Meine Hände und Füsse sind furchtbar kalt, ich verspüre einen Druck auf meiner Brust und wenn ich ausatme, steigt Dampf aus meinem Mund auf. Die Fensterscheiben der Autos sind zugefroren und die Leute schauen mich an, als würden sie denken: «Die spinnt ja wohl!» Was ich hier tue? Ich betreibe Frühsport bei Temperaturen rund um den Gefrierpunkt.
«Das kann doch nicht gut für die Lunge sein, wenn die Luft so kalt ist», ermahnt mich ein Kollege, bevor ich den Selbsttest starte. Ein anderer hat das Experiment auch schon mal gewagt: «Irgendwie tat das aber weh beim Atmen, also habe ich's wieder gelassen», berichtet er. Doch was passiert mit dem Körper, wenn man bei Minustemperaturen draussen Sport treibt? Setzt man sich dabei einem Risiko aus?
Antworten finde ich im Lungenzentrum Hirslanden in Zürich. Dort führt die leitende medizinisch-technische Assistentin Clarissa Ott früh am Morgen einen Lungenfunktionstest mit mir durch. Anschliessend schickt sie mich nach draussen, um joggen zu gehen.
Zwar treibe ich regelmässig Sport – Joggen gehört trotzdem nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Entsprechend besitze ich keine Profi-Ausrüstung. Der Lagen-Look muss die Sache richten: Ein T-Shirt, darüber ein Longsleeve, darüber eine Fliess-Jacke und ein Schal. Eine eng anliegende Laufhose, die bis zu den Knien geht, darüber eine lange Sporthose. Ein Stirnband soll meine Ohren vor dem Erfrierungstod retten. An Handschuhe habe ich natürlich nicht gedacht – was ich schon bald bereuen werde.
Die ersten paar Meter fühlen sich an wie an jedem anderen Tag. Doch nach wenigen Minuten merke ich, dass mir zwar insgesamt warm wird, meine Hände und Füsse aber immer kälter werden. Die eisige Luft frisst sich gnadenlos durch Schuhe und Socken – an den fehlenden Handschuhen bin ich wie gesagt selber Schuld. Ausserdem verspüre ich einen leichten Druck auf der Brust. Dieser ist zwar gut auszuhalten, aber ungewohnt. Jetzt bloss nicht aufgeben!
Da ich mich rund um das Klinikgelände nicht auskenne, kommt es, dass der erste Teil meiner Strecke praktisch nur bergauf geht. Das macht zwar nicht sonderlich viel Spass, hat aber seine Vorteile: Als ich nach etwas mehr als einem Kilometer oben ankomme, freue ich mich über einen tollen Blick über den Zürichsee und noch mehr darüber, dass inzwischen sogar meine Hände und Füsse warm geworden sind. Der Druck auf der Brust ist ebenfalls verschwunden. Rund zehn Minuten Zähne-Zusammenbeissen hat sich also gelohnt.
Die restliche halbe Stunde laufe ich kreuz und quer durch das Wohngebiet rund um die Klinik und überraschenderweise merke ich nun kaum mehr einen Unterschied zu Tagen, an denen das Thermometer mildere Temperaturen anzeigt.
Als ich nach einer knappen Dreiviertelstunde ins Lungenzentrum zurückkehre, führt die leitende medizinisch-technische Assistentin Ott die gleichen Tests noch einmal mit mir durch. Anschliessend treffe ich Jürg Barandun, Facharzt für Lungenkrankheiten und Innere Medizin. Er soll mir erklären, welche Auswirkungen die Kälte auf meinen Körper hat. Doch als ich sein Büro betrete, erwartet mich dort noch eine weitere Person – Spitzensportler Kariem Hussein hat sich zu uns gesellt, um mir ebenfalls ein paar Fragen zu beantworten.
Hussein hat bei der Europameisterschaft 2014 über 400 Meter Hürden die Goldmedaille abgeräumt und wurde «Newcomer des Jahres». Ausserdem studierte er Medizin und hat damals ein Praktikum am Lungenzentrum Hirslanden gemacht.
Die Testergebnisse zeigen, dass meine Lungenfunktion nach dem Lauf etwas abgenommen hat. Am Morgen lag sie bei 98 Prozent, nach dem Lauf sind es noch 93 Prozent. «Das bedeutet, dass sich die Bronchien etwas zusammengezogen haben. Das ist eine minimale asthmatische Reaktion», erklärt Barandun.
Wie kommt es, dass ich davon selber nichts gespürt habe? Eine solche geringe Reaktion zeigen laut Barandun sehr viele Leute. «Doch erst, wenn Symptome auftauchen – eine Person also nicht mehr gut atmen kann und dadurch eingeschränkt ist – spricht man von einem Leistungsasthma.» Dieses liesse sich mit einem inhalativen Mittel relativ einfach beheben. Eine Methode, die auch Spitzensportlern erlaubt ist, wenn ein solches Asthma vom Arzt attestiert wurde.
In meinem Fall lassen sich die veränderten Werte möglicherweise durch meine Pollen- und Katzenhaar-Allergie erklären: «Die gleiche Reaktion, die Ihre Lunge bei Kontakt mit Pollen oder Katzenhaaren zeigt, zeigte sie jetzt durch die Kälte. Die Schleimhäute schwellen an und die Lunge zieht sich zusammen.»
Bei mir löst die Kälte also eine Veränderung der Werte aus. Geschadet hat mir der Lauf dennoch ganz sicher nicht: «Es gibt eine Studie, die gezeigt hat, dass Outdoor-Sport bei zu niedrigen Temperaturen Asthma fördern kann. Aber da reden wir von −15 bis −20 Grad», erklärt Barandun. Ein gesunder Mensch könne also ohne Bedenken bei bis zu −10 Grad draussen Sport treiben, ohne sich einem grösseren Risiko auszusetzen.
Dabei gelte es jedoch, einige Dinge zu beachten: Damit die Extremitäten nicht zu kalt werden, sollte man unbedingt Handschuhe und Mütze tragen (also nicht so wie ich). Zudem kann die Kälte zu Hautausschlag führen. Auch dagegen hilft die richtige Kleidung. Wichtig ist ausserdem ein ordentliches Warm-up und: Nicht gleich Vollgas geben. Ein kleines Restrisiko bleibt: «Die kalte Luft kann die lokalen Abwehrkräfte reduzieren: So kann es passieren, dass man sich leichter erkältet», so der Facharzt für Lungenkrankheiten.
Und woher kam der Druck auf meiner Brust? «Bei einem gesunden und fitten Menschen wie Ihnen hat das weder etwas mit dem Herz noch mit der Lunge zu tun. Wahrscheinlich waren Sie nicht warm genug angezogen, sodass sich die Muskeln in dem Bereich zusammengezogen haben.»
Mit meinem Laufergebnis bin ich soweit ganz zufrieden. Normalerweise jogge ich aber im Durchschnitt etwas schneller. Lag das an meiner Tagesform oder kann ich der Kälte die Schuld in die Schuhe schieben? Leistungssportler Kariem Hussein teilt meine Meinung: «Ich habe auch das Gefühl, dass ich bei Kälte etwas weniger leistungsfähig bin.»
Kurze, schnelle Läufe trainiert der Leichtathlet zwar im Laufkanal – also indoor – dennoch kommt auch er nicht drum rum, in der Kälte Sport zu treiben. «Im Winter trainiere ich viel auf längeren Strecken, die langsamer gelaufen werden. Wenn es wieder auf den Sommer zugeht, werden die Strecken kürzer und schneller», erklärt Hussein. Mit der richtigen Ausrüstung bereite ihm die Kälte aber keine Probleme.
«Viele Sportler haben das Gefühl, dass sie langsamer sind, wenn es kalt ist. Aber beim Wettkampf kannst du die Bedingungen auch nicht bestimmen», so Hussein. Bei seinem Finallauf bei der Europameisterschaft sei es mit 14 Grad auch verhältnismässig kalt gewesen. «Am Ende muss man die Bedingungen nehmen, wie sie kommen.»