Ein internationales Forscherkonsortium hat den ersten Entwurf eines sogenannten Pangenoms präsentiert, eines vielfältigeren und kleinteiligeren Modells des menschlichen Erbguts. Ein Pangenom umfasst das gesamte Genrepertoire, das innerhalb einer bestimmten taxonomischen Gruppe – etwa einer Spezies – vorkommt. Allerdings weist nicht jedes Individuum der Gruppe alle diese Gene auf. Die Veröffentlichung stellt einen grossen Schritt nach vorn dar, denn das neue Pangenom repräsentiert deutlich mehr menschliche Vielfalt als das bisher verwendete menschliche Genom.
«Damit können wir jetzt bei viel mehr Menschen nach genetischen Variationen suchen», erklärt der Bioinformatiker David Adelson von der University of Adelaide. «Das bedeutet, dass sich unsere Möglichkeiten, genetische Informationen für die Diagnose zu nutzen, dramatisch verbessern werden.» Das Pangenom sorge für ein besseres Verständnis für die Beteiligung genetischer Varianten an Krankheiten, sagt auch Benedict Paten von der University of California, einer der Co-Autoren der Studie, die in der Zeitschrift «Nature» veröffentlicht wurde. Zudem könnten Gentests verbessert werden.
Genome sind der genetische Bauplan und enthalten eine Fülle von Informationen – deshalb versuchen Wissenschaftler, den genetischen Code von Tieren und Pflanzen, aber natürlich auch von Menschen zu knacken. Obwohl die Genome der Menschen zu etwa 99 Prozent identisch sind, gibt es kleinere Abweichungen. So unterscheiden sie sich von Mensch zu Mensch um etwa 0,4 Prozent.
Da das gesamte menschliche Genom aus 3,2 Milliarden Basenpaaren besteht, bedeutet dies, dass es dennoch viele genetische Unterschiede zwischen Menschen – und auch zwischen ethnischen Gruppen – auf der ganzen Welt gibt. Diese kleinen Abweichungen tragen zur Einzigartigkeit eines jeden Menschen bei. Zugleich sind sie aber auch dafür verantwortlich, dass gewisse Krankheiten bei einem Menschen eintreten, bei anderen aber nicht.
Um ein umfassenderes Bild des menschlichen Erbguts zu erhalten, hatten die Forscher des Human Pangenome Reference Consortium (HPRC) das Erbgut von 47 anonymen Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kontinenten zusammengetragen. Die Hälfte von ihnen kommt aus Afrika, ein Drittel aus Nord- und Südamerika, sechs Menschen kommen aus Asien und einer aus Europa. Ozeanien ist bisher noch nicht vertreten. Ziel der Forschenden ist es, im Laufe des Projekts die Anzahl der zusammengefügten Genome bis Mitte des kommenden Jahres auf 350 zu erhöhen.
Das Pangenom sieht in den Bereichen, in denen die Sequenzen die gleichen Basen haben, wie eine lineare Referenz aus. In den Bereichen, in denen es Unterschiede gibt, erweitert es sich. Es stellt viele verschiedene Versionen der menschlichen Genomsequenz gleichzeitig dar und bietet Wissenschaftlern einen genaueren Vergleichspunkt für Variationen, die in einigen Populationen vorhanden sind, in anderen jedoch nicht.
Das neue Modell könne helfen «zu verstehen, wie Immunantworten auf bestimmte Erreger zwischen verschiedenen Menschen variieren», erklärt ein weiter Co-Autor der Studie, Erich Jarvis von der Rockefeller University. Es könne auch dazu beitragen, bei Organtransplantationen besser passende Spender zu finden. «Diese Veröffentlichung läutet ein neues Zeitalter der Gendiagnose ein», stellt Adelson fest. Obwohl es sich noch in der Entwurfsphase befinde, habe das Pangenom bereits die Genauigkeit, genetische Veränderungen zu entdecken, um 34 Prozent erhöht.
We're ✨revolutionizing✨the human genome reference. The #HumanPangenome Consortium, co-led by @ucsc, has just published a draft of a more robust, diverse, and complete reference. This will be a game-changing resource for genomics & health research https://t.co/oDnJTlEowG pic.twitter.com/N75gUkwzZx
— UC Santa Cruz Genomics Institute (@ucscgenomics) May 10, 2023
Das erste menschliche Genom wurde 2003 entschlüsselt – allerdings fehlten wichtige Details. Damals galt diese fast vollständige Sequenzierung des Genoms als der grundlegende Bauplan für alle Menschen und wurde als Referenzsequenz des menschlichen Genoms betrachtet, die als «Standard» dienen sollte. Wenn Wissenschaftler und Mediziner das Genom eines Patienten untersuchen, vergleichen sie in der Regel die DNA dieser Person mit dieser Standardreferenz, um genau festzustellen, wo Unterschiede bestehen.
Diese ursprüngliche Standardreferenz des menschlichen Genoms widerspiegelt jedoch die Vielfalt der menschlichen Spezies nicht wirklich. Das liegt vor allem daran, dass sie aus den Genomen von nur 20 Menschen besteht – und 70 Prozent davon stammt von nur einer Person. Es handelt sich um einen Mann aus Buffalo im US-Bundesstaat New York, der sich 1997 auf eine Zeitungsanzeige gemeldet hatte. Die Vorhersage von genetischen Krankheiten kann daher bei Personen, deren Genom stärker vom Referenzgenom abweicht, nicht so gut funktionieren.
«Ein einziges Genom kann unmöglich die gesamte Vielfalt repräsentieren, von der wir wissen, dass sie auf der ganzen Welt beobachtet und untersucht werden kann», sagt Karen Miga von der University of California in einer Mitteilung der Hochschule. Das Hauptziel des Pangenom-Projekts sei der Versuch, die Repräsentation einer Referenzressource zu erweitern, um die Untersuchung der menschlichen Spezies umfassender und gerechter zu gestalten.
Das Pangenom soll also dazu dienen, die Menschheit besser abzubilden. Es wird unser Verständnis von Genen und der Gesundheit aller Menschen verbessern. Es ist hochpräzise, vollständiger und erhöht den Nachweis von Varianten im menschlichen Genom erheblich. Damit dürfte es die klinische Forschung beschleunigen – es erlaubt den Forschern, die Beziehung zwischen Genen und Krankheitsmerkmalen besser zu verstehen. (dhr/sda/afp)