Kurz bevor am 12. Juni um 22 Uhr das Eröffnungsspiel der Fussballweltmeisterschaft in São Paulo angepfiffen wird, werden Zehntausende im Stadion und Hunderte Millionen vor den Fernsehern Zeugen eines Wunders. Ein querschnittgelähmter Jugendlicher wird sich von seinem Rollstuhl erheben, zur Mitte des Feldes schreiten und mit einem Tritt gegen den dort liegenden Ball die WM eröffnen.
Möglich wird dieses technische Wunder durch die Fortschritte der Robotik und der Neurologie: Der Teenager wird ein Exoskelett, eine Art Roboteranzug, tragen, das er über Elektronen, die an seiner Kopfhaut angebracht sind, steuern kann. Stellt sich nun der junge Mann vor, wie er seine Beine bewegt, werden diese Bewegungsimpulse über einen Computer an die Gliedmassen des Exoskeletts weitergeleitet, und der Teenager geht tatsächlich. Schritt für Schritt.
So zumindest ist es geplant. Seit Jahren arbeitet ein internationales Forscherteam unter der Leitung des brasilianischen Neurowissenschaftlers Miguel Nicolelis auf diesen Moment hin.
Exoskelette wurden ursprünglich für Soldaten entwickelt, damit sie schwere Lasten tragen können. Doch vermehrt kommen sie auch als Unterstützung für Querschnittgelähmte zum Einsatz. «Für viele ist das schon ein spezielles Gefühl, wenn sie auf einmal wieder stehen und gehen können», meint Armin Curt, Direktor des Zentrums für Paraplegie an der Uniklinik Balgrist. Doch gross sei der Run auf diese Geräte nicht. Das Problem: Die Steuerung muss bisher mit den Armen vorgenommen werden, was sehr kompliziert ist. Zudem müsse immer eine Person als Hilfe dabei sein. Die meisten Querschnittgelähmten würden deshalb den Rollstuhl vorziehen.
Das wollen die Forscher um Nicolelis ändern, indem sie das Exoskelett über ein Brain-Computer-Interface direkt mit dem Hirn des Teenagers verknüpfen. Damit wird der junge Mann zu einem Cyborg – einem Wesen, wie man es aus der Science-Fiction-Literatur kennt –, bei dem kybernetische Technik und biologischer Organismus ineinandergreifen. Cyborgs werden dank den Fortschritten der modernen Technik immer zahlreicher. Es gibt kaum mehr Teile des menschlichen Körpers, die sich nicht durch Technik ersetzen liessen. Und vieles interagiert dabei direkt mit dem Gehirn oder dem Nervensystem.
Blinde erlangen dank einer Netzhautprothese wieder eine beschränkte Sehfähigkeit. Schwerhörige können mit einem Implantat im Ohr wieder hören. Und verloren gegangene Hände werden mit Prothesen ersetzt, die sich über die Muskeln des Armstumpfs bewegen lassen. Bereits gibt es eine künstliche Hand, die über Drucksensoren an den Fingern ein taktiles Feedback zurück ans Hirn leitet – eine fühlende Prothese gewissermassen.
«Maschinenmenschen» sind mittlerweile so zahlreich, dass sie bald in einem eigenen Sportwettkampf gegeneinander antreten. 2016 findet in der Kolping-Arena in Kloten der erste Cybathlon statt. Eine Art Olympiade für Cyborgs. Diese werden sich in sechs verschieden Disziplinen messen – eine davon ist das Gehen mit einem Exoskelett. «Anders als bei den Paralympics sind beim Cybathlon auch motorisierte Prothesen, Computer-Hirn-Schnittstellen und andere höher entwickelte Technologien erlaubt», sagt Robert Riener. Der Professor am Institut für Robotik und Intelligente Systeme an der ETH Zürich ist Initiator des Cybathlons.
Über die Ankündigung der Veranstaltung freut sich der englische Technikforscher Andy Miah. Er hat mehrere Publikationen zum Einfluss der Technik auf den Sport veröffentlicht und meint: «Ich denke, der Cybathlon wird helfen, dass Menschen mit Behinderungen sehen, dass sie ihre biologischen Grenzen nicht akzeptieren müssen.» Doch genau dieser Punkt macht auch vielen Menschen Angst, wird doch durch solche Technologien die menschliche Integrität aufgehoben. Damit seien Probleme verbunden, die heute noch gar nicht absehbar seien, warnen Kritiker.
Was ist, wenn mit solcher Technik nicht mehr nur Mängel bei Menschen mit Behinderungen behoben werden, sondern auch die Leistungen von gesunden Menschen optimiert werden? Das ist keine Zukunftsmusik, sondern schon Realität – wenn auch in bescheidenem Ausmass. Sogenannte Bodyhacker modifizieren ihren Körper mit Implantaten der Marke Eigenbau. Sie pflanzen sich etwa einen Magneten unter die Haut der Fingerkuppe. Dieser macht Mikrowellen durch ein Kribbeln im Finger fühlbar. Auf einfache Weise wird so die Wahrnehmung erweitert. Neil Harbisson, ein besonders raffinierter Bodyhacker, der ausserdem farbenblind ist, hat ein Gerät entwickelt, mit dem er Farbtöne hörbar machen kann – auch Infrarot und Ultraviolett.
Mehr als bloss Spielerei im Heimlabor ist ein an der Princeton University entwickeltes künstliches Ohr, das besser hört als das menschliche – und über eine Antenne zudem Ultraschall empfangen kann. Noch lässt sich dieses Ohr nicht transplantieren, doch Forscher arbeiten daran. Es ist deshalb nicht abwegig, dass in Zukunft Menschen, die etwa bei einem Unfall ein Ohr verloren haben, vor die Wahl gestellt werden: Wollen sie ein künstliches Ohr, mit dem sie so gut hören wie vorher, oder eines, mit dem sie besser hören? «Natürlich würden sich da die meisten für die zweite Version entscheiden», mutmasst Andi Miah.
Weisen uns die Menschen mit Behinderungen den Weg in ein neues Zeitalter: in das Zeitalter des Transhumanismus? Konkretisiert sich hier Friedrich Nietzsches Vision des Übermenschen unter den Vorzeichen der Technologie des 21. Jahrhunderts? Zumindest machen sich heutige Denker ernsthaft Sorgen. So hält etwa der bedeutende Politikwissenschafter Francis Fukuyama den Transhumanismus für eine der gefährlichsten Ideen des Jahrhunderts und warnt sogar vor dem «Ende der Menschheit».
Robert Riener beschwichtigt: «Natürlich muss man aufpassen, dass sich der Mensch durch die Technologie nicht versklavt.» Allerdings sei man heute noch weit von einer zuverlässigen Technik entfernt, die Cyborgs zu echten Vorteilen verhelfen würde. «Es ist sehr schwer, die Höchstleistung der Biologie durch Technik zu imitieren.» Sobald aber solche Technik entwickelt werden kann, sollte man sie Menschen mit Behinderungen auch verfügbar machen.
Um neuste Technik zu etablieren, werden im Cybathlon Menschen mit Behinderungen in Disziplinen antreten, die lange nur gesunde Menschen ausüben konnten. 2012 hat Oscar Pistorius gezeigt, dass Menschen mit Behinderungen an den Olympischen Spielen gesunde Menschen schlagen können. «Ich denke, in 20 Jahren rennt der schnellste Läufer mit Prothese», meint Andy Miah.
Vielleicht werden irgendwann an der Fussball-WM Querschnittgelähmte nicht nur vor dem Anpfiff auf dem Feld stehen, sondern auch mitspielen.
Dieser Artikel ist zuerst in der Schweiz am Sonntag erschienen.