Januar 2024. Mit acht Personen sitzt Franziska Paukert in einem kleinen Schlauchboot und gleitet durch die eisigen Wellen der Antarktis. Eine halbe Stunde tuckert das Bötchen ohne Sicht durch eine Nebelbank – bis er aus dem Nichts vor ihnen aufragt: ein riesiger, hoch industrialisierter Krill-Trawler. Glänzend, strahlend, frisch ab Produktion. Lichter und Lärm zerreissen die unberührte Idylle, Pinguine und Wale schwimmen panisch umher und versuchen den gigantischen Netzen zu entkommen.
Nach diesem Schiff hat Franziska mit Sea Shepherd gesucht. Dennoch ist die junge Frau ab dessen Anblick erschüttert. Das gigantische, hochmoderne Schiff steht sinnbildlich für die finanzielle Kraft, die in der zerstörerischen Krill-Industrie steckt. In dem kleinen Schlauchboot kommt sich Franziska klein vor. Bedeutungslos. Doch das ist sie nicht.
Wieso die Krill-Industrie so problematisch ist und wie Franziska mit Sea Shepherd dagegen ankämpft.
Antarktische Krille sind kleine, fast durchsichtige Krebstierchen, die bis zu 6 cm lang werden und in riesigen Schwärmen leben. Laut einer Studie von 2009 hat der antarktische Krill eine der höchsten Konzentrationen tierischer Biomasse. Durch sein weitverbreitetes und üppiges Vorkommen spielt er im antarktischen Ökosystem eine Schlüsselrolle. Unzählige Meerestiere wie Robben, Pinguine und Fische ernähren sich von ihm, Blauwale sind sogar komplett auf den antarktischen Krill angewiesen.
Insbesondere für die wandernden Bartenwale sind die Krillschwärme von grosser Bedeutung, erklärt Franziska. Im Frühling und Sommer fressen sich die Wale in kalten Polargewässern an Krill satt, bevor sie sich im Herbst auf eine monatelange Reise bis hin zum Äquator begeben. Während dieser Zeit ernähren sie sich fast ausschliesslich von ihren Fettreserven. In den warmen Gewässern angekommen, gebären die Walkühe ihre Jungen und schwimmen vor dem nächsten Sommer wieder ins kalte Polarmeer zurück.
Wie Studien der letzten Jahre zeigen, hilft Krill auch bei der Abschwächung des Klimawandels. Die kleinen Tierchen ernähren sich von Algen aus oberen Wasserschichten. Nachdem sie sich vollgefressen haben, lassen sie sich in die Tiefe sinken, wo sie den gebundenen Kohlenstoff mit ihrem Kot ausscheiden. Gemäss einer Studie werden so jährlich 23 Millionen metrische Tonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre gefiltert und auf dem Meeresboden abgelagert. Diese Menge entspricht dem Kohlenstoff, der von 35 Millionen treibstoffbetriebenen Autos ausgestossen wird. Eine andere Studie schätzt die Menge an gefiltertem Kohlenstoff auf 39 Millionen metrische Tonnen. Dies würde bedeuten, dass Krill etwa 35 Prozent des regionalen Kohlenstoffs aus dem Oberflächenwasser des südlichen Ozeans bindet. Franziska betont:
Doch statt den antarktischen Krill wie einen Verbündeten zu behandeln, wird er immer mehr häufiger gefischt.
Die Problematik beginnt bereits beim Namen: Statt von Krillfischerei spricht die Industrie von Krillernte. Sie suggeriert damit, dass Krill, ähnlich einer Frucht, völlig unproblematisch gepflückt werden könne. Doch dem ist nicht so.
Wie Statistiken zeigen, hat die Masse an gefischtem Krill in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Dies hängt nicht zuletzt mit der immer moderneren Technologie zusammen, wie Franziska erzählt:
Fortschrittliche, militärische Technologie also, die noch präzisere Jagd auf Krillschwärme ermöglicht – und damit den antarktischen Bartenwalen Konkurrenz macht.
Sowohl vor als auch nach ihren langen Wanderungen halten die Wale sich in Gebieten mit besonders hoher Krilldichte auf, um Energie zu tanken, erklärt Franziska. Dort fischen die Krill-Trawler den Walen nicht nur den Krill weg, sondern stören bereits durch ihre Präsenz, wie Sea Shepherd bei ihrer ersten Krillmission im März 2023 beobachtete.
Direkt am ersten Tag ihrer Ankunft im Südpolarmeer erwischte und filmte Sea Shepherd zwei Supertrawler dabei, wie sie ihre Netze direkt über eine Riesenschule von über hundert Finnwalen schleppten. Auf der Webseite von Sea Shepherd erzählt Captain Peter Hammarstedt:
Das ist problematisch. Wie Franziska erzählt, habe eine Studie bereits nachweisen können, dass eine geringere Krillverfügbarkeit zu tieferen Geburtsraten bei antarktischen Buckelwalen führe. Der führende Autor, Dr. Logan Pallin, warnt in der Studie:
Nicht nur Wale sind betroffen. Franziska, die bereits seit zwölf Jahren ehrenamtlich für Sea Shepherd arbeitet, erzählt, dass bei antarktischen Pelzrobben und bei Zügelpinguinen in den vergangenen Jahren ein Populationsrückgang verzeichnet worden sei. Grund dafür ist auch hier ein Rückgang der Krilldichte, die auf den Klimawandel zurückzuführen ist und von der Krillfischerei noch weiter verschärft wird, wie Studien belegen.
Trotz Warnungen aus der Wissenschaft ist die Krillfischerei komplett legal – und am Boomen. Überwacht und reguliert wird sie nur von einem einzigen Organ: der CCAMLR.
Die Krillfischerei unterliegt den Vorgaben der Kommission zur Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis, kurz CCAMLR (Commission for the Conservation of Antarctic Marine Living Resources). Wie der Name schon sagt, ist sie primär für den Schutz des antarktischen Ökosystems zuständig – bei dem der Krill eine wesentliche Rolle spielt.
Die CCAMLR legt unter anderem fest, wie viel Krill pro Jahr wo abgefischt werden darf und ist dafür zuständig, die Folgen der Fischerei zu überwachen. Stand 2024 gehören der CCAMLR 27 Vollmitglieder an – darunter die grössten Fischernationen wie Norwegen, China und die USA. Je nach Land werden in der CCAMLR entweder eher wirtschaftliche oder eher wissenschaftliche Interessen vertreten.
Dies ist insofern ein Problem, als Entscheide in der CCAMLR nur im Konsens getroffen werden können. Vorschläge für einen verstärkten Schutz der Antarktis scheitern deswegen oft an den Fischernationen.
Bisher konnte sich die Kommission erst auf zwei Meeresschutzzonen – sogenannte MPAs (Marine Protected Areas) – einigen, drei weitere Vorschläge für MPAs sind seit Jahren pendent. Darunter der Vorschlag für eine MPA in der Ostantarktis, der 2012 von Australien und der EU gestellt wurde und noch immer auf dem Tisch liegt.
Zu den Vorwürfen von Sea Shepherd hat die CCAMLR nicht direkt Stellung bezogen. Allerdings äusserte sich der Verband der verantwortungsbewussten Krillfischer, kurz ARK, dazu (Association of Responsible Krill harvesting companies). Die ARK fungiert als enger Verbündeter der CCAMLR und stellt ihr Statistiken und Forschungsdaten zur Verfügung.
Auf die Aussage von Sea Shepherd, dass es für das antarktische Ökosystem keine grössere Bedrohung als die Fischerei gebe, schreibt der Verband:
Die Krillernte werde angesichts der kritischen Rolle des Krills im antarktischen Ökosystem sehr vorsorglich gehandhabt, so ARK weiter:
Ein Blick in das 600-seitige Protokoll der letzten jährlichen CCAMLR-Zusammenkunft im Oktober 2023 offenbart aber anderes. Gemäss diesem werden die Warnungen der Forschenden öfters zugunsten der Fischerei in den Wind geschlagen:
Von diesen Uneinigkeiten innerhalb der CCAMLR lässt die ARK nichts durchsickern. Stattdessen preist sie die Krillfischerei als Innovation an:
Im Protokoll dagegen verweist der wissenschaftliche Ausschuss vermehrt darauf, dass die Überwachung der Krillschiffe erhöht werden müsse und mehr Daten zum Zustand des Ökosystems notwendig seien. Ein weiterer heiss diskutierter Punkt schien der Klimawandel zu sein, dessen Auswirkungen gemäss Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler noch immer vernachlässigt werde:
Das Protokoll der CCAMLR-Versammlung verdeutlicht, wie verbittert die Wissenschaft und die Wirtschaft gegeneinander ankämpfen. Wie absurd die Diskussion über die Krillfischerei eigentlich ist, zeigt ein Blick auf die Verwendung des Krills.
Obwohl Krill in Russland und südostasiatischen Ländern von Menschen konsumiert wird, ist der unscheinbare Krebs nicht als seafood bekannt. Dennoch steigt die Nachfrage an Krill stetig an. Wieso?
In kleinerem Rahmen wurde Krill als Nahrungsquelle für Menschen und Haustiere bereits ab dem 19. Jahrhundert geerntet. Doch erst in den 1970er-Jahren begannen Fischer-Nationen in der Antarktis im grossen Stil ihre Netze auszuwerfen. Der Gedanke dahinter: Den Welthunger mit dem aus dem Krill gesammelten Tierprotein zu bekämpfen. Dieser neue Ansatz basierte auf der Tatsache, dass sich damals bereits Konsequenzen von Überfischung abzeichneten. Kyo Yui vom Japan Marine Resources Research Center erklärte 1975 gegenüber der New York Times:
Die Lösung schien simpel, doch die Umsetzung gestaltete sich schwieriger als angenommen. Krill liess sich nicht so einfach für den menschlichen Verzehr verarbeiten, weshalb das Interesse daran in den 1990er-Jahren wieder abnahm. Die Krilljagd verschwand jedoch nie, begann aber erst vor zwanzig Jahren wieder an Fahrt aufzunehmen. Grund dafür waren zwei neue, äusserst lukrative Wirtschaftszweige: Krill als Zutat für Tierfutter und als Nahrungsergänzungsmittel für den Menschen. Zwei Wirtschaftszweige, die eigentlich gar nicht nötig wären, wie Franziska von Sea Shepherd kritisiert – auch wenn sie auf den ersten Blick legitim erscheinen.
Als Zutat für Tierfutter wird Krill hauptsächlich bei fleischfressenden Fischen sowie bei Hunden und Katzen eingesetzt. Beim Futter für Hunde und Katzen dient der Krill als Quelle von Omega-3-Fettsäuren; im Falle von Zuchtlachsen wird der Krill allerdings primär dafür verwendet, dem Fisch seine rosa Farbe zu verleihen. Wildlachs sei rosa, weil er sich von den antarktischen Krebstieren ernähre, erklärt Franziska, Zuchtlachs hingegen bliebe ohne die Zugabe von Krill grau.
Wie Hund und Katze ist auch der Mensch auf Omega-3-Fettsäuren angewiesen, weswegen der Krill hauptsächlich zum Nahrungsergänzungsmittel verarbeitet wird. In Form von Krillöl-Kapseln macht dieses den bisher populären Fischöl-Kapseln Konkurrenz. Die in beiden Produkten enthaltenen Omega-3-Fettsäuren tragen nachweislich zu einer normalen Gehirnfunktion, Sehkraft und Herzfunktion bei.
Doch Franziska kritisiert:
Dass Menschen, Hunde und Katzen auf Omega-3-Fettsäuren angewiesen sind, ist Tatsache. Krill ist für die Deckung dieses Bedarfs allerdings nicht notwendig. Der Grund liegt in der veganen Alternative: Algenöl.
Meeresalgen enthalten die begehrten Omega-3-Säuren in grossen Mengen. Der Anteil an Omega-3-Fettsäuren im antarktischen Krill ist nur deshalb so hoch, weil er sich von den grünen Wasserpflanzen ernährt. Mit Algenöl (oft auch veganes Omega-3 genannt) gäbe es also eine viel unproblematischere und nachhaltigere Alternative zu Fisch- und Krillöl. Wie ein Vergleich zweier Schweizer Shops zeigt, ist Algenöl sogar günstiger.
Was auffällt, ist die hohe empfohlene Tagesdosis beim Fischöl. Dort wird geraten, zwei Kapseln zu insgesamt 1400 mg Omega-3-Fettsäuren einzunehmen. Vom Krill- und Algenöl wird hingegen lediglich eine Menge von 320 mg resp. 375 mg empfohlen.
Dies wirft insbesondere Fragen auf, wenn man einen Blick auf Nu3's Blogeintrag zu Omega-3-Fettsäuren wirft. Dort heisst es:
Die empfohlene Tagesdosis von 1400 mg beim Fischöl bewegt sich schon sehr nah an der genannten Obergrenze von 1500 mg Omega-3-Fettsäuren pro Tag. Angesichts der Tatsache, dass sich diese Fettsäuren auch in bestimmten Speiseölen, Nüssen, Samen und Gemüsen befindet, könnte diese Obergrenze bei Einnahme der empfohlenen zwei Kapseln überschritten werden. watson hat bei Nu3 angefragt, wieso die empfohlene Tagesdosis beim Fischöl so hoch ist. Und wieso wird Krillöl noch angeboten, wenn die vegane Option ebenso viel Omega-3-Fettsäuren enthält und dabei noch viel nachhaltiger und günstiger ist? Die Anfrage blieb unbeantwortet.
Bei LeeSport liegt die empfohlene Tagesdosis beim Fischöl ebenfalls höher als beim Krill- und Algenöl, allerdings noch immer viel tiefer als beim Fischöl von Nu3:
Auch hier scheint Krillöl keine offensichtlichen Vorteile gegenüber der veganen Option zu haben: Krillöl ist teurer und enthält dazu noch weniger Omega-3-Fettsäuren.
Von Algenöl will die Krillindustrie natürlich nichts wissen. Im Gegenteil: Sie versucht ihren Markt noch zu vergrössern. Aker BioMarine, eines der grössten norwegischen Fischereiunternehmen, schreibt in seinem Jahresbericht von 2023:
Algenöl wird im Bericht nirgends erwähnt. Die Mission der Krillindustrie ist klar: Sie will das Verlangen nach Krillöl wecken. In etwas abgeschwächter Form räumt Aker BioMarine das sogar auf seiner Webseite ein:
Franziska von Sea Shepherd ist sich bewusst, dass noch viel Arbeit vor ihnen liegt. Zusammen mit der Organisation setzt sie sich dafür ein, dass mit Krill versetzte Produkte aus den Supermarkt-Regalen verschwinden. Doch sie betont:
Die Krillregulierung müsse strenger sein und es brauche dringend mehr Meeresschutzzonen in der Antarktis, so die Aktivistin. Doch bis sich die CCAMLR-Mitglieder darüber einig werden, könnte es noch viele weitere Jahre dauern.