In Oscar Wildes Roman «The Picture of Dorian Gray» bleibt der Held immer jung und schön, nur sein Porträt altert. Das führt dazu, dass er immer grausamer und schliesslich wahnsinnig wird. Philipp Blom dient Gray als Metapher für den Zustand des Liberalismus. Wie Gray «konnte er nur deshalb so lange schön bleiben, weil er die Hässlichkeit seines Lebens verstecken konnte», stellt der Historiker fest.
In seinem Buch «Was auf dem Spiel steht» zeichnet Blom ein düsteres Bild des Liberalismus: Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist weg, man lebt in der Gegenwart und klammert sich an das, was man hat. Die protestantische Arbeitsethik zerbricht, weil die Arbeit selbst unsicher geworden ist. Und: «In einer Gesellschaft, in der Arbeit obsolet ist, sind auch die Menschen obsolet.»
Der Reiz der Konsumgesellschaft ist verblasst, die Menschen sind auf der Suche nach Sinn. Die Einsicht, dass die Grenzen des Wachstums erreicht sind, wächst. «Wirtschaftswachstum, das auf Ausbeutung beruht – dieses Geschäftsmodell ist längst an seine Grenzen gelangt. Der Planet, auf dessen äusserster Kruste wir unsere Existenz bestreiten, scheint nicht mehr willens zu sein, unsere Kapriolen zu ertragen», so Blom.
Obwohl wir wissen, dass Klimaerwärmung und wachsende Ungleichheit zu einer existenzbedrohenden Gefahr für die Menschheit geworden sind, scheinen wir unfähig zu sein, etwas dagegen zu unternehmen. Stattdessen verharren wir in einem Zustand, den Blom wie folgt beschreibt: «Ich habe hart gearbeitet, um mir das bisschen zu erkämpfen, was ich habe. Das habe ich mir verdient, ich habe dafür kostbare Lebenszeit aufgebracht. Das gebe ich nicht wieder her. Ich kenne meine Rechte.»
Auf der Strecke bleibt die Hoffnung, denn «es ist schwer, hoffnungsvoll zu sein, wenn Hoffnung dumm erscheint.»
Die Kritik am Liberalismus ist nicht neu. Theodor Adorno, Max Horkheimer, Michel Foucault oder Jacques Derrida, sie alle haben darauf hingewiesen, dass der Liberalismus auch seine Antithese in sich trägt; dass «die alles befreiende Aufklärung schon den Keim von totalitärer Herrschaft und Massenmord in sich trage, dass auch das Narrativ von Fortschritt und Vernunft nichts weiter sei als eine Maske der Macht», wie sich Blom ausdrückt.
Diese Maske wird dem Liberalismus nun vom Gesicht gerissen. Ein ausgewachsener Faschismus wie in den Dreissigerjahren ist zwar derzeit nicht zu erwarten, ganz einfach, weil wir zu reich sind. Es entsteht jedoch eine Art Halbbruder, den Blom Nationalpopulismus nennt. «Es ist wesentlich konstruktiver, den Nationalpopulismus nicht als eine Art Faschismus anzusehen, sondern zu erkennen, dass beide aus demselben Holz geschnitzt sind. Wenn man diesem Stamm bis an die Wurzeln folgt, zeigt sich ein grösseres Phänomen: die Rebellion gegen die alles zermalmende Moderne.»
Die Folge ist ein Aufstand gegen eine vermeintliche Elite. Dabei finden seltsame Weggefährten zusammen. Steve Bannon, Wladimir Putin, Recep Erdogan oder Narendra Modi: Sie alle verfolgen letztlich das gleiche Ziel. Sie wollen eine nationalpopulistische Festung gegen den Liberalismus errichten. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie jüdisch-christliche, islamische oder hinduistische Werte verteidigen. Sie alle bekämpfen Abtreibung, Homosexualität und Hedonismus und verteidigen, was sie für traditionelle Familienmodelle halten.
Wie schon bei Jean-Jacques Rousseau wird die Volksgemeinschaft zur Alternative des Liberalismus. «Es wird eine echte Gemeinschaft sein, die den Einzelnen Zugehörigkeit und Geborgenheit bietet, ein Leben im Einklang mit Gottes Willen, der kulturellen Tradition, den Gesetzen der menschlichen Natur. Die Menschen werden endlich ihr Land zurückbekommen, die Kontrolle über ihr Leben», stellt Blom fest.
Ein Sieg des Nationalpopulismus – man könnte ihn auch «Faschismus light» nennen – wäre das Ende der Demokratie. Um das zu verhindern, braucht es gemäss Blom eine grosse Umwälzung. Er entwickelt dazu ein fiktives Szenario:
Am Anfang steht ein Schock, der zur Erkenntnis führt, dass wir radikal umdenken müssen. «Die ersten Tage sind chaotisch» schreibt Blom. «Religiöse Führer rufen öffentlich zur Busse auf und halten Prozessionen und Bittgebete ab.» Allmählich beginnen die Menschen, vernünftig zu handeln. Es wird beschlossen, vollständig aus der Nutzung fossiler Brennstoffe auszusteigen. Konsumgüter werden zu Preisen verkauft, die ihren echten Kosten entsprechen, und sie werden recycliert.
Dank 3D-Druckern findet die industrielle Produktion wieder dort statt, wo die Güter gebraucht werden. Die Konsumgewohnheiten ändern sich, Fleisch wird zu einem Luxusgut. Weil in der Arbeitswelt immer mehr Roboter eingesetzt werden, wird ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt. Arbeit ist nicht mehr mühsame Pflicht, sondern Spass, etc.
Allmählich entstehen so eine neue Wirtschaftsordnung und ein neuer Menschentyp. «Nach 20 Jahren wird die erste Generation derer erwachsen, die nie etwas anderes gekannt haben als die Welt nach der grossen Umwälzung», so Blom. Sie haben ganz andere Gewohnheiten und Haltungen als ihre Eltern. Sie sind Transformation Natives. Eine von ihnen studiert Geschichte und wird später über das frühe 21. Jahrhundert schreiben. Sie ist fasziniert von einer Gesellschaft, die glaubte, ohne Zukunft und ohne Hoffnung überleben zu können.»