Die junge Amerikanerin ist gerade von Frankreich gekommen, mit einem Schwall Flüchtlingen. Jetzt steht sie an einem Ticketschalter in der spanischen Grenzstadt Irun. Sie will mit dem Schiff über Portugal nach London. Es ist Ende August 1940.
Im Frühling überrannte die Wehrmacht die Maginot-Linie über die unverteidigten belgischen Ardennen und marschierte in Frankreich ein. Die unvorbereiteten Franzosen waren derart überfordert, dass die meisten einfach hinter ihren Mauern sitzen blieben und sich in ihrer Verzweiflung gegenseitig Tauben hin und her schickten. Bei Dünkirchen gelang es gerade noch, die eingeschlossenen britisch-französischen Truppen in einer spektakulären Rettungsaktion nach Grossbritannien zu evakuieren.
Die französische Regierung verliess Paris am 10. Juni. Vier Tage später waren die Deutschen da.
Marschall Philippe Pétain unterschrieb am 22. Juni den Waffenstillstand mit Hitler. An der selben Stelle und im selben Waggon wie 1918 der für die Deutschen so niederschmetternde Versailler Friedensvertrag beschlossen wurde. Hitler hatte den Wagen von Compiègne eigens aus dem Museum holen und auf die Gleise stellen lassen. Die Rache war perfekt, die Demütigung für Frankreich vollkommen. Mit seiner Unterschrift gab Pétain 60 Prozent seines Landes in die Hände der Nationalsozialisten – und auch der Rest, der ihm geblieben war, war bald nichts weiter als ein deutscher Marionettenstaat.
Die junge Frau sah, wie sich ihr geliebtes, freizügiges Paris in eine Hölle zu verwandeln begann. 1926 hatte sie als 20-Jährige den Atlantik überquert, um an der École Libre des Science Politiques zu studieren. Hier herrschte keine Prohibition und auch keine Segregation wie zuhause. Die Frauen trugen kurze Haare, waren androgyn, rauchten und hingen in den Jazzclubs von Montmartre rum.
Hier hatte sich Virginia Hall zum ersten Mal frei gefühlt. Frei von den engen Vorstellungen ihrer Mutter, die sie gern in eine Ehe mit einem reichen Mann gezwängt hätte. Virginia aber verlangte es nach mehr. Vielleicht war es das Seemanns-Blut ihres Grossvaters, das durch ihre Adern floss, und das sie nach Abenteuern verlangen liess – auch wenn diese in ihrer Zeit für gewöhnlich nur den Männern vorbehalten waren.
Nun hing eine Ausgangssperre über Paris, täglich wurden Oppositionelle verhaftet und in Lager gesteckt, die auf französischem Boden errichtet wurden. Virignia sah mit Entsetzen, wie die einheimische Polizei mit den deutschen Besatzern kollaborierte, wie die Männer in ihren Uniformen vor den edlen Hotels Wache standen, in denen sich die Nazis einquartiert hatten.
Wochenlang hatte Virginia für den Sevice de Santé des Armées verletzte Soldaten nach Paris ins Krankenhaus gefahren – an den deutschen Kontrollen vorbei. Als Amerikanerin geriet sie weniger in Schwierigkeiten, damals waren die USA noch neutral. Jetzt aber konnte sie nichts mehr tun für ihre zweite Heimat, wie sie Frankreich zu nennen pflegte.
Der britische Geheimagent George Bellows beobachtet, wie Virginia am Ticketschalter in Irun steht. Was wohl eine junge Amerikanerin im besetzten Frankreich zu suchen hatte?
Seine Informationen über das Land beschränkten sich seit der Evakuation der britischen Truppen aus Dünkirchen auf die Erzählungen der Flüchtlinge, die täglich zu Hunderten über die spanische Grenze rollten. Agenten waren fast keine mehr im Land und die Berichte der Diplomaten und Reporter waren spärlich.
Bellows stellt sich Virginia als Seemann vor, der ihr eine sichere Reise ermöglichen kann. Sie erzählt ihm, wie traurig sie über Frankreichs Kapitulation ist, wie sie Ambulanzdienst unter Feindbeschuss leistete, wie sie dann über das Land reiste, das nun in zwei Teile geteilt war, wie Pétain von Vichy aus die sogenannte Freie Zone regierte, während die Nazis im Norden und im Westen bereits die Kontrolle übernommen hätten.
Sie erzählt ihm von den Essenskürzungen und den Männern der Renault-Fabrik, die gegen die schlechten Arbeitsverhältnisse protestiert hatten und dafür von den Nazis an die Wand gestellt und erschossen wurden.
Bellows sieht, wie sehr Virginia vom Wunsch getrieben ist, Frankreich in seinem Kampf beizustehen. Er sieht auch ihren Mut und ihre aussergewöhnliche Beobachtungsgabe. Und so steckt er ihr eine Telefonnummer zu, als er sich verabschiedet. Sie solle da anrufen, wenn sie in London angekommen sei.
Diese Nummer sollte sie endlich ihrer wahren Bestimmung zuführen. Keine unerheblichen Telefonate mehr entgegennehmen für die amerikanische Botschaft, während Europa im Krieg versank. Virginia wollte etwas Bedeutsames tun. Und sie sollte bald beweisen, dass sie dazu auch wirklich in der Lage war.
Die Nummer, die Bellows ihr in Spanien zusteckte, gehörte Nicolas Bodington, dem Leiter der F-Sektion des noch ganz jungen britischen Geheimdienstes SOE (Special Operations Executive). Ins Leben gerufen wurde er am 19. Juli 1940, dem Tag, an dem Hitler seine triumphale Rede im Reichstag in Berlin hielt.
Sektion F operierte in der noch unbesetzten Zone Frankreichs. Churchill verlangte von den Agenten, dass sie dort die Résistance-Flamme zünden. Die Bevölkerung müsse erfahren, dass man sie nicht allein lasse im Kampf gegen die Deutschen. Und man solle sie auf den unbestimmten Tag vorbereiten, an dem die alliierten Soldaten wieder Fuss auf den Kontinent setzen würden.
Das war eine völlig neue, noch nicht definierte und gänzlich unerprobte Kriegsführung, nach der verlangt wurde. Und Bodington kämpfte damit, dafür die richtigen Männer zu finden. Talentierte Männer, die die Fähigkeit besassen, Frankreich zu infiltrieren – und das ohne jegliche Sicherheitsmassnahmen.
Traditionellerweise speiste der britische Geheimdienst MI6 seine Leute aus der Elite, es waren vornehme Jungs, die mit imperialen Abenteuergeschichten aufgewachsen waren. Sie sammelten eifrig Informationen, aber griffen niemals ins Geschehen ein. Von den neuen SOE-Agenten aber wurde nun erwartet, eine aktive Rolle zu spielen – sie sollten Propaganda verbreiten, Kämpfer anwerben, sabotieren, zerstören, töten.
Bis jetzt hatte Bodington kein Glück. Ein Agent wurde im letzten Moment panisch und sprang nicht aus dem Flugzeug, als dieses über der unbesetzten Zone Frankreichs kreiste. Ein anderer schleuste man mit dem Boot ein, doch er wurde auf der Stelle von ein paar Wehrmachtssoldaten entdeckt und festgenommen. Die meisten Anwärter stellten sich als untauglich heraus, manche waren sogar verrückt. Und vielleicht musste man das auch ein wenig sein, im Grunde war es potentieller Selbstmord.
Virginia war dazu bereit. Bodington spürte ihre Furchtlosigkeit und rauschte, noch immer ganz mitgerissen von seinem vorabendlichen Treffen mit ihr, in die geheimen SOE-Büros in der Baker Street 64, um dieser aussergewöhnlichen Frau schnellstmöglich ein Jobangebot unterbreiten zu können.
Sie war geradezu perfekt für eine Mission in Frankreich. Durch ihre alten Kontakte zum Staatsdepartement würde sie ein Visa bekommen. Und als Amerikanerin könnte sie sich in Frankreich frei bewegen, man müsste sie nicht umständlich ins Land schmuggeln. Man würde ihr eine Deckidentität als Korrespondentin für die New York Post verschaffen. Ihre Aufgabe bestünde darin, die Zusammenarbeit der lokalen Résistance-Führer mit den künftigen SOE-Agenten zu koordinieren. Sie wäre die erste weibliche Agentin. Und die erste mit einer Behinderung.
Es passierte am 8. Dezember 1933. Virgina jagte Schnepfen – jene flink fliegenden Vögel mit den langen Schnäbeln – in einem Sumpfgebiet von Smyrna (heute Izmir, Türkei), wo sie für die amerikanische Botschaft tätig war. Sie kletterte über einen Drahtzaun und streifte durch hohes Schilfrohr, bis sie stolperte. Das Gewehr glitt ihr von der Schulter und verfing sich in ihrem Mantel – und als sie es herausziehen wollte, löste sich plötzlich ein Schuss.
Das Schlammwasser verfärbte sich rot. Dann wurde Virginia ohnmächtig. Sie hatte sich die Bleikugeln in den linken Fuss gefeuert. Ihre Freunde verbanden die Wunde, trugen sie ins Auto und fuhren sie sofort ins Spital.
Die schnelle Genesung stellte sich als Trug heraus. Ihr Fleisch entzündete sich, schwoll an und begann allmählich abzusterben. Es stank entsetzlich und die Schmerzen brachten Virginia beinahe um den Verstand. Es gab noch keine Antibiotika, die einzige Möglichkeit war eine Amputation. An Weihnachten sägte man Virginias linkes Bein unter dem Knie ab. Sie war 27 Jahre alt.
Und während sie sich im Spitalbett für ihren Leichtsinn verabscheute, kam die Infektion zurück. Ihr Körper wurde septisch, er begann sich heftig gegen die fleischfressenden Bakterien zu wehren und schädigte dabei ihre Organe. Dieses Mal driftete sie ins Delirium ab. Und in jenem Niemandsland zwischen Leben und Tod erschien ihr ihr toter Vater. Ned, der ihr das Gewehr geschenkt hatte. Der für die Andersartigkeit seiner Tochter stets Verständnis gehabt hatte. «Du darfst nicht aufgeben», sagte er, «es ist deine Pflicht zu überleben.»
Sie tat es. Immer und immer wieder in dem gefahrumwitterten Leben, das noch vor ihr lag. Und niemals sollte sie zulassen, dass ihr das fehlende Stück Bein zum Hindernis werde.
Sie ertrug die Reparatur-Operationen, wie sie sie nannte, die bei ihrer Rückkehr in die USA folgten. Und sie ertrug die schlecht sitzende, 3,6 Kilogramm schwere Prothese aus angemaltem Holz mit Aluminiumfuss, die ihr an heissen Tagen den Stumpf blutig schürfte. Der Schmerz wurde zu ihrem ständigen Begleiter, den sie ebenso stoisch zu verbergen wusste wie ihr falsches Bein. Virginia litt still, ihre Mutter hatte ihr ganz nach der Tradition ihrer amischen Vorfahren das Schweigen über das eigene Wohlbefinden gelehrt. Geheimnisse waren Virginia nicht fremd.
In ihren SOE-Akten findet ihre Behinderung keinerlei Erwähnung. Sie gab an, reiten, segeln, schiessen, klettern, Auto, Ski und Rad fahren zu können. Bloss rennen, das bliebe ihr verwehrt. Wegen Cuthbert – wie sie ihr Holzbein fortan nannte.
Cuthbert schien kein Problem darzustellen. Ihr Geschlecht allerdings schon. Virginia war sich diese Kämpfe bereits gewohnt. Und sie musste sie auch in den Wänden der SOE austragen. Auch hier galten die zeittypischen Vorbehalte, auch hier war man der Meinung, dass der Krieg allein in männliche Hände gehöre, während die zarten Finger der Frauen höchstens zum Tippen oder Dekodieren von Nachrichten taugten.
Abgesehen davon war sie eine Ausländerin, war ihr überhaupt zu trauen? Sprachen die noch immer neutralen USA nicht in allzu freundlichem Ton mit dem Vichy-Regime?
Am Ende überwog die Verzweiflung der SOE. Sie konnten sich das Wählerischsein nicht leisten. Die Zeit drängte und sie mussten nehmen, was ansatzweise Erfolg versprach. Selbst wenn es eine Frau war.
Virginias Mission wurde bestätigt.
Mit sieben Männern wurde sie in eine moderne Villa im New Forest einquartiert, wo sie nun die Grundlagen geheimer Kriegsführung erlernte: Wie man Deck- und Codenamen verwendet, wie man Nachrichten verschlüsselt und dekodiert, wie man Geheimtinte herstellt und zum Vorschein bringt – Urin reagiert auf Hitze –, wie man gewöhnlich wirkt, während man aussergewöhnliche Dinge tut, wie man ein Büro durchwühlt, ohne Spuren zu hinterlassen, wie man sich verkleidet und seine Persönlichkeit durch verschiedene Lacher und Gangarten verändert, wie man einen Verfolger im Fenster erkennt und ihn abhängt, wie man sich geräuschlos einem bewachten Haus nähert, wie man Schlösser knackt, wie man Mikrofilme versiegelt und sie im Bauchnabel oder Rektum versteckt.
Virginia wurde auch einem nachgespielten Gestapo-Verhör unterzogen und mitten in der Nacht mit «Raus, du Schweinehund!» geweckt. Sie erhielt Schiesstraining, allerdings war die Munition viel zu wertvoll, um einfach verballert zu werden, also lernte sie vor allem, ihre neue Sten Gun zu laden und zu entladen. Auch ein Colt .32 Revolver gehörte zu ihrer Ausrüstung.
Die Ausbildung der künftigen Agenten blieb dennoch äusserst rudimentär. Die einzigen Karten, die ihnen von ihrem Einsatzfeld zur Verfügung standen, stammten aus einem veralteten Michelin-Reiseführer. Tatsächlich hatte man keine Ahnung, wie man die Résistance hinter feindlichen Linien in einem fremden Land aufbauen sollte. Das hatte niemand zuvor je getan. Hier wirkte alles noch, als wäre es nichts weiter als ein aufregendes Spiel. Aber bald würden sie die Brutalität der französischen Polizei und der Gestapo zu spüren bekommen. Und viele von ihnen würden nicht wieder nach Hause zurückkehren.
Virginia wird Agentin 3844. Sie bekommt den Feldnamen Germaine Lecontre und die Lizenz zum Töten. Für den Fall, dass sie in Gefangenschaft gerät und die Folter nicht länger erträgt, übergibt man ihr Kaliumcyanid in Form von winzigen Gummi-Bällchen. Zerkaut man sie, stirbt man innerhalb von 45 Sekunden. Das Benzedrin (Amphetamin/Speed) erhält sie, damit sie ohne Schlaf auskommt.
Am 23. August 1941 lässt Virginia ihr altes Leben hinter sich. Man gibt der 35-jährigen, einbeinigen Bürokraft eine Chance von 50 Prozent, dass sie die ersten Tage überlebt.
Zwei Jahre nach Kriegsausbruch steht sie vor dem Hôtel de la Paix in Vichy. Ihr erster Artikel, den sie mit ihrer Deckidentität für die New York Post schreibt, sorgt für Jubelgeschrei in der Baker Street. Virginia hatte es geschafft. Für den Moment waren ihre Zeitungsberichte die einzig sichere Kommunikationslinie nach London.
Als erstes überzeugte sie die französische Zensurchefin für Auslandmedien im Informationsministerium in Vichy, ihre Artikel unzensiert durchgehen zu lassen. Sie schrieb über Treibstoffdepots, Munition und Truppenbewegungen – und London saugte gierig jedes Bröcklein Information auf.
Bald aber wurde es ihr in Vichy zu eng. Die Gestapo war überall, das war alles andere als eine freie Zone. Und die meisten Franzosen schienen nicht bereit, sich gegen die Fremdherrschaft aufzulehnen. Pétain war ein Nationalheld, gefeiert für seine Abwehrerfolge in der grauenvoll blutigen Schlacht um Verdun 1916. Man fiel dem Marschall nicht in den Rücken. Und man folgte nicht De Gaulles zittriger Stimme, der die Kapitulation Frankreichs nicht akzeptierte und durch BBC aus dem Exil in London verlautbaren liess, dass die Flamme des französischen Widerstandes niemals erlöschen würde. Das war Hochverrat. Dafür verurteilte Pétain ihn in absentia zum Tode.
Der Marschall schaffte es, selbst aus seiner Niederlage eine Art Sieg zu formen. Schliesslich habe er doch dafür gesorgt, dass nicht ganz Frankreich von den Deutschen okkupiert wurde, nachdem die Briten bei Dünkirchen kläglich desertiert seien – so lautete bald die Vichy-Propaganda-Version der für Churchill an ein Wunder grenzenden Rettungsaktion von 330'000 Soldaten.
Das Rezept war ziemlich einfach: Man wärmte die jahrhundertealte Fehde zwischen den beiden Ländern wieder auf und würzte sie mit dem Gerücht, eine britische Blockade sei schuld an den Essenskürzungen, dem fehlenden Wein und dem so rar gewordenen Treibstoff. Dann rührte man die Suppe kräftig um und hoffte, so den wahrhaft fauligen Geschmack systematischer Nazi-Plünderungen etwas zu verdecken.
Virginia schrieb in einem ihrer Artikel davon, wie der Hunger die Leute zum Stehlen brachte. Wie sie Tauben auf ihren Balkonen brieten. Und wie ihnen die Zähne und Nägel wegen der Mangelernährung ausfielen. Wie die Kinder aufhörten zu wachsen und mit ihren aufgedunsenen Hungerbäuchen ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Die Nazis hatten die ganzen Lederbestände geraubt. Auf den Strassen hörte man überall das Klackern der nunmehr hölzernen Schuhsohlen, die Begleitmusik zur deutschen Besatzung.
Und überall regierte die Angst. Denunziationen waren an der Tagesordnung. Hier fand Virginia die von De Gaulle so viel beschworene Flamme des Widerstands nicht.
In Lyon sah es anders aus. Diese Stadt hatte eine rebellische Vergangenheit, hier wehrte man sich einst gegen die Jakobiner in Paris, es war der Hort der Freimaurer. Die Lyoner hockten in ihren verrauchten Bouchons und schmiedeten heimlich Umsturzpläne. Hier gab es eine Handvoll Menschen, die bereit war, ihr Leben für den Freiheitskampf zu opfern.
Lyon platzte aus allen Nähten. 200'000 Flüchtlinge hatten in der 570'000 Einwohner-Stadt Zuflucht gefunden. Und weil Virginia kein einziges freies Zimmer mehr fand, klopfte sie an die Tür des Sainte-Elisabeth-Klosters. Die Nonnen des Konvents wurden ihre ersten Rekrutinnen und die dicken Mauern zu einem der sichersten Verstecke für künftige Agenten und Widerstandskämpfer.
Virginia hatte ihre roten Haare hellbraun gefärbt und zu einem artigen Knoten zusammengebunden. Ihre einst so ausgefallene modische Kleidung durch bourgeoise Tweet-Kleidung – und die Hosen durch Röcke ersetzt. Im Vichy-Regime hatte man die Frauen gesetzlich wieder an den Mann gebunden und zurück ins Haus verfrachtet. Sie durften nicht rauchen und nicht stimmen. Mindestens vier Kinder zu gebären, galt als ihre patriotische Pflicht. Wer abtrieb, verlor seinen Kopf.
Weil ihr noch immer kein Funker geschickt wurde, musste sie sich neue Kommunikationswege einfallen lassen, um mit London in Kontakt zu bleiben. Virginia hatte etwas beinah Magisches an sich, eine charmante, natürliche Autorität, eine ungeheuerliche Überzeugungskraft. Mit ihrer flammenden Energie brachte sie fast alle auf ihre Seite. So auch den Vizekonsul Whitinghill, der ihre Nachrichten in seiner Diplomatentasche aus Frankreich in die amerikanische Botschaft in Bern schmuggelte. Von dort aus wurde sie von einem Militärattaché weiter nach London geschickt. Aus der Baker Street wiederum empfing Virginia versiegelte Umschläge mit Geld und Antworten. Der Kanal war langsam, aber er war besser als nichts.
Bald wurden neue Agenten mit dem Fallschirm ins Land geschleust. Einer aber wurde von der Vichy-Polizei aufgegriffen und sofort verhaftet. In seiner Tasche fand man eine Karte, auf der ein Safe House in Marseille markiert worden war. Die Villa de Bois.
Es dauerte nicht lange, bis die Gestapo darin zwölf SOE-Agenten einkreiste. Die meisten hatten kaum ihre Mission begonnen. Jetzt sassen sie im Festungsgefängnis ausserhalb von Périgueux in ihren rattenverseuchten Zellen und wussten nicht, ob sie bereits am nächsten Tag an die Wand gestellt würden.
Nun waren nur noch vier in der gesamten unbesetzten Zone übrig. Eine davon war Virginia, die nicht auf die Einladung in die Villa de Bois reagiert hatte. Sie hatte die Gefahr instinktiv gespürt.
Germaine Guérin war stets in Seide gekleidet, darüber trug sie Pelz und war behangen mit allerlei Juwelen und Edelsteinen. Um ihre Beine strich, wo immer sie ging, ein Heer schwarzer Katzen. Sie war eine schöne und einflussreiche Figur in der Stadt, ihr gehörte zu grossen Teilen eines der erfolgreichsten Bordelle von Lyon. Reiche und mächtige Männer besuchten sie in ihren mit Wandteppichen behangenen Gemächern, wo am Boden Kisten mit Goldmünzen herumstanden und die Schränke schier barsten vor all der ausgefallenen Haute Couture.
Im unteren Stock ihres Hauses versorgte sie die deutschen Offiziere, die französischen Polizisten und die Vichy-Beamten mit Scotch vom Schwarzmarkt, erstklassigen Steaks und ihren Filles de joie. Als Gegenleistung gaben die Männer ihr Kohle zum Heizen und Benzin für ihr Auto, mit dem sie dann heimlich Agenten und Flüchtlinge durch die Gegend fuhr.
Ihr donnerndes Lachen brachte die halbe Strasse zum Beben. Germaine war eine furchtlose Patriotin – und sie war bereit, alles zu tun, damit ihr geliebtes Frankreich wieder frei atmen konnte. Sie rekrutierte ihre Bewunderer für Virginia, die ihr wiederum Kontakte bis nach Paris verschafften. Sie versteckte Agenten, Flüchtlinge und Juden in ihrem Bordell und wies ihren Schwager an, Virginias Treiben nicht allzu genau ins Visier zu nehmen und sie zu warnen, falls es andere tun. Er war der lokale Polizeichef.
Auch Germaines Mädchen schlossen sich dem Kampf gegen die Besatzer an. Todesmutig machten sie ihre Klienten betrunken, um danach ihren losen Zungen zu lauschen. Sie untersuchten ihre Taschen und fotografierten deren Inhalte, wenn die Männer schliefen. Manche streuten Juckpulver in die Wehrmachts-Uniformen. Die Verwegensten unter ihnen überzeugten ihre Kunden davon, Heroin zu versuchen. Es gab Fälle von Luftwaffen-Piloten, deren Augen so schlecht wurden, dass sie nicht mehr fliegen konnten.
Der pausbäckige Dr. Jean Rousset war der Gynäkologe der Freudenmädchen. Er stellte den Infizierten unter ihnen ein sauberes Zeugnis aus, damit sie ihre Kunden heimlich mit Syphilis oder Tripper anstecken konnten. Die Deutschen wurden dazu angehalten, Bordelle zu beehren – die nächtlichen Zusammenkünfte mit den filles de joie sollten ihre Kampfeslust steigern.
Seine Praxis wurde zu Virginias Kommandozentrale. Im oberen Stock richtete er ein neues Safe House ein, getarnt als Irrenhaus. Auch Rousset war einer, der Virginia bereitwillig sein Leben anvertraute. Sie gab ihm den Decknamen Pépin und machte ihn zu ihrem Oberstleutnant.
Allmählich sprachen die Leute von der Frau, die aus den USA kam, um die Franzosen im Widerstand gegen die Deutschen zu unterstützen. Und irgendwann musste Virginia keine Mitglieder mehr anwerben – sie kamen zu ihr. Ein Freund von Dr. Rousset sagte einmal, Virginia sei so gut, sie müsse gar Freunde in der Gestapo haben.
Auch die neu ankommenden SOE-Agenten galt es zu trainieren. Sie mussten wie echte Franzosen wirken. Die Amerikaner sahen sich gezwungen, das Kaugummi-Kauen und ihren breiten, o-beinigen Gang abzulegen, während ihre Hände sich keinesfalls mehr in den Hosentaschen vergraben durften. Den Briten musste Virginia das dauernde Tragen ihrer Regenmäntel ausreden. Sauce galt es fortan mit Brot aufzutunken, auf dass der Teller restlos leergefegt wurde. Der Franzose lässt nichts übrig.
Ein Engländer geriet vor einen fahrenden Wagen, weil er für einen Moment vergessen hatte, dass die Franzosen auf der anderen Strassenseite fahren. Es reichte ein wachsamer Gestapo-Mann, um ihn aus dem Verkehr zu ziehen.
Fehler kosteten Leben. Virginia wusste das. Deshalb war sie so bestimmt in ihren Sicherheitsforderungen, die sie sich auch selbst auferlegte. Das Spionendasein in einer von der Gestapo kontrollierten Stadt machte einsam und zuweilen auch paranoid. Jedes Treffen bedeutete Gefahr. Einer der Agenten nahm sein Mittagessen vor dem Spiegel ein – allein mit seinem reflektierten Ich.
Dann kam auch Georges Duboudin nach Lyon, Deckname Alain. Ein mit einer Britin verheirateter Franzose. Ein Mann, der mit der Einsamkeit nicht zurecht kam.
Technisch war er Virginia überstellt, er war das Haupt seiner Zelle, während sie nur den Rang eines einfachen Verbindungsoffiziers hatte. Bald liess er London wissen, er habe 10'000 Widerstandskämpfer gelistet und sei bereit, die erforderlichen Sabotageakte auszuführen. Virgina wusste, dass es ein Bluff war. Alain hatte Schwierigkeiten, Leute zu rekrutieren. Und die wenigen, die er für sich gewonnen hatte, konnte er nicht halten.
Er trank und hatte Affären mit Frauen, denen er lauthals von seiner Geheimmission erzählte. Alain wurde zum Sicherheitsproblem. Virginia warnte London, doch da wollte man nicht hören. Selbst dann nicht, als ein anderer aus dem Feld zurückgekehrter Agent den Herren in der Baker Street beteuerte, dass Virginia da draussen die wahre Exekutive sei. Dass sie von allen Seiten geachtet würde. Dass sie «Le champion américain» genannt werde. Dass ihr der Kommandoposten zustehe.
Doch eine Frau mit einer solchen Befehlsgewalt auszustatten, war zu viel, auch für die SOE. Man glaubte weiterhin Alain und seinen leeren Versprechungen. Virginia bleib also nur die Möglichkeit, Alain von ihrer so sorgfältig aufgebauten Zelle fernzuhalten.
Im April 1942 kam Pierre Laval zurück in die Regierung, wo er einst wegen seiner allzu nazifreundlichen Gesinnung von Marschall Pétain hinausbefördert worden war. Nun war seine Stunde gekommen. Er vedrängte den 86-jährigen Pétain allmählich von der Staatsspitze und begann damit, sein umfassendes Kollaborationskonzept mit dem Dritten Reich umzusetzen.
Im Sommer gab der Vichy-Polizeichef René Bousquet den Befehl, 10'000 Juden aus der «Freien Zone» zu deportieren. Laval schickte entgegen der Abmachungen auch Kinder unter 16 Jahren mit. Ganze Familien wurden in Waggons aus Lyon hinausgefahren. Niemand gab sich mehr die Mühe, etwas zu verstecken.
Allmählich kippte die Stimmung in Frankreich. Die Arbeiter begannen damit, ihre kriegswichtige Arbeit zu verlangsamen, sie verlegten wichtige Dokumente oder klebten die falschen Etiketten auf die Güter. Sie wollten nicht mehr Teil dieser grauenvollen Maschinerie sein.
Nun galt es, die Kampfwilligen auszurüsten und auf grössere Sabotageakte vorzubereiten. Edward Zeff wurde dafür nach Lyon geschickt. Endlich bekam Alain seinen lang ersehnten Funker – endlich gab es einen direkten und schnellen Kommunikationsweg nach London.
Jene Arbeit war enorm gefährlich, vor allem weil die deutsche Funkabwehr immer ausgeklügelter wurde. Allein in Lyon verfügte sie über 80 grüngraue Funkpeilwagen, die jedes geheime Signal sofort aufspürten. Mehr als drei Monate betrug die Lebenserwartung eines SOE-Funkers nicht.
Zeff kam kaum zum Schlafen, unaufhörlich morste er nach London, um Alains Schein-Armee mit Waffen, Sprengstoffen, Pistolen, Gewehren und Zigaretten zu versorgen. Die wertvollen Materialien wurden allesamt an diesen untauglichen Mann verschwendet, der an wichtigen Treffen nicht auftauchte und nach London meldete, er habe seine ganze Arbeit ohne Virginias Hilfe geleistet. Sie sei ihm nicht von Nutzen. Sie würde bloss seine Erfolge für sich einheimsen wollen.
Einer dieser «Erfolge» war die Abholung von drei Containern, die ein britischer Bomber bei Montbrison abgeworfen hatte. Alain schnappte sich 17 Männer und seine Geliebte Germaine Jouve und rauschte ohne irgendwelche Sicherheitsmassnahmen zum besagten Abholort. Sie wurden alle auf der Stelle von der Polizei umkreist und festgenommen.
Alain wurde kurze Zeit darauf wieder entlassen und prahlte, kaum aus seiner Zelle getreten, damit herum. Das führte dazu, dass der zuständige Polizeioffizier – ein heimlicher Résistance-Sympathisant – 48 Stunden lang gefoltert wurde. Die Sympathien von Alains Geliebter wiederum waren weniger klar. Davor war sie die Mätresse eines italienischen Spions gewesen. Und als sie aus dem Gefängnis kam und ihn in den Armen einer Jüngeren erwischte, dauerte es nicht lange, bis mehrere Mitglieder seiner Zelle verhaftet wurden. Alain hatte geredet – und seine Germaine hatte sich für seine Untreue gerächt. Doch bevor Virginia sie eliminieren konnte, war sie verschwunden.
Schliesslich dämmerte auch den Herren in der Baker Street, dass Alain eine ernsthafte Bedrohung für die Mission darstellte – und sie beorderten ihn zurück. Er versuchte noch, seine neue Gespielin ins Flugzeug nach London mitzunehmen, doch die anderen SOE-Agenten wussten dies zu verhindern.
Inzwischen war Viginias Heimatland in den Krieg eingetreten, die journalistische Tarnarbeit bot ihr keinerlei Schutz mehr. Frankreich mochte formell zwar neutral sein, doch das war nichts weiter als eine zynische Farce. Die Vichy-Polizei händigte den Nationalsozialisten hunderte ihrer Gefangenen aus oder guillotinierte sie gleich selbst auf ihren eilig zusammengebastelten Schafotten.
Den Rückkehr-Befehl des um ihre Sicherheit besorgten SOE-Chefs Maurice Buckmaster wusste sie taktisch so lange hinauszuzögern, bis er sich erübrigte. Sie hatte lange genug hier draussen überlebt, um die Situation selbst einschätzen zu können. Und da waren noch die zwölf gefangen gehaltenen Agenten von der Villa de Bois – die Camerons.
Man hatte sie in ein Vichy-Camp in Mauzac verlegt, wo es ihnen besser erging als im einstigen Festungsverlies. Sie wohnten nun zusammen in einer grosszügigen Baracke, in der sie auch selbst kochen durften. Virginia sorgte dafür, dass die zu dünnen Strichlein gewordenen Männer mit Essenspaketen vom Roten Kreuz aufgefüttert wurden.
Und bald bekam sie auch Hilfe von Gaby Bloch. Dieses zierliche Persönchen war die Frau des gefangenen Jean-Pierre Bloch – und bereit, alles für die Freiheit ihres Mannes zu riskieren.
Gaby sorgte dafür, dass die Camerons zu den nötigen Materialien kamen. Sie liess ihre zwei kleinen Kinder zuhause und fuhr drei Mal in der Woche 56 Kilometer zum Camp hinaus. Sie besorgte den Männern richtig gute und rar gewordene Esswaren auf dem Schwarzmarkt – was den Neid ihrer Nachbarn erweckte und ihr sofort eine Hausdurchsuchung bescherte.
In einer der Marmeladengläser verbarg sich eine kleine Feile, in einem Haufen frischer Wäsche versteckte sie zwei Drahtschneider. Und in einem ausgehöhlten Buch würden die Camerons einen Schraubenzieher und einen Hammer finden. Hätte man die Gegenstände gefunden, wäre Gaby sofort getötet worden. Sie war Jüdin.
Bald hatte Georges Bégué alles, was er brauchte. Bevor der Krieg kam und er SOE-Agent wurde, war er ein talentierter Handwerker. Um einen Abdruck vom Barackenschlüssel zu bekommen, benutzte er Brot aus der Gefängnis-Kantine. Und wenn er an seinem neuen Schlüssel feilte und hämmerte, dann sangen seine Mitgefangenen kräftig dreckige Lieder über den Lärm. Sie hatten zu diesem Zweck eigens einen Chor gegründet.
Morgens trainierten die Männer ihre Körper, besonders das Robben am Boden übten sie eingängig. Nachmittags spielten sie Boule, wobei sie nach möglichen Fluchtwegen suchten, blinde Punkte ausmachten und die Ablösungszeiten und Routen der Wach-Patrouillen berechneten.
Virginia unterwies indes Gaby, wie sie potentielle Helfer ausfindig machen konnte. Und so begann sich diese an die Bar des Hôtel Mauzac zu setzen, wo die Gefängniswächter zu trinken pflegten. Es war eine gefährliche Aufgabe, die meisten davon waren treue Pétain-Anhänger, sie sahen ihre Zukunft unter deutscher Kontrolle. Jose Sevilla glücklicherweise nicht.
Er sorgte dafür, dass der Wachturm um 5 Uhr nachts nicht mehr bemannt wurde; der Wind bringe die Leiter so sehr zum Wackeln, dass es einfach nicht mehr sicher genug sei.
Seit geraumer Zeit bekamen die Camerons Besuch von einem 70-jährigen französischen Priester. Er sorgte für ihr Wohlbefinden und überzeugte die Gefängnisverwaltung davon, dass den Männern das Anstreichen ihrer Hütte gestattet wurde.
Als sie mit den Malerarbeiten fertig waren, bat er die Gefangenen, sie möchten ihn doch mit seinem Rollstuhl die Stufen hinauf in ihre Baracke tragen, damit er ihr Werk bewundern könne. Einmal drin, flüsterte er, dass er ein Geschenk für sie habe. Dann wies er einen der Männer an, seinen Rock zu heben. Beine waren keine mehr darunter, die hatte der Priester auf einem der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs zurückgelassen. Dafür aber ein Funkgerät.
Mit diesem kontaktierte Bégué nun augenblicklich London, wo man mehr als erstaunt darüber war, eine Nachricht direkt aus dem Mauzac-Gefängnis zu bekommen. Und als ihm ein besonders geschwätziger Wächter von einer nahe gelegenen Granatfabrik erzählte, verging keine Woche und derselbe Wächter teilte Bégué mit, dass eben dieser Betrieb von Bombern der Royal Air Force platt gemacht worden sei.
Virginia hatte den Camerons ihre Kriegsrolle wieder gegeben. Selbst wenn die hohen Drahtzäune sie noch immer von der Welt fern hielten, ihre Informationen führten da draussen zu echten Taten.
Bégué kommunizierte sogar so eifrig nach London, dass das Signal schon bald von einem Funkpeilwagen geortet werden konnte. Doch wer sucht schon im Innern eines Gefängnisses nach feindlichen Funkgeräten?
Nun war auch Bégués Schlüssel fertig. Doch zu seinem Leidwesen passte er nicht ins Schloss. Die Camerons gerieten allmählich unter Zeitdruck, sie mussten während Neumond fliehen, danach würden die Nächte zu hell dafür sein.
Der schmierige Singsang und das darunter verborgene Zurechtschleifen begannen von Neuem. Ebenso galt es, Virginia möglichst schnell den verschobenen Fluchttermin mitzuteilen. Einer der Wächter bekam von Bégué eine mit der Nachricht gespickte Aspirin-Schachtel zugesteckt, die er in den Mantel seines ebenfalls eingeweihten Kollegen zu stecken hatte. Besagte Jacke hing gemeinhin in der Kantine. Doch an diesem Tage hing da auch noch eine andere. Die des Oberaufsehers der Gefängnisküche – und in dessen Tasche landete das geheime Zettelchen.
Zwei Tage später wurde Gaby Bloch ins Büro des Oberaufsehers zitiert. Sie stritt alles ab, auch wenn es längst offensichtlich war, was sie und die Camerons geplant hatten. Doch was blieb ihr anderes übrig. So oder so würde man sie töten, nur einfach machen wollte sie es ihnen nicht. Plötzlich unterbrach der Oberaufseher Gabys düstere Gedanken. Er verlangte Geld. Für eine genügend hohe Summe würde er Stillschweigen bewahren.
Am 15. Juli war es endlich so weit. Einen Tag und 153 Jahre nach dem Sturm auf die Bastille spazierte um zehn Uhr morgens eine alte Dame mit drei Kindern am Camp vorbei. Das war Virginias Zeichen. Alles war bereit.
Der alte Fleuret war der einzige der zwölf Männer, der sich der Flucht nicht anschliessen wollte. Er fürchtete, man würde sonst seiner Frau und seinen Kindern etwas antun.
Und so kippte man ihm an jenem Abend heimlich ein geschmackloses Schlafmittel ins Bier, das Gaby ihnen für diesen Anlass ins Gefängnis geschmuggelt hatte. Doch unglücklicherweise schien es das genaue Gegenteil zu bewirken. Fleuret, der sonst stets als erster das Bett aufsuchte, wollte einfach nicht schlafen. Das Bier hatte ihn in eine ungewöhnlich heitere Stimmung versetzt. Unter den nervösen Augen der anderen bequemte er sich dann doch irgendwann dazu, unter die Decke zu schlüpfen. Und als die Männer schon erleichtert aufatmeten, fing er wieder zu pfeifen an. Dann endlich, nach minutenlangem Zittern, nach einem unerträglichen Hin- und Hergeworfensein zwischen Hoffnung und Bangen, ging Fleurets fröhliches Liedchen in ein leises Schnarchen über.
Inzwischen hatte der eingeweihte Wächter Jose Sevilla seinen Chef mit zwei Flaschen Wein zum ausgelassenen Singen verführt. Ein anderer sollte daraufhin auf Turm 7 den Camerons ein Zeichen mit seinem Feuerzeug geben. Doch er kam nicht. Wahrscheinlich hatte er kalte Füsse bekommen.
Sevilla musste übernehmen. Um drei Uhr nachts stieg er selbst auf den Wachturm. Erleichtert drehte Bégué daraufhin den Schlüssel in der Tür. Es knarrte entsetzlich.
Der erste rannte los zum ersten dunklen Fleck und dann weiter zum Zaun, wo er ausser Sichtweite der Türme die Drähte mit einem Holzgestell auseinanderbog und den Teppich auf den unteren Stacheldraht legte, damit sich die Männer beim Kriechen nicht die Bäuche aufschlitzten. Dann zog er an der Schnur, das Zeichen für den zweiten.
Und während sie der Reihe nach über den Teppich in die Freiheit robbten, befestigte einer der Männer ein Laken im Türrahmen. Darauf hatten die zeichnerisch Begabten unter ihnen eine Tür gemalt, damit den Wachen nicht auffiel, dass die Baracke offen stand.
12 Minuten blieb ihnen für die ganze Aktion, jeder Mann bekam eine. Draussen im Dunkeln wartete der Lastwagen, der sie im Wald absetzte. 32 Kilometer vom Camp entfernt schlichen sich die Camerons im Schutze der Bäume in eine baufällige Hütte, in deren Schränken sie Kekse und Marmelade vorfanden, sogar Rasierer und Seife waren vorhanden – dafür hatte Virginia gesorgt.
Im Morgengrauen wachte ein von ausgestopften Puppen umgebener Fleuret auf. Bevor er drauflos brüllte, hatte er die Tür wieder verschlossen und Bégués Schlüssel weggeworfen. Sofort wurde Alarm geschlagen, Strassensperren errichtet, Brücken, Bahnhöfe und Boote kontrolliert. Die Fotos der Camerons wurden in ganz Frankreich verteilt – doch die gesuchten Männer blieben unauffindbar.
Gaby Bloch hatte sich auf Anraten von Virginia bereits ein Alibi verschafft, das sie nun, wo sie verhaftet wurde, vorweisen konnte. Sie befand sich während des Ausbruchs auf dem Heimweg von einem Treffen mit einem Vichy-Beamten, mit dem sie die Freilassung ihres Mannes besprochen hatte.
Virginia liess Germaines Freudenmädchen überall verbreiten, dass die zwölf Männer, die aus dem Mauzac-Gefängnis ausgebrochen waren, von einem britischen Flugzeug aufgelesen worden seien. Sie wollte den Eindruck erwecken, sie wären längst ausser Reichweite.
Und bald glaubte auch die Polizei daran. Die Camerons schafften es alle von Lyon über Spanien nach London zurück. Einige verbrachten ein paar Wochen in spanischen Gefängnissen, vier von ihnen wurden ausgezeichnete SOE-Kommandanten – und einer ging später nach Frankreich zurück. Doch nur die wenigsten von ihnen wussten darüber Bescheid, dass Virginia in jenem spektakulären Befreiungscoup Regie geführt hatte.
Auch die Gegenseite hatte nicht geschlafen. Die verwegenen Verführungskünste einer Doppelagentin mit dem Decknamen La Chatte hatten dazu geführt, dass ein gesamter Résistance-Zirkel in Lyon aufgeflogen war. Ein SOE-Agent war von ihrem grünen Augenpaar willenlos gemacht worden. Nun wusste die Abwehr, in welcher Stadt das Herz des alliierten Geheimdienstes zu finden war – und sie wusste auch, dass es einer humpelnden Frau gehörte, einer Engländerin oder Kanadierin, wie sie vermutete.
Selbst der Lyoner Gestapo-Chef Klaus Barbie war geradezu besessen vom Gedanken, der SOE endlich das Herz herausreissen zu können. Man nannte ihn hier bloss den Schlächter von Lyon. Seine brutalen Foltermethoden brachten ihm diesen Namen ein.
Den Frauen erging es bei einer Festnahme besonders schlecht. Manchen riss man die Fingernägel und die Brustwarzen mit Zangen aus. Viele wurden vergewaltigt und es wurde erzählt, dass Barbie dafür einen Hund benutzen würde.
Am 4. August 1942 tauchte ein Priester in schwarzer Robe in Dr. Roussets Praxis auf. Er stellte sich als neuer Kurier der Pariser Zelle vor. Er hätte wichtige Informationen für Virginia. Doch als sie seinen schweren deutschen Akzent vernahm, erstarrte sie. Er stamme aus dem elsässischen Grenzgebiet, das die deutschen 1940 annektiert hätten, versuchte er sie zu beschwichtigen. Sein Vater sei von den Deutschen erschossen worden. Und dass er in seinen Predigten das Dritte Reich verdammte, machte besonders auf Rousset Eindruck. Er kannte sonst keinen Priester, der den Mut hatte, den offiziellen Pfad der katholischen Mutterkirche zu verlassen, um die Résistance zu unterstützen. Und obwohl Virginia diesem Mann nicht ganz traute, nahm sie ihn in ihrem Zirkel auf – und gab ihm den Codenamen Bishop.
Dann begannen plötzlich Leute zu verschwinden. Sie teilte ihre Bedenken London mit, aber es war bereits zu spät. Der Maulwurf hatte sich bereits tief in ihren Bau eingegraben.
Sein richtiger Name war Robert Alesch und er gehörte zur Abwehr. Sein Vater war wohl auf und wohnte in Luxemburg, wo auch Robert einst geboren wurde. Nun hauste er in einem Acht-Zimmer-Apartment in der schicksten Gegend von Lyon, wo an den Wänden wertvolle Gemälde hingen, die er sich mit dem Geld aus der Baker Street gegönnt hatte.
Es dauerte nur ein paar Wochen, bis die gesamte Pariser Zelle zerstört war. Die Abwehr spielte Funkspiel mit London, sie gab Fehlinformationen weiter und war bald auch fähig, die kodierten SOE-Nachrichten zu knacken.
Inzwischen waren die Alliierten in Nordafrika gelandet. Und Pétain ignorierte die Bitten, sich doch noch auf die richtige Seite zu schlagen. Er befahl seinen rund 60'000 in Marokko, Algerien und Tunesien stationierten Soldaten, die Alliierten zurückzuschlagen.
Sobald Hitler erfuhr, dass der befehlshabende Admiral Darlan kapituliert hatte, befahl er das Unternehmen Anton – die Besetzung vom bislang «unbesetzten» Vichy-Frankreich.
Am 11. November um sieben Uhr morgens kam die Wehrmacht über die Demarkationslinie. Die Franzosen leisteten keinerlei Widerstand. In Lyon warf die Scheinarmee des zurückbeorderten Blenders Alain ängstlich ihre Waffen in den Fluss. Von nun an gab es keine Freie Zone mehr.
Virginia hatte zu diesem Zeitpunkt Lyon bereits verlassen. Noch wusste sie nicht, dass ihr Netzwerk infiltriert worden war und dass Klaus Barbie bereits ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt hatte – auf ihren Feldnamen Marie Monin. Ihren wahren Namen und ihre Nationalität kannte er noch immer nicht. Wütend soll er herumgeschrien haben:
Auf tausenden von Plakaten in ganz Frankreich prangte nun eine Zeichnung ihres Gesichts, darunter stand in Grossbuchstaben geschrieben: «Der gefährlichste Spion des Feindes: Wir müssen sie finden und zerstören!»
Doch Virginia war längst mit zwei Juden unterwegs über die Pyrenäen nach Spanien. Es gab Tage, an denen jener Weg sogar in Sommermonaten unpassierbar war. Nun war November, und Virginia kämpfte sich im Schneegestöber bis auf 2500 Meter Höhe durch die Gletscher und scharfen Kanten des Canigou-Massivs.
Hätte der Schlepper über ihre Behinderung Bescheid gewusst, hätte er sie niemals mitgenommen. Sie musste ihm schon mehr dafür zahlen, dass er eine Frau mitnahm. Also verbarg sie ihr Holzbein Cuthbert vor ihm, aus dem schon bald Blut quoll. Virginias Stumpf hatte sich in eine einzige klaffende Wunde verwandelt. Aber sie durfte nicht zurückfallen, der Schlepper hätte sie einfach mitten in jener trostlosen Schneelandschaft denen überlassen, die gekommen wären. Sei dies der Kältetod, die Wölfe, die Bären oder die Nazis.
Doch irgendwie überlebte Virginia auch das. Und mit ihrem kaputten Bein schleppte sie ihr schlechtes Gewissen mit sich, das am allerschwersten wog. Sie litt darunter, so viele gute Leute zurückgelassen zu haben.
Nur 48 Stunden nachdem die Nationalsozialisten die Freie Zone übernommen hatten, wurde Virginias Oberstleutnant Dr. Rousset im Pyjama von der Gestapo verhaftet. Man folterte ihn. Fragte ihn immer wieder nach Marie Monin, doch der Doktor schwieg.
Germaine Guérin war ins Frauen-KZ nach Ravensbrück deportiert worden. Man rasierte sie oben und unten und gab ihr die Nummer 39280.
Im Januar 1943 war Virginia wieder in London, wo sie auch von den Festnahmen ihrer Freunde erfuhr. Sie gab sich die Schuld dafür. Schliesslich war sie es gewesen, die Alesch trotz aller Bedenken Zugang zu ihrem Netzwerk verschafft hatte.
Die in Frankreich verbliebenen SOE-Agenten erhielten nun endlich den Befehl, Sabotageakte auszuführen. Die Zeit der Planung war vorüber, jetzt konnte mit der Vorbereitung für die Landung der Alliierten begonnen werden.
Ihre Zellen erhielten regen Zulauf, seit auch alle jungen Franzosen zwischen 19 und 32 Jahren für die deutsche Kriegswirtschaft abtransportiert wurden. Um jener Zwangsarbeit – offiziell nannte es sich Service du travail obligatoire (STO) – zu entrinnen, konnten sich die Männer nur verstecken und sich einer Résistance-Gruppe anschliessen.
Virgina wollte zurück. Auf diesen Moment hatte sie doch die ganze Zeit hingearbeitet und nun liess ihr Chef Buckmaster sie nicht gehen. Es sei zu gefährlich. Die Gestapo würde sofort davon erfahren.
Und tatsächlich wussten die Deutschen inzwischen alles über Virginia. So manch ein Widerstandskämpfer war nach Monaten Einzelhaft und alltäglicher Folter zusammengebrochen.
Präsident Roosevelt hatte mittlerweile das Office of Strategic Services (OSS) geschaffen, das amerikanische Pendat zum britischen SOE und MI6. Weil es ebenso dem Kriegsministeriums unterstand, wurde es zum direkten Konkurrenten des Heeresnachrichtendienstes (G-2) der Army und von Anfang an angefeindet.
Die USA hatten keinerlei ernstzunehmende Spionen-Vergangenheit und die OSS-Agenten waren eine bunte Kollektion aus Eliteuni-Jungs, Wall-Street-Brokern, Werbe- und Stuntmännern, die davon träumten, Östrogen unter Hitlers Essen zu mischen, damit er den Schnauz verliere. Der Leiter war der Major General William Donovan, Wild Bill genannt. Und er hatte bis jetzt nur eine Zelle in Frankreich vorzuweisen, während sein grosser britischer Bruder mit 30 aufwarten konnte.
Wild Bill brauchte dringend gute Agenten für den D-Day. Er brauchte Virginia. Und diese zögerte nicht. Wenn der Weg nach Frankreich über das OSS lief, dann schloss sie sich eben dem OSS an.
Am 21. März 1944 schlurft eine alte Frau am Strand von Guimaëc im Norden der Bretagne entlang. Ihr Haar ist grau und ihre Zähne schlecht. Unter dem Rock trägt sie eine Colt Automatic.
Virginia war wieder da – in der Rolle einer gebrechlichen französischen Bäuerin. Das OSS hatte sie zwar ebenso wie ihr ehemaliger britischer Arbeitgeber nicht mit einem Kommando, sondern wieder nur mit einem unfähigen und allzu schwatzhaften Vorgesetzten ausgestattet, doch davon liess sie sich auch dieses Mal nicht beirren.
Sie wusste, wozu sie fähig war, auch wenn man ihr noch immer nicht die ihr zustehende Autorität dafür geben wollte. Trotz all ihrer Erfolge und ihrer Erfahrung war sie eben noch immer eine Frau.
Allerdings eine, die nun eigenhändig eine Guerilla-Armee aufzubauen begann. Und das tat sie auch. Erst in einer kleinen Stadt im französischen Zentralmassiv, wo sie in einer Bauernhütte hauste und vom Dachgeschoss ins OSS-Büro nach London funkte. Sie hatte die Zeit in England dafür genutzt, eine Funkerausbildung zu absolvieren.
Die Gegend war wichtig für die bevorstehende Landung der Alliierten und so kundschaftete Virginia sie aus. Als Milchmagd. Auf ihren Touren warb sie Widerstandskämpfer an und in nur wenigen Tagen hatten sich vom Postboten bis zum Sekretär alle eingeschrieben.
Wenn sie die Kühe der Bauern auf die Weide brachte, fand sie die besten Plätze für Fallschirmabwürfe. Sie verkaufte den Deutschen sogar Eier und Käse und belauschte dabei ganz heimlich ihre Gespräche. Deutsch hatte sie als junge Frau während ihrer Universitätsjahre in Wien gelernt.
Ihr amerikanischer Akzent hingegen verunreinigte über all die Jahre ihr Französisch. Also nuschelte sie, damit man ihn nicht hörte. Es brauchte nur ein feines Naziohr – und ihre Deckidentität würde auffliegen.
Bald darauf wurde es tatsächlich zu gefährlich für Virginia, ihre Hütte wurde von ein paar Wehrmachtssoldaten durchsucht, sie konnte gerade noch ihr Funkgerät unters Sofa schieben.
Am nächsten Morgen steckten die Köpfe von vier Dorfbewohnern auf Spiessen in einer Blumenwiese an der Hauptstrasse. Es war eine Warnung. Und Virginia hatte sie verstanden.
Sie reiste weiter nach Sury-en Vaux im Département Cher. In dieser Zeit schlief Virginia nicht. Sie nahm Benzedrin, um durchzuhalten. Bis zum 2. Juni, so hiess es aus London, soll sie alle wichtigen Informationen zu den deutschen Truppenbewegungen, ihren Versogrungswegen, zu Strassen und Zuglinien durchgeben.
Und während in der Nacht auf den 6. Juni 5'300 Schiffe aller Grössen und Bauarten auf die französische Küste zusteuerten, gab Virginia ihren Leuten von Sury-ès-Bois aus den Befehl, mit den Sabotageakten zu beginnen. Diese schnitten daraufhin Telefonkabel durch, vertauschten Wegweiser, sprengten Schienen und Brücken und verteilten explosiven Pferdemist – eine Erfindung der SOE-Wissenschaftler – auf den Strassen. Bald hielten die deutschen Wagen vor jedem Misthaufen, um ihn erst eingehend zu untersuchen, bevor sie sich darüberzufahren trauten. Die Verzögerungen, die durch die ganzen Zerstörungsaktionen hervorgerufen wurden, waren immens.
Der französische Widerstand war viel erfolgreicher, als man zu hoffen gewagt hatte. Die Deutschen kontrollierten das Land nicht mehr, die Kommunikationslinien waren allesamt zusammengekracht.
Und die Alliierten waren auf dem Vormarsch. Ihre Wut und ihre Angst liessen die Nazis an unschuldigen Zivilisten aus. Ganze Dörfer löschten sie aus mit ihren Flammenwerfern.
Auf der Seite der Widerstandskämpfer wiederum herrschte überall akuter Waffenmangel. Und alle verlangten nach Virginia, der Frau, die die nötigen Besorgungen machen konnte. Sie war es, die entschied, welche Zellen mit Sten Guns, Munition und Sprengstoffen versorgt werden sollten. Ihre Verkleidung hatte sie aufgegeben. Sie war keine alte Bäuerin mehr, sie trug jetzt Hosen und tritt als die auf, zu der sie geworden war: eine 38-jährige, hartgesottene Guerilla-Führerin.
Virginias nächstes Ziel lag auf dem Hochplateau der Cevennen. In jener Gegend führte eine Hauptversorgungslinie der Deutschen entlang – und sie sollte dafür sorgen, diese zu blockieren.
Le Chambon-sur-Lignon lag dort oben, ein Städtchen, das wohl abgeschieden war von der Welt, aber dessen Bewohner stets die aufnahmen, die die Welt nicht mehr haben wollte. Vor 400 Jahren waren es die Hugenotten, die hier in den Bergen Zuflucht vor ihren katholischen Verfolgern fanden. Und nun waren es die jungen, vor der Zwangsarbeit fliehenden Männer und die Juden. Jede einzelne Familie in dieser Stadt riskierte ihr Leben, um mindestens einer Person Schutz vor den Nationalsozialisten zu gewähren.
Virginia klopfte an die Tür des Waisenhauses Abric. Betreut wurde es vom 24-jährigen August Bohny, der für die Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes arbeitete. Mit Hilfe der protestantischen Priester, der Lehrer, Ärzte und Bauern hier auf dem Plateau rettete er mindestens 3'000 junge Menschen vor den Gaskammern der NS-Vernichtungslager.
Sie suche den lokalen Maquis, teilte Virginia Bohny mit. Und morgens darauf wurde Pierre Fayol aus seinem Schlaf geweckt. Der Partisanen-Führer wartete schon länger auf Unterstützung der Alliierten. Doch dass man ihm eine Frau vorbeischicken würde, damit hatte er nicht gerechnet.
Als er ihr gegenüberstand, beantwortete er brav ihre Fragen, die im Schnelltempo auf ihn niederprasselten: Was ist Ihr Rang? Haben Sie Fallschirmabwurf-Zonen eingerichtet? Haben Sie 40 gute Männer zur Verfügung? Was brauchen Sie? Werden Sie meine Befehle ausführen, ohne Fragen zu stellen?
Fayol bejahte die letzte Frage, obwohl er nicht vorhatte, Virginias Anweisungen Folge zu leisten. Er wollte bloss die Waffen. Er gehörte zu den Männern, die ihr ihre Autorität übel nahmen. Und nicht nur das. Er und seine 200 Gefolgsleute waren Gaullisten. Sie trauten der Ausländerin nicht, die für die Alliierten arbeitete. Dieser sorcière rousse (rothaarige Hexe), die doch nichts als leere Versprechungen machte.
Fayols Schultern wurden noch immer von der demütigenden Last der französischen Kapitulation niedergedrückt. Wütend sah er dabei zu, wie die drei Grossen Stalin, Roosevelt und Churchill de Gaulle bei ihren Plänen einfach übergingen. Der britische Premier hatte den französischen General erst fünf Tage vor der Landung über die Invasion in der Normandie informiert. Wer würde wohl die Führung des Landes übernehmen, wenn das Land erst befreit war?
Und während sich die Gaullisten mit den Kommunisten in fast schon bürgerkriegsähnlichen Kämpfen gegenüberstanden, versuchte Virginia sie alle ihrem einen gemeinsamen Hauptfeind zuzuführen.
Dann endlich fiel in der BBC Frankreich der Satz «cette obscure clarté tombait des étoiles» – es war das Zeichen für die Waffenlieferung. In ein paar Stunden würden alle wissen, dass Virginia Wort gehalten hatte.
Sie trug für den Anlass eine Khaki-Hose und eine Armee-Jacke, an der ein Hauch eines sehr teuren französischen Parfums haftete. Bald hörten die Männer den Halifax-Bomber näherkommen, und sie hätten beinahe geschrien vor Freude. Als er über ihnen kreiste, ging die Luke auf und entliess die an Seidenfallschirmen hängenden Kisten. Zum Abschied neigte sich das Flugzeug leicht, um dann wieder in der Dunkelheit zu verschwinden.
Drei Tonnen Material mussten nun geräuschlos verladen und in die Safe Houses geschafft werden. Die Container schmissen die Männer in die nahe gelegenen Wasserfälle, aus den Seidenfallschirmen fertigten die Frauen Blusen. Endlich waren sie nicht mehr länger eine Horde vergessener Banditen. Sie waren zu einem Teil der Befreiungsarmee geworden.
Noch 21 weitere Abwürfe sollten diesem nachfolgen. Virginia hatte es geschafft. Dafür sollte sie fortan La Madone des Montagnes genannt werden.
Mittlerweile hatte sie 400 Männer unter sich, die sie in 5 Kompanien unterteilte und ausschickte, um die Eisenbahnlinie zwischen Saint-Étienne und Le Puy-en-Velay lahmzulegen und ganze Telefonlinien zu zerstören.
Allmählich gewann die Résistance die Kontrolle über das gesamte Haute-Loire-Département. Es waren Fabrikarbeiter, Schuljungen, Bauern und Lehrer, die sich mit Virginias Hilfe selbst befreiten, während es den Alliierten nach zahlreichen Bombardements schliesslich gelang, die verkehrsstrategisch wichtige Stadt Caen im Norden des Landes einzunehmen.
Was man zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste – und was für weitere 44 Jahre nicht aufgedeckt wurde – war die Tatsache, dass Virginias Beobachtungen als Milchmagd während ihrer Zeit in Zentralfrankreich und danach von den Amerikanern für die genaue Luftaufklärung der Gegend genutzt wurde. Sie hatte ihnen letztlich sogar dazu verholfen, einen Grossteil der deutschen 7. Armee im Kessel von Falaise ausfindig zu machen und dort einzuschliessen.
Jene Schlacht kostete die Wehrmacht an die 100'000 Soldaten – und brachte die Wende im Kampf um die Normandie. Die Wehrmacht erholte sich von den dort erlittenen Materialverlusten nicht wieder und die Alliierten waren anschliessend in der Lage, nach Paris vorzurücken.
Am 24. August 1944 wurde die französische Hauptstadt nach mehr als vier Jahren deutscher Fremdherrschaft befreit.
Und als die zwei zusätzlichen Agenten endlich eintrafen, waren die Kämpfe in der Region bereits alle gewonnen. Dafür war mit Paul Goillot die Liebe in Virginias Leben getreten. Er war acht Jahre jünger und 15 Zentimeter kleiner als sie. Aber er fühlte sich niemals von ihr bedroht. Er tat, was sie von ihm verlangte und brachte sie dabei zum Lachen.
Am 10. September etablierte De Gaulle seine Regierung der «nationalen Einheit». Ausländer waren nicht mehr länger erwünscht und selbst die Partisanen warteten vergeblich auf eine Anerkennung ihres Kriegsbeitrags. Allein De Gaulle und seine Freien Französischen Streitkräfte (FFL) sollten als die Befreier Frankreichs gelten.
Virginia erhielt den Befehl, nach London zurückzukehren. Sie hatte gemeinsam mit Paul bereits eine eigene, 21-köpfige Guerilla-Truppe zusammengestellt. Sie alle wollten unter Virginias Kommando weiterkämpfen gegen heimkehrende Nazis, von denen einige noch immer mordend durchs Land zogen. Doch es war zu spät.
Die Sabotageakte der Résistance hätten acht deutsche Divisionen von den Schlachtfeldern der Normandie ferngehalten und den Krieg in Europa um mindestens neun Monate verkürzt, wird Präsident Eisenhower später sagen. Jetzt aber brauchte man Virginias Hilfe nicht mehr.
Am 25. September 1944 war sie wieder in London – und Paul sollte er ihr bald darauf nachfolgen.
Das OSS schlug seine beste Agentin für das Distinguished Service Cross vor, die zweithöchste US-amerikanische Auszeichnung nach der Medal of Honor. Dafür mussten aber erst genaue Erfahrungsberichte über sie eingeholt werden.
Vielleicht lag es daran, dass sie nun keine Bedrohung für seinen Stolz oder seinen Status mehr darstellte, aber als zwei OSS-Mitarbeiter im Dezember 1944 Pierre Fayol auf dem Hochplateau der Cevennen besuchten, sprach er plötzlich ganz anders von Virginia. Voller Bewunderung erzählte er den Männern von dem aussergewöhnlichen Mut dieser Madonna der Berge, von ihrer bedingungslosen Hingabe an den französischen Freiheitskampf. Hier oben wisse man sehr gut, was man ihr zu verdanken habe.
Zehn Jahre lang wird dieser Mann weiter seine Nachforschungen über Virginia anstellen. Er wird hunderte Briefe schreiben, nach Lyon, Paris, London und New York fahren, um mehr über sie zu erfahren. Und 1990 wird er sogar ein Buch schreiben: «Le Chambon-sur-Lignon sous L'Occupation». Pierre Fayol wird Virginia ein Denkmal setzen. Auch wenn das offizielle Frankreich ihre Heldentaten lieber vergass – zur Zeit würden sie bloss den Mythos der französischen Selbstbefreiung bedrohen.
Virginia selbst wollte im Grunde überhaupt keine Ehrung. Und schon gar keine in der Öffentlichkeit. Sie würde schliesslich weiter auf geheime Missionen gehen. Und so fand die Verleihung im Büro des OSS-Chefs Bill Donovan statt, nur in Anwesenheit des neuen Präsidenten Harry S. Truman und ihrer Mutter.
Nicht einmal Paul war dabei, vielleicht, weil es Mrs. Hall missfiel. Sie war mit dieser Beziehung nicht einverstanden. Virginia hatte nicht geheiratet, keine Kinder zur Welt gebracht. Nun war sie verbraucht aus dem Krieg zurückgekehrt und schleppte überdies noch diesen Niemand Paul an. Und die Rebellin, die eben noch einen Widerstandskampf befehligt hatte, wagte nicht, die Wünsche ihrer Mutter zu übergehen. Sie verliess Paul nicht, aber sie hielt ihre Liebe geheim. Bis sie ihm, zwölf Jahre später, mit 51 Jahren, doch noch das Ja-Wort gab.
Auch wenn Virginia keinerlei Anerkennung für ihren Dienst forderte, so kämpfte sie für diejenige ihrer Mitstreiter, die in Frankreich vergeblich auf staatliche Unterstützung warteten. Sie bekamen bloss zu hören, sie hätten illegal für eine fremde Regierung gearbeitet.
Als sie abermals die Dörfer auf dem Hochplateau besuchte, war sie bestürzt. Madame Labourier, die ihr Unterschlupf gewährt hatte, besass keine Möbel, kein Geld, nicht einmal Kleider. Den Fetzen, den sie am Leib trug, hatte sie aus dem Strohsack ihres Konzentrationslagers geschnitten. Virginia flehte London an, ihren Leuten wenigstens eine kleine Kompensationszahlung zu leisten.
Lyon war fast nicht wiederzuerkennen. Der amerikanische Bombenhagel vom Mai 1944 hatte die Stadt verwüstet. 1000 Zivilisten waren dabei umgekommen und die, die den Krieg überlebt hatten, huschten als gebeugte Schatten durch die Ruinen ihres früheren Lebens.
Das, was von Germaine Guérin aus dem KZ Ravensbrück zurückgekommen war, war leer und fahl. Die Freude war aus ihren Augen gewichen und ihre einst so dunklen Locken waren schlaff und mit grauen Flecken übersät.
Ihre Freudenmädchen waren ganz verschwunden. Die Prostituierten wurden nach dem Krieg der «horizontalen Kolllaboration» beschuldigt, ganz egal, auf welcher Seite sie gestanden hatten. Niemand interessierte sich für ihre Geschichten. Dass die meisten gezwungen waren, auf die Strasse zu gehen, weil ihre Männer nicht wieder aus dem Krieg zurückgekehrt waren. Und dass einige von ihnen unter Todesgefahr ihre deutschen Kunden ausgehorcht oder mit Infektionen angesteckt hatten.
Aber nach dem Krieg wollte sich niemand mit allzu komplexen Formen von Mut beschäftigen. Es gab nur schwarz und weiss. Es gab die Guten und die Bösen. Und an den Bösen wurde Rache geübt.
Dr. Rousset war nicht viel mehr als ein Skelett, als er Virginia die Tür öffnete. Er war einer der sogenannten Nacht-und-Nebel-Gefangenen im KZ-Buchenwald gewesen. So nannte man Widerstandsführer in von der Wehrmacht besetzten Gebieten, die auf Hitlers Geheiss nach Deutschland verschleppt worden waren ohne Recht auf Nachrichten. Sie sollten einfach in der Dunkelheit verschwinden.
Rousset tauchte nach 18 Monaten wieder auf. Aber er war nicht mehr derselbe. Als Lagerarzt bleiben ihm die Experimente, die Epidemien und die Folgen der Zwangsarbeit nicht verborgen. Und er hatte einige seiner Freunde gesehen, wie sie aufgespiesst an Metzgerhaken hingen. Dieselben Schuldgefühle, die Virginia plagten, nagten auch am dürren Körper des Doktors. Sie hätten Alesch niemals vertrauen dürfen. Damit hatten sie dem Priester in der schwarzen Kutte Zutritt zu ihrer Zelle verschafft und so mindestens 80 ihrer Mitstreiter ins Verderben gestürzt.
Alesch selbst hatte sich inzwischen nach Brüssel abgesetzt. der ehemalige Abwehr-Agent hatte einen gefälschten Brief des Erzbischofs von Paris dabei. Darin wurde er als guter Priester empfohlen, der sich um Gefangene und Deportierte gekümmert hatte.
Er überzeugte auch seine neuen Arbeitgeber, niemand verspürte das Bedürfnis, seine Vergangenheit zu prüfen. Als ihm dann aber das amerikanische Counter Intelligence Corps (CIC) auf den Fersen war, stellte er sich selbst. Er hoffte, so der französischen Justiz zu entrinnen.
Alesch spielte den Unschuldigen, er sei gezwungen worden, für die Nationalsozialisten zu arbeiten, nachdem diese seine Résistance-Aktivitäten entdeckt hätten. Ein anderer habe Viginias Netzwerk infiltriert. Er könne Namen nennen, liesse man ihn nur gehen.
Doch dieses Mal kam er nicht davon. Dank Virginias ausführlichem Bericht kannte man die Wahrheit – und er wurde Paris übergeben.
Zur selben Zeit begann dort auch der Prozess gegen den 91-jährigen, inzwischen dement gewordenen Marschall Pétain, dessen Todesurteil später in lebenslange Haft abgeändert wurde.
Alesch hingegen sah am 25. Februar 1949 seinem Erschiessungskommando entgegen. An einer Wand des Fresnes-Gefängnisses stehend, eben dort, wo so viele seiner Opfer ermordet worden waren.
Im Januar 1946 gründet Präsident Truman die Central Intelligence Agency (CIA) – und Virginia wird ihre erste weibliche Mitarbeiterin.
Doch die CIA-Jahre waren schwer für die Kriegsheldin. Wieder traute man ihr nichts zu, wieder stülpte man ihr das alte Rollenbild über, das auch in den 50ern keinerlei Staub ansetzte. Wieder hiess es, Frauen seien zu emotional, zu wenig objektiv und zu wenig aggressiv für den Geheimdienst. Wieder fand sie sich am Schreibtisch, wo sie nun zum Tippen saubere weisse Handschuhe tragen musste.
Ihr Talent und ihre Erfahrungen wurden an unwichtige Büroarbeiten verschwendet, während man unfähige Bürokraten auf Mission in Übersee schickte. Niemand wusste, was mit Virgina zu tun sei. Sie schien jene neue Generation von nicht kämpfenden Agenten zu beschämen.
Noch schlimmer war nur die Tatsache, dass ihre antikommunistische Regierung ganz heimlich damit angefangen hatte, unter dem Decknamen Operation Paperclip deutsche Wissenschaftler, Techniker und Agenten für ihre Zwecke zu rekrutieren. Und dies ganz unabhängig davon, welcher Verbrechen sie sich im Krieg schuldig gemacht hatten. Auch der Lyoner Gestapo-Chef Klaus Barbie, der in Frankreich 1947 in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war, wurde als Agent für den CIC angeheuert – und entging auf diese Weise seiner Auslieferung an das Land, in dem er so viele von Virginias Freunden grausam gefoltert und getötet hatte.
Bis ins Jahr 1987 sollte der Schlächter von Lyon noch ungestraft in Freiheit zubringen. Mit amerikanischer Hilfe wird er über die Rattenlinie nach Bolivien gelangen, wo er für das Innenministerium arbeitet. Er wird einen Mordanschlag des Mossad überleben und im Alter von 77 Jahren in französischer Haft an Krebs sterben.
Dennoch schaffte es Virginia irgendwie, ein Stück Frieden zu finden. Ihren Lebensabend verbrachte sie gemeinsam mit ihrem Mann Paul in Barnesville, Maryland, wo die beiden in einem grossen französischen Landhaus wohnten. Bewacht wurde es von aggressiven Gänsen, deren Lebern sie zuweilen zu Foie gras verarbeiteten, während sie aus der Milch ihrer Ziegen Käse herstellten.
Allmählich schwanden Virginias Kräfte, sie sass viel in ihrem Sessel am Fenster und fütterte ihre fünf französischen Pudel, die sich im Halbkreis um sie herum setzten. Hier löste sie auch Kreuzworträtsel und las Spionageromane. Nur ihre eigene Geschichte wollte sie nicht aufschreiben. Virginia schwieg bis zum Ende – sie hatte zu viele Kameraden sterben sehen, weil sie geredet hatten.
Am 8. Juli 1982 stirbt sie mit 76 Jahren.
Danke Anna.