Nach heftiger Kritik durch über 500 Forscher in einem offenen Brief nimmt die Leitung des Human Brain Projects (HBP) offiziell Stellung. Man sei «betrübt» über diese Angriffe und lade die Kritiker ein, ihre Zweifel in einem «wissenschaftlichen Austausch» zu diskutieren. Am Montag hatten Forscher aus ganz Europa – darunter mehrere aus der Schweiz – in einem offenen Brief das milliardenschwere «Human Brain Project» (HBP) kritisiert.
Anlass für den Brief ist eine im Juni angekündigte Neustrukturierung des HBP, das unter der Leitung der ETH Lausanne (EPFL) steht. Dabei wurden insgesamt 18 Forschungsprojekte der kognitiven Neurowissenschaften aus dem Kern des Projekts ausgeschlossen, da sie nicht zum zentralen Ziel – eine computergestützte Plattform zur Simulation des Gehirns zu erstellen – führen, wie das HBP schreibt. Die Verfasser des Briefs beklagen sich, dass die wissenschaftliche These des Milliardenprojekts nun noch enger formuliert werde als zuvor. Auch sei die Führung des Projekts intransparent.
Das HBP war Anfang 2013 von der EU zum Flagship-Projekt erkoren worden. Sein Budget beträgt etwa 1,2 Milliarden Euro auf zehn Jahre. Das Direktorium und der Leitungsausschuss des HBP rufen jetzt in ihrer vierseitigen Antwort die Projektziele in Erinnerung: Das HBP will eine Computerplattform erstellen, die das Gehirn bis ins Detail nachbildet. «Das HBP ist ein Projekt zur Zusammenführung von Daten über das Gehirn – nicht zu ihrer Erzeugung.» Dazu sei die Kooperation sämtlicher relevanter Disziplinen nötig.
Just um den EU-Flagship-Vorgaben zu entsprechen, müsse sich das Projekt in der ersten Phase auf die Entwicklung dieser Informationstechnologien konzentrieren, erklärte die HBP-Leitung. Deshalb wurden gewisse Forschungsvorhaben vom Kernprojekt getrennt. Diesen Entscheid habe ein unabhängiges Gremium von 25 Experten aus allen relevanten Disziplinen gefällt. Von der Informationsplattform würden später sämtliche Disziplinen profitieren. Gerade die kognitiven Hirnwissenschaften – sie erkunden, was bei bestimmten Verhaltensweisen im Gehirn geschieht – seien dann die wichtigste Disziplin, um die Plattform zu testen und anzuwenden. Doch dazu müsse diese zuerst vorhanden sein.
Die Entwicklung der Informationstechnologien wurde deshalb zum Kernprojekt gemacht. Es erhält 50 Millionen Euro an EU-Geldern pro Jahr, die aus dem Informationstechnologie-Topf stammen. Bestehenden Neuroforschungsprojekten geht somit laut HBP-Leitung nichts verloren. Die Partnering Projects (PP), zu denen nun die Projekte der kognitiven Neurowissenschaften gehören, sollen den gleichen Betrag von den Mitgliedstaaten erhalten – diese Gelder sind vorerst noch nicht gesprochen. Nach Ansicht der HBP-Verantwortlichen erhalten über die PPs sämtliche Neuroforscher in Europa einen fairen Zugang zum HBP – und allenfalls später zum Kernprojekt.
Manche Wissenschaftler äusserten den Vorwurf, das Projekt sei zu technologielastig und die experimentelle Arbeit komme zu kurz. Gemäss der HBP-Leitung sollen jedoch je 20 Prozent der Gelder des Kern- und der Partnerprojekte für experimentelle Neuroforschung vorgesehen werden. Derzeit fehle den Neurowissenschaften eine Technologie, um die enormen Mengen an gewonnenen Daten zu teilen, organisieren, analysieren oder zusammenzustellen, schreibt die HBP-Leitung. Und fügt selbstbewusst hinzu: «Das HBP wird den entscheidenden fehlenden Baustein liefern, damit das Gehirn auf vielen Niveaus rekonstruiert und simuliert werden kann.» (dhr/sda)