Normalerweise fühlen sich Menschen am Boden eher unbehaglich, wenn sie einen Bomber am Himmel ausmachen. Doch am 6. Oktober 1976 herrschte ausgelassene Stimmung, als eine Maschine vom Typ B-29 über das Flugfeld von Harlingen im US-Bundesstaat Texas flog.
Begeisterung brach schliesslich unter den fast 20'000 Zuschauern aus, als auf der Erde ein Lichtblitz zuckte – und sich nach der Explosion hohe Rauschschwaden ähnlich einem kleinen Atompilz in die Luft erhoben.
Diese Ähnlichkeit war kein Zufall, genauso wenig wie die Ausgelassenheit unter den Besuchern der Flugschau. Denn am Steuer der B-29 hatte mit Paul Tibbets ein in den USA als Held verehrter Veteran des Zweiten Weltkriegs gesessen.
Im fernen Japan sprach man den Namen Tibbets hingegen eher mit Schaudern aus: Es war Tibbets, der am 6. August 1945 den B-29-Bomber «Enola Gay» beim Angriff auf Hiroshima befehligt hatte. Beim ersten Atombombeneinsatz der Menschheitsgeschichte war die Stadt im nuklearen Inferno vernichtet worden.
In den frühen Morgenstunden des besagten August-Tages war Tibbets mit seiner Besatzung auf der Marianen-Insel Tinian gestartet. Die «Enola Gay» hatte der Oberst nach seiner Mutter benannt: Aus Dankbarkeit, denn ohne ihre Hilfe wäre Tibbets wohl kein Pilot geworden.
Tibbets, ein Liebhaber der Tabakpfeife, vertrieb sich die Zeit auf dem langen Flug durch die Weiten des Pazifiks mit Rauchen. Nebenbei machte sich die Besatzung allerlei Gedanken, denn an Bord beförderte sie die bis dahin tödlichste Fracht aller Zeiten: die Atombombe «Little Boy».
Aus diesem Grund war die Crew zuvor einem rigorosen Training in Utah unterworfen worden. Immer wieder warfen dort ausgewählte Bomber-Mannschaften ihre Last aus gut neun Kilometern Richtung Erde ab.
Vorgabe war, das Ziel auf wenige Meter genau zu treffen. Aber das war nicht alles: Um angesichts der entfesselten Vernichtungskraft einer Atombombe zu überleben, mussten die Piloten zugleich waghalsige Manöver erproben, um eiligst die Gefahrenzone hinter sich zu lassen.
Tibbets, 1915 im US-Bundesstaat Illinois geboren, war aus zwei Gründen zu der Elitetruppe versetzt worden: Erstens galt er als ausgezeichneter Pilot, der zuvor zahlreiche Einsätze gegen das Deutsche Reich geflogen war. Zweitens hatte er die Zuverlässigkeitsprüfung durch die zuständigen Stellen überstanden.
So konnte Tibbets am 6. August 1945 schliesslich die Ungewissheit der Besatzung der «Enola Gay» über ihre Mission auflösen. Am Morgen klärte er die Männer auf, indem er das Angriffsziel nannte: «Hiroshima».
Um 8.15 Uhr überflog der Bomber in besagten neun Kilometern Höhe die Stadt – und warf «Little Boy» ab. In gut 600 Metern explodierte die Atombombe. Es war der Augenblick, in dem mindestens 70'000 Menschen von einem Moment zum anderen aufhörten zu existieren. Rund 13 Kilometer schraubte sich allein der Atompilz in die Höhe.
«Jungs, ihr habt gerade die erste Atombombe der Geschichte abgeworfen!», frohlockte Tibbets derweil an Bord der «Enola Gay». Nach dem Abwurf von «Little Boy» war der Pilot eine scharfe Kehre geflogen, um der eigenen Vernichtung zu entkommen. Um der Erblindung angesichts des Gleissens der Detonation zu entgehen, hatte jeder zudem eine Schutzbrille angelegt.
Während Tibbets begeistert war, herrschte unter seiner Besatzung eher Entgeisterung. «Was haben wir getan?», notierte Co-Pilot Robert A. Lewis, Sergeant Robert H. Shumard rang später um Worte: «Da war nichts als Tod in dieser Wolke.»
Wohlbehalten kehrte die «Enola Gay» nach Tinian zurück. Während dort gefeiert wurde, herrschte im fernen Hiroshima das Grauen. Shigemi Ideguchi, der als Soldat in der Stadt stationiert war, wollte ein Mädchen aus dem Feuer retten. «Ihre Haut löste sich bis zum Ellenbogen ab», erinnerte er sich in seinem Buch. «Singvögel und Raben waren auch nicht mehr da.»
Zehntausende waren allein bei der Explosion von «Little Boy» gestorben, viele weitere sollten in den nächsten Wochen und Monaten folgen. Sie starben an den Folgen der Strahlung, der sie ausgesetzt waren.
Bei den Amerikanern herrschte hingegen Irritation. Angesichts der Zerstörung einer ganzen Stadt durch eine einzige Bombe hatten die US-Streitkräfte mit der sofortigen Kapitulation Japans gerechnet. Tatsächlich war den Offizieren des Kaisers sehr bewusst, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Am 9. August fand eine entsprechende Unterredung im Palast statt. Noch bevor diese ihr Ende fand, detonierte eine weitere Atombombe über Japan. «Fat Man» löschte die Hafenstadt Nagasaki aus, erneut starben Zehntausende.
Tibbets und der Mannschaft der «Enola Gay» kam aber das zweifelhafte Verdienst zu, die erste Atombombe der Welt im Krieg eingesetzt zu haben. Immer wieder wurde der Pilot in den folgenden Jahrzehnten befragt, wie er sich angesichts der vielen Umgekommen fühle. «Ich hatte nie eine schlaflose Nacht, nur weil ich die Bombardierung befehligte», bekannte Tibbets.
Kein Wunder, dass er 1976 auch wenig Skrupel hatte, den Angriff auf Hiroshima nachzuspielen. In Japan kam es hingegen zu Protesten. Als «Beleidigung der ungezählten Toten» bezeichnete Hiroshimas Stadtoberhaupt Tibbets «Auftritt» in Texas. Zumal in Japan immer noch Menschen an den Folgen des Atombombenabwurfs starben.
US-Präsident Gerald Ford bat die japanische Regierung um Verzeihung für Tibbets Verhalten. Was diesen wenig beeindruckte: 1977 wollte der Todespilot das Spektakel noch einmal veranstalten – bis er von der Politik daran gehindert wurde.
Während Hiroshima und Nagasaki weltweit zu Symbolen für den Schrecken eines Atomkriegs wurden, hielt Tibbets an seiner Überzeugung fest, am 6. August 1945 das Richtige getan zu haben. 2007 verstarb er schliesslich in Ohio nach einer langen Laufbahn als Offizier und später als Führungskraft einer Fluggesellschaft.
Theodore Van Kirk, ehemaliger Navigator an Bord der «Enola Gay», äusserte zwei Jahre zuvor gegenüber dem «Spiegel» seine ganz persönliche Lehre aus dem Geschehenen: «Ich glaube, Leute, die Krieg anfangen, sind verrückt.»