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«Heute wir, morgen ihr» – die Zeugnisse der Holocaust-Überlebenden

Ghetto Litzmannstadt im deutsch besetzten Polen, 1942: In ihrem Buch hat Andrea Löw zahlreiche Zeugnisse deportierter Juden zusammengetragen. (Quelle: LEONE/Walter Genewein/imago-images-bilder)
Ghetto Litzmannstadt im deutsch besetzten Polen, 1942: In ihrem Buch hat Andrea Löw Zeugnisse deportierter Jüdinnen und Juden zusammengetragen.Bild: imago-images.de

«Heute wir, morgen ihr» – die unfassbaren Zeugnisse der Holocaust-Überlebenden

Die Nationalsozialisten ermordeten Millionen Jüdinnen und Juden, bis das Töten am 8. Mai 1945 endete. Ein neues Buch schildert die Grausamkeit von Deportationen und Massenmord – basierend auf Schilderungen der Verfolgten.
08.05.2024, 17:5508.05.2024, 21:26
Marc von Lüpke / t-online
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t-online

Ein Zug aus dem fernen Hamburg kam im November 1941 in Minsk an. Die Ankömmlinge erwartete im Ghetto der belarussischen Hauptstadt das Grauen: «Überall war Blut, und auf den Öfen und Tischen stand noch das Essen», hat Heinz Rosenberg geschildert, was er damals sah. «Hunderte von Leichen bedeckten den Boden.»

Was war geschehen?

«Platz schaffen» durch Massenmord, so lautet die zynische Antwort. Für die Transporte mit aus Deutschland deportierten Juden hatten die Nationalsozialisten zuvor die einheimische jüdische Bevölkerung umgebracht.

Schock und Sprachlosigkeit empfingen die neu Angekommenen – und die grausame Ahnung, welches Schicksal sie selbst erwarten sollte.

«Heute wir, morgen ihr», beschied ein überlebender Jude des vorigen Massakers der aus Deutschland verschleppten Erna Steiniger nach ihrer Ankunft im Ghetto.

Im Falle von Erna Steiniger erwies sich diese Prophezeiung als falsch: Sie überlebte Minsk und eine Odyssee durch zahlreiche deutsche Konzentrationslager, darunter Majdanek, Auschwitz und Ravensbrück. So viele andere Deportierte kostete der von Deutschland im Rassenwahn verübte Holocaust das Leben.

Was Holocaust-Überlebende erzählen

Wie erlebten deutsche und österreichische Jüdinnen und Juden die Deportationen, welche Ängste, aber auch Hoffnungen hatten sie an den Orten, an die sie «nach Osten» verschleppt worden waren?

Nur wenige dieser Menschen überlebten wie Erna Steiniger den von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch, um davon berichten zu können. Doch auch die Ermordeten haben Zeugnisse hinterlassen, etwa in Form von Briefen und Einträgen in Tagebüchern.

Andrea Löw, Historikerin und stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München, hat auf Grundlage dessen ein Buch geschrieben. «Deportiert. ‹Immer mit einem Fuss im Grab› – Erfahrungen deutscher Juden» ist ein wichtiges Buch, beeindruckend und schonungslos. Wichtig, weil es die zahlreichen Zeugnisse der Deportierten verdichtet und zu einem Strang der Erinnerung formt. Beeindruckend, weil die Deportierten als Individuen zu Wort kommen: Männer und Frauen, Junge und Alte. Und nicht zuletzt schockierend, weil das Buch demonstriert, zu welcher Grausamkeit Menschen imstande sind.

Buch der Historikerin Andrea Löw: «Deportiert. ‹Immer mit einem Fuss im Grab› – Erfahrungen deutscher Juden».
Bild: PD

«Es wird Ihnen hiermit eröffnet, dass Sie innerhalb von drei Stunden Ihre Wohnung zu verlassen haben», zitiert Löw eine Anordnung der Gestapo Darmstadt aus dem Frühjahr 1942. Von ihrem Eigentum durften die betroffenen Jüdinnen und Juden so gut wie nichts mitnehmen. «Wir haben Tag und Nacht geweint», bekannte Trude Friedrich angesichts dieses Schocks.

Abschied hiess es auch von Freunden und Bekannten zu nehmen, wenn der Deportationsbefehl eintraf. «Mein Leben lang werde ich diesen Abschied nicht vergessen», beschrieb Siegfried Weinberg die Trennung von seiner Mutter. «Betet für uns und gedenket unser, erzählet es Euren Kindern wieder, wie wir zu Tode gepeinigt wurden», schrieb Gretel Klein an ihre Kinder, die zuvor im Ausland in Sicherheit gebracht worden waren. Das Ehepaar Klein überlebte die Deportation nicht.

Das Töten geht weiter

Das Berliner Reichssicherheitshauptamt zeichnete für die seit dem Herbst 1941 einsetzenden «systematischen Deportationen der Jüdinnen und Juden aus dem Grossdeutschen Reich» verantwortlich, wie Andrea Löw schreibt.

Bereits die Zustände in den Deportationszügen waren himmelschreiend. «Jetzt wussten wir alle, dass kein Pardon zu erwarten war», beschrieb der Gelsenkirchener Bernd Haase seine Verschleppung nach Riga.

«Die Kinder schrien nach Wasser, alte und kranke Menschen litten jetzt schon unsäglich unter der immer mehr zunehmenden Kälte.»

In Riga, aber auch wie beschrieben in Minsk, hatten die dortigen SS- und Polizeieinheiten «Platz geschaffen» durch die Ermordung der dortigen jüdischen Bevölkerung. Aber auch den Jüdinnen und Juden aus Deutschland sollten die Nationalsozialisten letztlich den Tod bringen. Im Herbst 1941 ermordeten sie im Wald von Rumbula in Riga neben Tausenden lettischer Juden auch mehr als 1000 aus Berlin Deportierte.

Und das Töten ging weiter: «Deutsche Einheiten mordeten die Ghettos leer», beschreibt Löw das Geschehen im Frühjahr 1942 im Distrikt Lublin. Wieder musste «Platz geschaffen» werden für weitere Deportierte. Während die einen Deportierten Sorge und Angst auf dem Weg gen Osten begleiteten, hegten andere Hoffnung.

«Die Fahrt als solche war für mich ein grosses Erlebnis», zitiert Löw aus einer Postkarte Oscar Hoffmanns, der nach Minsk deportiert wurde. «Wie ich gerade höre, besteht eine gewisse Möglichkeit, dass wir in den hiesigen Betrieben in unseren Berufen arbeiten können.» Diese Hoffnung war trügerisch. Kurz nach seiner Ankunft wurde Oscar Hoffmann ermordet.

Deutsche Vernichtungslager im deutsch besetzten Osten während des Zweiten Weltkriegs.

In die Schweiz entkommen

Allerdings wurden nicht alle aus dem «Grossdeutschen Reich» Deportierten im Osten sofort umgebracht. Die Lebenden mussten sich auf eine Existenz in Not und Gefahr einstellen. «Dann kamen sie an den ihnen unbekannten Orten des Terrors und der Gewalt an», resümiert Andrea Löw.

«Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich einen Toten sah», schilderte Fanny Englard einen Mord an einem Juden durch einen Deutschen. «So grauenvoll, er schoss ihm in den Kopf und zersplitterte seinen Schädel, die ganzen Gehirnstücke … es war alles so … voll Blut».

Warschauer Ghetto 1943: Die Historikerin Andrea Löw erforscht den Ablauf des Holocaust seit langer Zeit. (Quelle: akg-images/imago-images-bilder)
Warschauer Ghetto, 1943: Andrea Löw erforscht den Ablauf des Holocausts seit langer Zeit.Bild: imago-images.de

Der Gedanke an Flucht war manchen Deportierten gegenwärtig, aber nicht nur Furcht vor Entdeckung hielt sie davon ab. «Ich wollte schliesslich nicht der Mörder meiner Eltern sein», bekannte Werner Sauer, die Deutschen hätten sich bei seinem Entkommen an seinen Verwandten gerächt.

In einigen Fällen allerdings war eine Flucht möglich, der Hanauer Robert Eisenstädt entkam Majdanek und schaffte es auf Umwegen in die sichere Schweiz.

Die Rettung durch die Alliierten

1943 und 1944 lösten die Deutschen die Ghettos im Osten auf, wobei «auflösen» ein harmloses Wort für äusserste Brutalität ist. «Man löste das Ghetto auf, indem man sämtliche Kinder und Alte um die Ecke brachte», schildert Edith Blau das Vorgehen in Riga. «Arbeitsfähige» wurden erneut verschleppt, in Konzentrationslager weiter im Westen. «Es lässt sich nicht in Worte kleiden, was wir alles erlebten und sahen», zitiert Löw Lore Israel. «Die Zeit in Riga war noch die beste Zeit.»

«Dieses KZ war das grausamste, unmenschlichste, was ich bisher gesehen und erlebt habe», beschrieb Günter Wallhausen die Zustände in Stutthof bei Danzig. An anderen Orten des nationalsozialistischen Terrors erging es den Eingesperrten ebenso.

Rettung brachte der Vormarsch der alliierten Armeen, die nach und nach die Konzentrationslager befreiten. Die Freiheit konnten sie den Menschen wiedergeben, aber nicht das durch die Nationalsozialisten Geraubte: «Ich fragte mich, warum ich das alles überlebt hatte und wofür?», zitiert Löw Hannelore Marx. «Der Boden war mir unter den Füssen weggezogen worden.»

Quellen

  • Eigene Recherche
  • Andrea Löw: «Deportiert. ‹Immer mit einem Fuss im Grab› – Erfahrungen deutscher Juden», Frankfurt /Main 2024

(t-online/dsc)

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40 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Troxi
08.05.2024 20:38registriert April 2017
Nie wieder genügt nicht, Bruno Kreisky, Bundeskanzler Österreichs (SPÖ).
Die Generation, die das mitgemacht hat, stirbt aus. Deren Kinder kommen/sind in Rente. Die Erinnerung verblasst stetig zunehmend.

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschweigen, ich war ja kein Kommunist. Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Sozialdemokrat. Als sie die Gewerkschafter holten, habe ich geschwiegen, ich war ja kein Gewerkschafter. Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte. Martin Niemöller, Pastor, 1941 ins KZ Dachau deportiert.
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Kritiker 2.1
08.05.2024 21:11registriert März 2020
Danke Watson! Artikel wie diese sind in diesen Zeiten nötiger denn je. Nie vergessen.
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Amateurschreiber
08.05.2024 19:04registriert August 2018
Ich bin Jahrgang 1972. Als Kind waren Geschichten über die Nazis, den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg für mich Schilderungen aus einer längst vergangenen Zeit. Erst im Erwachsenenalter, nachdem erlebte wie schnell 30, 40 oder 50 Jahre vergehen, merkte ich wie wenig Zeit seitdem vergangen ist. Jedenfalls gehen mir solche Schilderungen heute weit mehr unter die Haut, als in jungen Jahren!
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