Berlin, 3. Oktober 1990: Um Mitternacht war die deutsche Einheit offiziell vollzogen worden, das «Volksfest in gedämpft-freudiger Erregung» (O-Ton ARD) noch am Abklingen. Trotzdem interessierte mich an jenem geschichtsträchtigen Tag weniger das neue Deutschland als die untergegangene DDR.
13-jährig wanderte ich erstmals bewusst durch meine Geburtsstadt, in deren Westteil ich die ersten drei Jahre meines Lebens verbracht hatte. Ich war fasziniert von dieser Mauer, von der mir meine Eltern erzählt hatten, und wollte sie unbedingt mit eigenen Augen sehen, bevor sie verschwand. Die Zeit drängte, denn an vielen Stellen war das grässliche Relikt des Kalten Kriegs bereits vom Erdboden getilgt. Hinzu kam, dass ich den Abbruchprozess selbst beschleunigte: Ich ging unter die Mauerspechte.
Im Bezirk Wedding fand ich einen weitgehend intakten Abschnitt, zu meiner grossen Freude sogar mit einem zertrümmerten Wachturm. Am Tag Eins der deutschen Einheit und unter strahlender Herbstsonne durfte ich mit Hammer und Meissel nach Herzenslust Brocken aus dem Beton-Ungetüm schlagen. Für mich als Andenken und zum Verkauf daheim in der Schweiz. So weit mein Plan, aber dazu später mehr.
In den Tagen zuvor hatte ich bereits eifrig andere DDR-Memorabilia gesammelt: Das Plastikschild «Trabant» liess sich ohne grössere Krafteinwirkung von den damals schon kultigen Zweitaktern ablösen. An dieser Stelle meine späte aber aufrichtige Entschuldigung an ein halbes Dutzend ehemaliger DDR-Automobilsten, die ihren Trabi eines Tages ohne Schild vorfanden.
Die Mauer hatte das Leben der Westberliner geprägt, wenn auch weit weniger dramatisch als drüben. Ich hatte sie als kleiner Knirps regelmässig zu sehen bekommen, spätestens vor den Ferien bei der Grossmutter in St.Gallen. Dann nämlich musste meine Mutter auf dem Schweizer Konsulat (der heutigen Botschaft) im Niemandsland direkt an der Sektorengrenze ein Visum für mich und meinen Bruder beantragen.
So war das damals: Die Kinder einer Schweizerin, die mit einem Ausländer verheiratet war und im Ausland lebte, besassen kein Schweizer Bürgerrecht. Kinder von Schweizer Vätern in vergleichbarer Lage schon. Visumspflicht für die eigene Heimat. Tolle gute alte Zeit.
Zu Beginn hatte die Polizei erfolglos versucht, die Mauerspechte zu stoppen. Doch neben Souvenirjägern wie mir gab es professionelle Händler sowie Aktivisten, die kein Interesse am Abraum hatten, sondern einfach die Mauer niederreissen wollten. Mauerklopfen war ein Volkssport, dem behördlich nicht beizukommen war.
Der Mauerfall entbehrte nicht einer gewissen Ironie, denn die Teilung Berlins wurde nun schonungslos und für jedermann sichtbar. Im Westen eine moderne, europäische Stadt. Im Osten Zerfall, Mief und Tristesse. Reisende aus der Schweiz bekamen in den muffigen Wagen der Deutschen Reichsbahn schon einen Vorgeschmack. Doch der Schein trügte: Das betont unfreundliche Verhalten des Zugchefs quittierten unsere Abteilgenossen mit den Worten: «DIE Zeiten sind vorbei.»
Reich wurde ich als Mauerspecht nicht. Zurück in der Schweiz fanden die kleinen Brocken wenig Anklang. Mit der Zeit landete mein Mauervorrat im Abfall. Ein Geschäft ist mir dadurch nicht entgangen, der Markt ist 25 Jahre später immer noch überschwemmt, wie ein Blick auf eBay zeigt. Allerdings dürften sich auch etliche Fälschungen darunter verbergen. Ein einziges Exemplar hat meine Mutter für mich aufbewahrt – garantiert echt, am Tag der deutschen Einheit eigenhändig herausgebrochen.