1945 – die totale Niederlage. Deutschland liegt in Trümmern, die Denazifizierung beginnt. Wem soll die englische Besatzungsmacht die Lizenz zum Drucken geben? Die Wahl fällt auf den Hamburger Verlegersohn Axel Springer, der 1952 eine Zeitung gründet, die die Bundesrepublik prägen wird: die «Bild».
Die Zeitung wird nicht nur zur grössten in Europa, sie rangiert 2005 auf Platz sechs der weltweiten Top Ten. Und avanciert zum Königsmacher (wie zum Königsmörder): «Wer mit der ‹Bild› im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch mit ihr im Aufzug nach unten», umschrieb es der frühere Axel-Springer-Grande Mathias Döpfner. Kai Diekmann, der 2001 Chefredaktor der Zeitung wird, sagt es in der Schweiz am Sonntag so: «Die ‹Bild› ist die lauteste Posaune im deutschen Medienmarkt.»
1967 formuliert Axel Springer Grundsätze für seinen Verlag, dem mittlerweile Zeitschriften wie «Hörzu» und neben «Bild» Zeitungen wie das «Hamburger Abendblatt», «Welt», B.Z. (Berliner Zeitung) und die «Berliner Morgenpost» gehören. Diese Eckpfeiler, die für alle Mitarbeiter verpflichtend sind, lauten:
Der Mann, der im bewegten Jahr 2001 das Ruder des mächtigen Axel-Springer-Flaggschiffs «Bild» übernimmt, wäre ganz nach dem Gusto des 16 Jahre vorher verstorbenen Verlegers gewesen. Kai Diekmann ist quasi die Personifizierung der fünf Springer-Grundsätze – und er ist ein Aufsteiger, wie sein CV eindrucksvoll beweist.
Auf den ersten Blick wird deutlich: Der Baden-Württemberger hat schon in jungen Jahren die Karriereleiter im Eiltempo erklommen. Das war möglich, weil Diekmann die Prinzipien des Axel Springer verinnerlicht hat. 1995 wird er in das «Young-Leaders-Programm» des Think Tanks «Atlantik-Brücke» aufgenommen: Das Elite-Netzwerk hat sich der Freundschaft zu Amerika verschrieben.
Im selben Jahr heiratet er die Verlegertochter Jonica Jahr, deren Vater mit Axel Springer nach Kriegsende Geschäfte gemacht hat. Letztgenanntem hätte daneben nicht zuletzt der klar konservative Kurs des Kai Diekmann gefallen. Das passt zu einem konservativen Schweizer Kollegen: «Ich habe Roger Köppel sehr gemocht, weil er total unorthodox war, immer gegen den Strich gebürstet hat», sagt Diekmann der Schweiz am Sonntag. Und über dessen «Weltwoche»-Cover 2016: «Als ich den ‹Schweizer des Jahres› gesehen habe, da war ich schon beeindruckt.»
Die Macht dieses Mannes zeigt sich nicht zuletzt durch seine mächtigen Freunde: Als der «Bild»-Chef 2002 zum zweiten Mal heiratet, ist Helmut Kohl sein Trauzeuge. Über den Altkanzler hat Diekmann eine Biographie geschrieben, und der bedankte sich mit einem freundlichen Vorwort in Diekmanns Bildband «Die Mauer». Und als Kohl wiederum erneut vor den Altar tritt, revanchiert sich der «Bild»-Chef 2008 als Trauzeuge – zusammen mit dem Medienmogul Leo Kirch.
Auch wenn der Journalist hintenrum durch sein Blatt konservative Politik macht und ihn die Doppelrolle seines rechtslastigen Ex-Kollegen Roger Köppel «beeindruckt», spielt er offiziell den Neutralen – unter anderem mit Verweis auf das enge Verhältnis der «Bild» zu SPD-Kanzler Schröder. Der sagte 1999 gar populistisch: «Zum Regieren brauche ich nur ‹Bild›, ‹BamS› [(Bild am Sonntag)] und Glotze.»
Doch der Freund der Mächtigen kann auch ihr Totengräber sein. Sich mit den Politikern anzulegen, gehöre zu «einem funktionierenden Staatswesen», positioniert sich Diekmann in einem FAZ-Interview 2005. Das bekommt Jahre später der formal ranghöchste Deutsche zu spüren: 2012 bringt der «Bild»-Boss mit Christian Wulff einen Bundespräsidenten zu Fall, der sich nicht entblödet hat, dem Chefredaktor auf der Mailbox eine Drohung wegen der Berichterstattung zu hinterlassen.
Bei aller Macht muss aber auch ein Kai Diekmann ohnmächtig mitansehen, wie eine rasante Umwälzung seine Branche erfasst und durcheinanderwirbelt: Das Internet mischt den Zeitungen- und Zeitschriften-Markt auf, die Digitalisierung degeneriert das Geschäft der Verlage von Grund auf.
Das bekommt auch die «Bild» zu spüren: In Diekmanns Ägide sinkt die Auflage von 5,1 Millionen Exemplaren Anfang 2001 auf knapp 1,9 Millionen anno 2016. «Nur weil kaum mehr Schallplatten gekauft werden, heisst das ja auch nicht, dass nur noch schlechte Lieder gesungen werden», erklärt der Erfolgsmensch diesen Misserfolg. Und tritt die Flucht nach vorn an: Nach dem Wirbel um Präsident Wulff geht er 2012 ins Silicon Valley, wo die Quelle der Welle liegt, die seinen Verlag erfasst hat.
Dort «stossen zwei Welten zusammen», schreibt ein Spiegel-Reporter, der ihn in den USA trifft, «die eine, aus der er gekommen ist, die andere, in die er sich hineinbewegt.» Der Zeitungsmann entdeckt digital: «Zeig mir deine Apps, und ich sage dir, wer du bist», sagt er dem Besucher. Diekmann hat 150 davon auf seinem iPhone. Und Ideen für neue hat er auch ...
Eine App etwa, mit der man Essen fotografiert, und die einem die Kalorien des Mahls ausrechnet. Oder eine Uhr, mit der man telefonieren kann – obwohl das Gerücht herumgeht, Apple plane sowas auch. Ein Bezahlmodell für Bild.de einführen, während gleichzeitig Gratis-Seiten gegründet werden, die den Leser zum Autor machen – und dem Verlag so viel Geld einsparen.
«Sie müssen mir auf Twitter folgen», sagt Diekmann dem Reporter noch. Damals hat er 5400 Follwer. Nach der Visite beim wichtigsten Journalisten Europas ist der «Spiegel» überzeugt, dass Verlage wie Axel Springer zukünftig durch eine Mischung aus «Masse, Spass, Geschwindigkeit und Preis» ihr Geld verdienen würden: Nun komme es bloss noch darauf an, «Leute zu kennen, die alles gleichzeitig beherrschen».
«Der Lehrling» («Spiegel») aus dem Silicon Valley lernt schnell. «Ich bin ein Viner der ersten Stunde», sagt Diekmann im Frühjahr 2013, und er schwärmt im Interview von Tinder und Snapchat – diese Apps hat hierzulande damals noch keiner auf dem Zettel.
Und während die Auflage der «Bild» Zeitung sinkt, steigt die Reichweite von Bild.de – von 4,3 Millionen Unique User im Jahr 2007 auf 18,6 Millionen anno 2015. Heute weiss der Medienprofi: «Digitalisierung ist Entmaterialisierung und Information ist heute zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort verfügbar.»
Auch privat verändert sich der vierfache Vater in den USA: Noch 2002 scheitert er mit einem Penis-Prozess gegen die linke Zeitung «taz», und 2005 bekundet Diekmann im FAZ-Interview: «Wenn ich einen Beliebtheitswettbewerb gewinnen wollte, wäre ich am falschen Platz.» Zwei Jahre später brennen Hamburger Autonome sein Auto ab.
Heute ist er ein anderer: 2015 nehmen seine Frau und er eine Flüchtlingsfamilie auf, die ihnen im türkischen Bodrum begegnet ist. Erst wollte er seine Kinder vor den Syrern schützen. «Wir haben dann als Familie festgestellt, dass die Reaktion falsch war», erinnert sich Diekmann später an die Szene. Früher hätte das Alphatier sowas alleine entschieden.
Noch ein Beispiel: 2005 spricht Diekmann in der FAZ über «Wir sind Papst» – seine wohl berühmteste «Bild»-Schlagzeile.
2016 klingt das in der «Schweiz am Sonntag» deutlich differenzierter:
Fast schon nachdenklich ist gar diese Aussage:
Axel Springer war gestern: Das Silicon Valley scheint den Deutschen wachgeküsst zu haben. Die Welle, die den Journalismus umwälzt, ist seine Taufe: Er muss sich nicht mehr freischwimmen, er reitet jetzt die Welle. Heute hat der Mann 146'000 Twitter-Follower, die Schwimmflügel der «Bild» braucht er nicht mehr. Und der Leser darf darauf gespannt sein, wo dieser Kai Diekmann wieder auftauchen wird.
Nachtrag: Der Spiegel macht am 6. Januar öffentlich, dass eine Mitarbeiterin Kai Diekmann sexuelle Belästigung vorwirft. Dieser bestreitet das, die Staatsanwaltschaft Potsdam ermittelt gegen den Journalisten. Laut Berliner Tagesspiegel hat Diekmanns Springer-Demission mit der Causa nichts zu tun.