Menschenopfer? Keltische Mädchen-Skelette geben Rätsel auf
Es war ein Zufall, dass das Skelett gefunden wurde: Die Archäologen stiessen kürzlich bei Dreharbeiten zur Fernsehserie «Sandi Toksvig’s Hidden Wonders» von Channel 4 darauf. In der Serie untersucht die Moderatorin gemeinsam mit Archäologen historische Attraktionen aus der britischen Geschichte – im betreffenden Fall ein Grabungsprojekt der Universität Bournemouth (The Durotriges Project). Die archäologische Fundstätte, eine 2000 Jahre alte Siedlung aus der Eisenzeit, liegt im ländlichen Dorset im Südwesten Englands und war damals, noch vor der römischen Eroberung, vom keltischen Stamm der Durotriges bewohnt.
Gefesselt in eine Grube geworfen
Das Skelett stammt von einem Teenager, wahrscheinlich einem jungen Mädchen. «Wir glauben, dass es sich um eine Frau handelt, obwohl wir noch keine Gelegenheit hatten, die DNA zu untersuchen, um dies endgültig zu bestätigen», erklärte Grabungsleiter Miles Russell von der Bournemouth University gegenüber Live Science.
Was den Fund mysteriös macht: Das Mädchen lag mit dem Gesicht nach unten im Grab – eine laut den Archäologen unübliche Position der Bestattung für diese Zeit. Die Position der Arme lässt vermuten, dass die Hände des Opfers gefesselt waren. Die Knochen der Arme und des Oberkörpers weisen zudem Spuren von Schlägen und anderen Verletzungen auf. Und es fanden sich keinerlei Grabbeigaben.
«Es sieht so aus, als ob die Leiche in eine Grube geworfen wurde, möglicherweise mit an den Handgelenken gefesselten Händen», sagte Russell. All diese Indizien sprechen dafür, dass das Mädchen gewaltsam zu Tode kam. Möglicherweise war es das Opfer eines Mordes. Möglich ist aber auch, dass es sich um ein Menschenopfer handelte. Und diese These, nämlich dass das Opfer rituell getötet wurde, wird vor allem durch zwei frühere Skelettfunde in den Jahren 2010 und 2024 gestützt. Die Überreste dieser zwei jungen Frauen wurden ebenfalls im Rahmen des Durotriges-Grabungsprojekts gefunden.
«Akt ritualisierter Gewalt»
Diese beiden jungen Frauen waren ebenfalls gefesselt und mit dem Gesicht nach unten bestattet worden. Das 2010 bei Winterborne Kingston gefundene Skelett lag in einer mit Tierknochen gefüllten Grube und wies Spuren von teilweise bereits verheilten Verletzungen auf. Auffällig war besonders eine Wunde an den Halswirbeln: «Die Spuren passten zu einer scharfen Klinge, die von hinten in ihren Nacken gestossen wurde», stellte Russell fest. «Die Umstände ihrer Bestattung und diese Verletzung sprechen dafür, dass ihr Leben dramatisch und in einem Akt ritualisierter Gewalt endete.»
Matrilinear organisierte Kelten
Die Tatsache, dass es sich bei zwei der drei ungewöhnlichen Skelettfunde gesichert um weibliche Opfer handelt und beim dritten wahrscheinlich ebenfalls um eine Frau, will nicht so recht zu den Ergebnissen einer Anfang dieses Jahres in Nature veröffentlichten Studie passen. Die von einem Forschungsteam des Durotriges-Projekts durchgeführten DNA-Analysen zeigten nämlich, dass keltische Gruppen wie die Durotriges wahrscheinlich matrilinear organisiert waren – übereinstimmend mit den Angaben römischer Autoren über die Kelten. Vermutlich besassen die Frauen das Land und die Männer reisten in die Dörfer ihrer Frauen, um zu heiraten.
«Dies ist das erste Mal, dass Belege für matrilineare Gemeinschaften in der westeuropäischen Vorgeschichte dokumentiert wurden», kommentierte dies Russell. Diese Entdeckung werfe ein neues Licht auf das soziale Gefüge der Eisenzeit und zeige, dass Frauen im damaligen Britannien eine weit wichtigere Rolle spielten als lange angenommen.
Warum sollten die matrilinear organisierten Kelten also ausgerechnet Frauen opfern? Russell und sein Team gehen davon aus, dass die Opfer möglicherweise am unteren Ende der sozialen Skala standen und eher als «entbehrlich» betrachtet wurden – insbesondere, wenn sie nicht aus der Gegend stammten oder nicht mit den herrschenden Familien verwandt waren. «Es ist plausibel, dass sie Gefangene oder Dienerinnen fremder Herkunft waren», so Russell. Besonders die Spuren harter körperlicher Arbeit an den Knochen dieser getöteten Frauen sprechen für einen eher niedrigen sozialen Status.
Die Entdeckung von mehreren weiblichen Opfern deutet laut Russell darauf hin, dass diese Praxis viel häufiger war als bisher angenommen. Es sei aber unklar, welche soziopolitischen und ökologischen Faktoren diese Praxis ausgelöst hätten. Weitere Untersuchungen sollen hier Licht ins Dunkel bringen. So sollen etwa weitere DNA-Analysen klären, woher das Mädchen aus dem Grab stammte und ob es Teil der lokalen Gemeinschaft war. (dhr)
