Unsere nahen Verwandten, die Neandertaler, und der moderne Mensch lebten in Europa eine Weile nebeneinander, bis der Neandertaler vor ungefähr 40'000 Jahren von der Bildfläche verschwand. Sicher ist, dass es zu Kontakten – auch sexueller Natur – kam, denn im heutigen Genom des modernen Menschen sind Spuren von Neandertaler-Erbgut nachweisbar. Nicht vollständig geklärt ist jedoch, wie lange die beiden Menschenarten nebeneinander koexistiert haben, und in welchen Regionen dies der Fall war.
Darauf wirft nun eine Untersuchung von Wissenschaftlern der Universitäten von Leiden (Niederlande) und Cambridge (Vereinigtes Königreich) neues Licht, die im Fachmagazin «Scientific Reports» erschienen ist. Das Team um die Archäologen Igor Djakovic und Marie Soressi analysierte unter anderem je 28 Artefakte von Neandertalern und modernen Menschen aus 17 Fundstätten in Frankreich und Nordspanien. Dazu kamen zehn Proben von Neandertaler-Überresten aus der gleichen Region, aus der einige der jüngsten direkt datierten Neandertalerfossilien in Europa stammen. Dank verbesserter Methoden der Radiokohlenstoffdatierung konnte das Material genauer untersucht werden.
Anhand statistischer Wahrscheinlichkeitsmodelle leiteten die Forscher dann die jeweils frühesten und spätesten plausiblen Zeitpunkte ab, zu denen die beiden Populationen an den Fundorten gelebt haben könnten. Gemäss diesen Schätzungen tauchten Neandertaler-Artefakte erstmals vor 45'343 bis 44'248 Jahren in der Region auf und verschwanden zwischen 39'894 und 39'798 Jahren. Direkt datierte Fossilien des Neandertalers positionieren dessen Aussterben auf einen Zeitraum vor 40'870 und 40'457 Jahren. Das erste Auftreten des modernen Menschen wurde auf 42'653 bis 42'269 Jahre in der Vergangenheit geschätzt. Daraus ergibt sich, dass die beiden Menschenarten etwa 1400 bis 2900 Jahre lang in Frankreich und Nordspanien nebeneinander lebten, bis die Neandertaler ausstarben.
Damit ergänzt die Studie eine frühere Untersuchung, die bereits festgestellt hatte, dass sich die Populationen des Neandertalers und des modernen Menschen auf kontinentaler Ebene insgesamt mehr als 5000 Jahre lang überschnitten. Der Homo sapiens, der moderne Mensch, trat bereits vor 46'000 Jahren im heutigen Bulgarien auf; der Neandertaler lebte noch vor 41'000 Jahren in Frankreich, wie Djakovic erklärt. Es sei aber bis jetzt unklar gewesen, in welchen spezifischen Gebieten Europas sie unmittelbar nebeneinander gelebt haben könnten. Für Frankreich und Nordspanien bringt die neue Studie nun Licht ins Dunkel.
Es zeigen sich dabei auch interessante geografische Muster, wie eine Mitteilung der Universität Leiden feststellt: Die Daten deuten darauf hin, dass Gruppen von modernen Menschen zuerst in die südlichen Gebiete der untersuchten Region kamen, während die Neandertaler in den nördlichen Teilen der Region lebten. Dies deckt sich mit der These, dass der Homo sapiens entlang der Mittelmeerküste ins heutige Frankreich gelangte. Die kleineren und präziser gefertigten Artefakte der Proto-Aurignacien-Kultur, die dem modernen Menschen zugeschrieben werden, breiteten sich von Süden nach Norden aus und lösten allmählich die gröberen Artefakte der Châtelperron-Kultur ab – der letzten Kultur der Neandertaler in Westeuropa.
Frühere Studien hatten bereits postuliert, dass die Châtelperron-Kultur der Neandertaler von Techniken des Homo sapiens beeinflusst wurde. Die Frage, ob und in welchem Grad die festgestellten Ähnlichkeiten tatsächlich auf einen kulturellen Austausch zwischen diesen beiden Populationen zurückgeführt werden können, vermag auch die neue Studie nicht zu beantworten. «Aber das potenziell gleichzeitige Vorkommen der Gruppen, die diese Artefakte produzierten, ist sicherlich von Bedeutung», schreiben die Wissenschaftler. Wie genau Neandertaler und moderner Mensch koexistierten, müsse nach wie vor noch geklärt werden.
Sicher ist jedoch, dass frühere Annahmen durch die neuere Forschung längst widerlegt worden sind – etwa, dass die Neandertaler vor rund 40'000 Jahren schnell durch einwandernde moderne Menschen verdrängt wurden. Der Prozess ihres Verschwindens war langwieriger und komplexer als ursprünglich angenommen. Und wie Djakovic betont, ist es zunehmend schwierig geworden, die beiden Menschenarten anhand von archäologischen Daten zu unterscheiden. Es ist eben nicht so, wie man früher dachte, dass die Neandertaler nicht zu den gleichen Dingen fähig waren wie moderne Menschen. (dhr)