Eines der einflussreichsten Soziologiebücher der Nachkriegszeit haben Peter Berger und Thomas Luckman geschrieben und es trägt den Titel «Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit». Es entstand in den 1960er Jahren, in einer Zeit, in der Objektivität die Wissenschaft beherrschte, auch die Geisteswissenschaften.
Berger/Luckman hingegen zeigten auf, dass was wir für objektiv real halten, zumindest in der Gesellschaft, in der Regel eine gesellschaftliche Konstruktion ist. Denn, so die beiden US-Soziologen, was für einen tibetischen Mönch Realität bedeutet, muss nicht unbedingt die Realität eines amerikanischen Geschäftsmannes sein.
In den 60er Jahren galten die beiden Soziologen als Revoluzzer, die das fest gefügte und engstirnige Bild der nach wie vor von protestantischen Weissen dominierten Gesellschaft in Frage stellten. Im 21. Jahrhundert hat sich das grundlegend geändert. Dank Google fühlt sich jeder Mann befähigt, seine eigene Wahrheit zu basteln, und dank Facebook fühlt sich jede Frau bemüssigt, sie auch weltweit zu verbreiten.
Nicht mehr objektive Fakten sind deshalb heute das Problem, sondern die alternativen Fakten. Sie werden von unserem Empfinden bestimmt. Wenn wir uns somit bedroht fühlen, dann hat die Kriminalität massiv zugenommen, obwohl die offiziellen Kriminalstatistiken regelmässig das Gegenteil sagen. Politiker wie Donald Trump nützen dies schamlos aus und ersetzen Fakten durch Lügen, wenn es ihren Zielen dient.
In seinem Buch «Fantasyland» geht der Journalist Kurt Andersen der Frage nach, wie sich die Vereinigten Staaten in einen Ort verwandelt haben, in dem alles relativ geworden ist, in dem Realität und Fiktion nicht mehr zu unterscheiden sind. Donald Trump und seine notorischen Lügen sind dabei nur die Spitze des Eisberges. «In grossen Teilen unseres Lebens sind die Grenzen zwischen fake und real verwischt worden», stellt Andersen fest. «Ein grosser Teil der amerikanischen Realität ist heute virtuell. Wir wissen oft nicht mehr, ob wir uns in einem Phantasieland befinden oder nicht.»
Der Mischung aus Realität und Fiktion versucht auch Philippe Wampfler in seinem Buch «Schwimmen lernen im digitalen Chaos» auf den Grund zu gehen. Er ist Lehrer und publiziert regelmässig in Fachzeitschriften. Wampfler kämpft gegen den Nonsense, den er als Oberbegriff für Fake News definiert. Gelegentlich mag dieser Nonsense witzig sein, doch seine Wirkung ist in der Summe schädlich: «Es handelt sich um eine Verschmutzung der Infosphäre, welche die verantwortungsvolle Teilnahme an einem argumentativen Gespräch erschwert oder verunmöglicht.»
Wampfler zeigt auf, wie aus der Relativierung der Wirklichkeit keine Vielfalt entsteht, sondern eine Polarisierung, bei der die extremen Pole die Gewinner sind. «Ob die Pizzagate-Theorie (eine absurde Verschwörungstheorie der äussersten amerikanischen Rechten, Anm. d. Verf.) oder die Vermutung, Trump sei eine vom russischen Geheimdienst gesteuerte Marionette – beides zieht Aufmerksamkeit auf sich», so Wampfler.
Nonsense beschränkt sich heute nicht mehr auf die Medien, er hat auch die Wissenschaft erfasst. «Die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Arbeiten ist längst zu einem Geschäftsmodell geworden, bei dem einzelne Akteurinnen und Akteure jegliche Seriosität abgelegt haben», schreibt Wampfler.
Zur voller Blüte gelangt der Nonsens jedoch in den Kommentarspalten der Onlineportale und Internetforen. (Nicht bei watson. Hier werden sie redigiert.) Wampfler spricht gar von «Meinungspornografie». «Viele Menschen lesen die Kommentare deshalb gerne, weil sie von ihnen vor den Kopf gestossen oder überrascht werden, weil sie krasser sind, als zu erwarten war.» Medien sind jedoch von dieser Meinungspornografie abhängig geworden, «weil sie ihnen Aufmerksamkeit, Klicks und damit auch Einnahmen bringt.»
Soweit der analytische Teil des Buches. Im zweiten pragmatischen Teil vermittelt Wampfler Tipps, wie man gegen den Nonsens ankämpfen kann. Eine Aufzählung dieser Tipps ist hier fehl am Platz. Generell geht es jedoch darum, die von Berger/Luckmann eingeleitete Relativierung teilweise wieder rückgängig zu machen.
«Einzugestehen, dass es eine Wahrheit gibt, wirkt tatsächlich wenig originell», so Wampfler. «Doch gerade im Bereich des digitalen Nonsense, wo es ausreicht, dass sich etwas wahr anfühlt, wahr sein könnte, den richtigen Effekt hervorruft, auch wenn es vielleicht erfunden ist – in diesem Bereich braucht es Mut, zur Wahrheit zu stehen.»