnige, den Katholiken so verhassten Protestanten.

Es ist also gut möglich, dass sie auf Einladung der Kapuziner hin nach Paris gekommen war. Denn die Männer jenes katholischen Bettelordens waren besonders scharfe Gegner der Hugenotten. Ihre Wanderprediger versuchten, die Wut auf jene Irrgläubigen mittels hasserfüllter Reden immer wieder neu zu entfachen und sie so aus dem Lande zu vertreiben, das ihnen gerade erst zugesichert hatte, ihre Religion zu tolerieren.

Heinrich IV. als König zu Pferde. Er sass von 1589 bis zu seiner Ermordung 1610 auf dem französischen Thron.
Heinrich IV. als König zu Pferde. Er sass von 1589 bis zu seiner Ermordung 1610 auf dem französischen Thron.bild: wikimedia

Für König und Parlament aber war eine gegen die Hugenotten wetternde Besessene eine Bedrohung des Friedens – Marthe Brossier rüttelte am ohnehin wackligen Sockel, auf dem das Edikt von Nantes fusste.

Es galt also, ihren Fall zu prüfen. Doch die Untersuchungen unter der Leitung des Pariser Bischofs schienen bloss für noch mehr Wirbel zu sorgen, schufen Unsicherheiten, wo endlich Tatsachen gefragt waren. Marthe Brossier versetzte bald die ganze Stadt in Aufruhr und so beschloss das Parlament schliesslich, sie in die Hände des Kriminalleutnants zu übergeben.

Am 5. April 1599 wurde sie unter dem Protest der Geistlichen, die sich darob ihres Betätigungsfeldes beraubt sahen, ins grand Châtelet, das Gefängnis an der Seine, überführt.

Rekonstruktionszeichnung aus dem Jahr 1897.
Rekonstruktionszeichnung aus dem Jahr 1897.bild: wikimedia

Man hielt sie dort jedoch nicht als gemeine Gefangene, Marthe durfte Besuch empfangen, wurde anständig verpflegt und von weiteren 15 Ärzten untersucht, unter anderem dem königlichen Leibarzt.

20 Tage später kam das Parlament zu folgendem Urteil:

«Wir glauben gemäss dem Christentum, dass es Teufel gibt, dass sie in die Leiber der Menschen einfahren und sie auf verschiedene Weise quälen; und alles, was die katholische Kirche über ihre Erschaffung, ihr Wesen, ihre Macht, ihre Wirkungen und ihre Exorzismen bestimmt hat, halten wir für wahr, fest und beständig wie der Pol des Himmels. Was aber die Hypothese betrifft, dass Martha Brossier von einem Teufel besessen ist oder war, so halten wir sie für absurd, falsch und ohne jede Wahrscheinlichkeit. [...] Ihre Handlungen haben nichts Aussergewöhnliches, nichts, das über die Gesetze der Natur hinausginge und daher auch nichts, was dem Teufel zugeschrieben werden könnte.»

Illustration von Luzifer, 15. Jh.: Die Teufel werden als Monster aus menschlichen und tierischen Körperteilen dargestellt, in den Händen halten sie Folterinstrumente, die den Betrachter vor den Qualen ...
Illustration von Luzifer, 15. Jh.: Die Teufel werden als Monster aus menschlichen und tierischen Körperteilen dargestellt, in den Händen halten sie Folterinstrumente, die den Betrachter vor den Qualen warnen sollen, die ihn in der Hölle erwarten.bild: via tumblr/mediumaevum

Marthe Brossier wurde zusammen mit ihrer Familie aus Paris verbannt, mit einem Auftritts-Verbot belegt und zurück an ihren Geburtsort nach Romorantin geschickt. Das Haus durfte sie fortan nicht mehr verlassen und täte sie es doch, drohte dem Vater körperliche Züchtigung.

Ein letztes Mal noch versuchte ein Mann sich Marthe Brossiers zu bemächtigen. Der Abt Alexandre de La Rochefoucault entführte sie, um sie nach Rom zu bringen. Dort sollte das Oberhaupt der Kirche, der Papst höchstpersönlich, ihre Besessenheit bestätigen, die ihr vom Königreich Frankreich gerade erst aberkannt worden war.

Welch Desaster dies für Heinrich IV. bedeutet hätte! Er setzte nun alles daran, ein solches Treffen zu verhindern. Und als er hörte, dass einige Mitglieder des Jesuitenordens, den er 1594 wegen eines gescheiterten Attentats auf ihn des Königreiches verwiesen hatte, für die Reiseunterkünfte Marthes sorgten, drohte er ihnen, sie könnten in seinem Lande nie wieder Fuss fassen, würden sie die Sache jener angeblich Besessenen weiterhin unterstützen.

Seine Worte taten ihre Wirkung. La Rochefoucaults Vorhaben scheiterte. Mittellos geworden, musste Marthe Rom wieder verlassen. Später scheint sie in Mailand noch einmal mit ihrer üblichen Exorzisten-Nummer aufgetreten zu sein, danach verliert sich ihre Spur im Nichts.

Augenscheinlich war sie für die weiteren Geschicke jenes politischen Glaubensstreits nicht mehr von Bedeutung. Wie ein von vielen Tritten allmählich erschlaffter Spielball rollte sie irgendwo in eine dunkle Ecke, wo sie irgendwann ihren letzten Rest Luft verlor.

Wahrheitsbox
Die Geschichte von Marthe Brossier wurde getreu folgender Quellen nacherzählt:
Abraham Hartwell: «A True Discourse, Upon the Matter of Martha Broissier of Romorantin: pretended to be possessed by a Devil», 1599.
Sarah Ferber: «Demonic Possession and Exorcism in Early Modern France», 2013.
Podcast «Geschichten aus der Geschichte» der beiden Historiker Daniel Messner und Richard Hemmer, Folge 341: «Der Exorzismus der Marthe Brossier», 2022.

In Hartwells Bericht, der besonders die Abhandlung des federführenden Arztes Michel Marescot zitiert, wird die humanistische Argumentationsweise sehr gut sichtbar: Marescot reagiert auf alle von seinen Gegnern vorgebrachten Besessenheits-«Beweise» und entkräftet sie mittels Verweise auf antike Autoren wie Plutarch, eine aus heutiger Sicht höchst problematische, weil der Fiktion nicht abgeneigte Quelle. Auch ist er, ganz dem Zeitgeist entsprechend, Anhänger der Humoralpathologie und untermauert seine medizinischen Schlussfolgerungen mit Galen und Aristoteles.

Der damals gängigen Nadelprobe allerdings, die während der Hexenverfolgungen zur Anwendung kam, misstraut er, solcherlei unwissenschaftliche Methoden der Wahrheitsfindung lehnt er entschieden ab, ebenso wie den naiven, abergläubischen Teufelsglauben – ohne allerdings dessen Wirken ganz abzustreiten. Er sieht ihn bloss nicht überall da, wo am Ende bloss ein Geheimnis der Natur lauert, das der Mensch noch nicht imstande ist zu lüften.

P.S.
An meine liebe und treue Leserschaft

Hiermit verabschiede ich mich in eine zweite Baby-Pause und hoffe sehnlichst, euch alle hier versammelt zu wissen, wenn ich im kommenden Frühjahr wieder aus der mütterlichen Versenkung hervorgekrochen komme.

Bis dahin, tragt euch Sorge.

Anna

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Selby, England: Soldaten auf dem Weg durch die britische Kleinstadt in den Krieg, 1914.
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