Liebe Leserin, lieber Leser – eine Frage gleich zu Beginn: Warum hast du dich entschieden, diese Geschichte zu lesen? Ich habe eine Vermutung: Es ist die Mischung aus Faszination und Gruseln, die Haie in sehr vielen von uns auslösen. Eine Hai-Attacke, zumal im Superlativ angekündigt, hat darum das Zeug zu dem, was wir Journalisten im Jargon unseres Metiers eine «Klickbombe» nennen.
Die Geschichte der Hai-Attacke in der Philippinensee ist es wert, erzählt zu werden. Zugleich verdient die Frage, warum uns diese eleganten Fische derart zum Schaudern bringen, eine Antwort. Hier findest du beides.
Die Fracht, die der Schwere Kreuzer USS Indianapolis Ende Juli 1945 auf die winzige Insel Tinian in den Nördlichen Marianen brachte, war streng geheim: Es waren die Komponenten für die Atombombe, die am 6. August die japanische Hafenstadt Hiroshima zerstören würde. Nachdem die tödliche Fracht gelöscht war, stach die USS Indianapolis wieder in See und steuerte nach einem Zwischenstopp in Guam den Golf von Leyte auf den Philippinen an. Auch diese Mission war geheim.
Doch die USS Indianapolis kam nie an ihrem Bestimmungsort an. In der Nacht auf den 30. Juli entdeckte die Crew des japanischen U-Boots I-58 den Schweren Kreuzer in der Philippinensee und feuerte einen Fächer von sechs Torpedos ab. Zwei davon trafen die USS Indianapolis – das 186,3 Meter lange Kriegsschiff sank innerhalb von nur gerade zwölf Minuten. Etwa 300 Matrosen starben bei der Explosion einer Munitionskammer, die meisten anderen der 1196 Mann starken Besatzung konnten das sinkende Schiff jedoch noch rechtzeitig verlassen.
Damit aber waren sie noch lange nicht in Sicherheit. Viele von ihnen waren verletzt – sie hatten gebrochene Arme oder Beine, manche hatten Verbrennungen. Es gab nur wenige Rettungsboote. Noch in der Nacht starben bis zu 100 Seeleute an ihren Verletzungen. Am Morgen suchten die Lebenden im Wasser treibende Tote, um sich deren Schwimmwesten für jene anzueignen, die keine hatten. Auf jene, die die Nacht überlebt hatten, wartete ein tagelanger Albtraum, der für mehr als die Hälfte von ihnen mit dem Tod endete.
«Am Morgen kamen die Haie», erinnerte sich später Edgar Harrell, der damals 20 Jahre alt war. «Wir hörten einen furchteinflössenden Schrei. Und dann verschwand ein Körper unter Wasser, nur die Schwimmweste kam wieder an die Oberfläche», schrieb Harrell in seinem Buch «Out of the Depths: An Unforgettable WWII Story of Survival, Courage, and the Sinking of the USS Indianapolis» («Aus den Tiefen: Eine unvergessliche Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg über Überleben, Mut und den Untergang der USS Indianapolis»), das 2014 erschien.
Was nun geschah, war nach den Berichten einiger Überlebender die schlimmste bekannte Hai-Attacke der Geschichte. Die Haie wurden durch die Explosion und die Bewegungen der Seeleute angelockt. Zu deren Verhängnis handelte es sich bei den Haien vornehmlich um eine als besonders aggressiv geltende Art, der viele der Hai-Attacken gegen Menschen im offenen Meer zugeschrieben werden: der Weissspitzen-Hochseehai (Carcharhinus longimanus). Dieser opportunistische Jäger sucht in den obersten Schichten von Tiefwasser-Zonen nach Beute; vornehmlich Tintenfische und Knochenfische. Der Meeresforscher Jacques Cousteau nannte ihn den gefährlichsten aller Haie.
Die Haie, es waren hunderte, frassen hauptsächlich die im Wasser treibenden Leichen – von denen es, zur morbiden Erleichterung der Überlebenden, vorerst genug hatte. Viele Matrosen klammerten sich aneinander, weil sie dachten, dass die Haie sich dann nicht an sie heranwagen würden und sie so höhere Überlebenschancen hätten. Wer durch Verletzungen oder Erschöpfung zu schwach war, um sich festzuhalten, dümpelte allein im Wasser und wurde so eher zum Ziel einer Hai-Attacke, wie Harrell es schilderte. «Man hörte einen markerschütternden Schrei und sah, wie jemand unterging.»
Der Anblick der Rückenfinnen – stets ein bis zwei Dutzend, die umherkreisten – hielt die Seeleute in konstanter Angst. Der Überlebende Loel Dean Cox, damals 19 Jahre alt, erinnerte sich, wie die Haie ihn manchmal anstupsten: «Sie kamen hoch und stiessen dich an. Ich wurde ein paar Mal angerempelt – man weiss nie, wann sie einen angreifen werden.» Sie hätten jede Nacht und jeden Tag drei oder vier Kameraden verloren, erzählte Cox. «In diesem klaren Wasser konnte man die Haie kreisen sehen. Und hin und wieder, wie ein Blitz, tauchte einer auf und nahm einen Matrosen und zog ihn runter. Einer tauchte auf und schnappte sich den Matrosen neben mir.»
Die Haie waren nicht der einzige Schrecken: Tagsüber brannte die Sonne gnadenlos auf die zusehends geschwächten Männer, nachts war ihnen kalt: «Es war so heiss, dass wir beteten, dass es dunkel wird, und wenn es dunkel wurde, beteten wir, dass es hell wird, denn es wurde so kalt, dass unsere Zähne klapperten», sagte Cox. Immer wieder ertranken Männer, die keine Kraft mehr hatten oder deren Schwimmweste mit Wasser volllief.
Der Durst wurde unerträglich, die Zunge schwoll an, die Lippen sprangen auf, Salzwasser verkrustete das Gesicht. Manche halluzinierten im Delirium und fantasierten von geheimen Inseln hinter dem Horizont, andere tranken Meerwasser – ein sicheres Todesurteil. Am zweiten Tag regnete es kurz und die Männer konnten ein paar Tropfen mit ihrem Mund auffangen. Zu wenig für die meisten von ihnen: In der Gruppe von etwa 80 Seeleuten, in der sich Harrell befand, waren am Mittag des dritten Tages nur noch 17 am Leben. Und noch immer war keine Rettung in Sicht.
Weil die USS Indianapolis ohne Begleitschiffe unterwegs war und nur wenige Marinestellen über ihre geheime Mission informiert waren, fiel es zunächst nicht auf, als das Schiff nicht zur vorgesehenen Zeit an seinem Ziel ankam. Zwar hatte die Besatzung vor dem Untergang noch mehrere SOS-Signale abgesetzt, doch diese wurden von der US-Navy nicht ernst genommen; man vermutete eine japanische Falle.
So dauerte es vier Tage, bis die Ölspur des gesunkenen Kreuzers und darauf die Schiffbrüchigen zufällig von einem Flugzeug entdeckt wurden. Nun wurden endlich Rettungskräfte angefordert. Zuerst erreichte ein Flugboot die Überlebenden und warf Flösse und Lebensmittel über ihnen ab. Als der Pilot die Haie sah, missachtete er den Befehl, nicht auf der unruhigen See zu wassern, und nahm eine erste Gruppe von Seeleuten auf.
Cox schilderte diesen Moment später so: «Der Mann in der Luke des Flugzeugs stand da und winkte uns zu. Da kamen mir die Tränen, und die Haare stellten sich auf, und man wusste, dass man gerettet war, dass man zumindest gefunden worden war. Das war die glücklichste Zeit in meinem Leben.» Während er auf die Rettung wartete, sei er immer wieder bewusstlos geworden und habe in einer Art Dämmerzustand verharrt, erzählte Cox.
Gegen Abend erreichten sieben Schiffe die Unglücksstelle und begannen mit der Bergung der restlichen Überlebenden. Cox: «Irgendwann in der Nacht, so erinnere ich mich, zogen mich starke Arme in ein kleines, winziges Boot. Zu wissen, dass ich gerettet war, war das beste Gefühl, das man haben kann.» Doch nur noch 317 Seeleute der ursprünglich 1196 Mann zählenden Besatzung konnten gerettet werden. Sie benötigten zum Teil Jahre, um sich zu erholen und dieses Erlebnis zu verarbeiten.
Der dramatische Überlebenskampf der Schiffbrüchigen der USS Indianapolis fand Erwähnung im erfolgreichen Horror-Schocker von Steven Spielberg: In «Der weisse Hai» («Jaws», 1975) erzählt der Haijäger Quint, dass er Besatzungsmitglied auf dem Kreuzer war, als dieser sank. Die Filme «Operation Haifisch – Lautlos kommt der Tod» («Mission of the Shark: The Saga of the U.S.S. Indianapolis», 1991) und «USS Indianapolis: Men of Courage» (2015) nehmen direkt Bezug auf die Hai-Attacke in der Philippinensee.
Wenn sie denn überhaupt so stattgefunden hat. Wie viel Matrosen tatsächlich den Haien zum Opfer fielen, lässt sich unmöglich sagen – die Angaben sind ohnehin widersprüchlich. Sicher ist gemäss neueren Untersuchungen, dass mit Sicherheit sehr viel mehr Seeleute an Erschöpfung oder Sonnenstich starben. Oder an Dehydratation, wenn sie ihren mörderischen Durst mit Meerwasser zu stillen suchten. Es kam zwar offensichtlich zu Kontakten und Bissen, doch Menschen – mit denen die seit rund 400 Millionen Jahre existierenden Knorpelfische erst seit Kurzem zu tun haben – passen nicht ins Beuteschema der Haie.
Zwar gibt es zweifellos Hai-Angriffe auf lebende Menschen, auch wenn die meisten menschlichen Überreste, die mitunter in Hai-Mägen gefunden werden, von Leichen stammen dürften, also von Menschen, die ertranken oder sonst wie zu Tode kamen, bevor sie gefressen wurden – einige Haie sind Aasfresser. Auch bei den Schiffbrüchigen der USS Indianapolis dürften die meisten gefressenen Seeleute bereits tot gewesen sein.
In den meisten Fällen nimmt ein Hai von einer unbekannten potenziellen Beute, wie der Mensch sie darstellt, einen Probebiss – seine Geschmacksnerven sitzen im Gaumen –, was allerdings bereits tödlich sein kann, wenn das Tier dabei etwa ein grösseres Blutgefäss verletzt. Haie tun dies jedoch in aller Regel erst dann, wenn sie mit ihren anderen Sinnen, darunter Drucksensoren und ein Elektro-Sinn, nicht weiter kommen.
Tatsächlich gibt es nur sehr wenige Hai-Angriffe auf Menschen. Die Zahl der durch Haie weltweit verursachten Todesopfer übersteigt kaum ein Dutzend; 2021 waren es beispielsweise neun. Anderen Tieren fallen wesentlich mehr Menschen zum Opfer – so kommen jedes Jahr rund 500 Menschen durch Angriffe von Nilpferden um. Und um im Meer zu bleiben: Quallen verursachen jährlich etwa 40 Todesfälle. Von anderen Gefahren wie dem Strassenverkehr, denen viel mehr Menschen zum Opfer fallen, ganz zu schweigen.
Ohnehin zirkulieren in Bezug auf Haie zahlreiche Mythen, und zwar meist negative. Ein Beispiel dafür ist die Annahme, Haie würden durch das Blut von verletzten Menschen angelockt – was auch im Fall der USS Indianapolis oft erwähnt wird. Manche Haie können Blut zwar noch in einer Verdünnung von 1 zu 10 Milliarden riechen, aber Tests mit Menschenblut im Wasser haben gezeigt, dass die Haie nicht darauf reagieren, weil es eine andere biochemische Zusammensetzung als Fischblut hat.
Woher kommt also die Angst vor Haien, die angesichts der Opferzahlen rational nicht zu begründen ist? Man könnte meinen, es handle sich um eine Art Urangst, die auf dem Gefühl beruht, zur Beute eines gefährlichen und viel stärkeren Lebewesens zu werden. Dies mag eine gewisse Rolle spielen. Doch Fischer und Seefahrer wussten in früheren Zeiten, dass diese mächtigen Raubfische keine existentielle Bedrohung oder gar das Böse schlechthin sind. Seeungeheuer stellte man sich anders vor – etwa als gewaltige Seeschlangen, gigantische Kraken oder später als mächtiger Wal wie in Herman Melvilles Roman «Moby Dick».
Ein nicht zu unterschätzender Faktor dürfte der erwähnte Film von Spielberg gespielt haben. «Der weisse Hai» etablierte das Bild eines so hirnlosen wie gefrässigen Monsters, das alles attackiert, was sich bewegt. Spielbergs Zerrbild hätte sich freilich kaum derart erfolgreich in unseren Köpfen festsetzen können, wenn wir nicht dafür empfänglich gewesen wären. Als der Streifen in die Kinos kam, hatte der Mensch in den industrialisierten Regionen sämtliche grossen Landraubtiere nahezu zum Verschwinden gebracht. «Der Hai» als unheimliche Bestie eignete sich wie kaum ein anderer Predator dafür, zur Projektionsfläche für diffuse Ängste vor der noch ungebändigten Natur.
Heute wandelt sich unser Bild dieser faszinierenden Kreaturen allmählich. Das Bewusstsein wird immer stärker, dass diese Knorpelfische zu den am meisten bedrohten Tiergruppen der Welt gehören. Nach Schätzungen des WWF tötet der Mensch jedes Jahr weltweit schätzungsweise 100 Millionen Haie. Es ist höchste Zeit, die Haie zu entdämonisieren und die Jagd auf sie einzuschränken – andernfalls werden unsere Enkel diese Raubfische, die sogar die Dinosaurier überlebt haben, nur noch aus Büchern und Filmen kennen.
pinex
Ich hol jetzt das Schwein
Christian Mueller (1)