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Massaker von Norwich: 800 Jahre alter Cold Case von Genetikern gelöst

Digitale Gesichtsrekonstruktionen von zwei der im Brunnen gefundenen Personen, basierend auf Skelettresten und DNA
Digitale Gesichtsrekonstruktionen von zwei der im Brunnen gefundenen Personen, basierend auf Skelettresten und DNA.Bild: Natural History Museum, London/Caroline Wilkinson

Genetiker lösen einen 800 Jahre alten Cold Case – das Massaker von Norwich

08.09.2022, 18:1310.09.2022, 16:25
Daniel Huber
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2004 stiessen Bauarbeiter im Zentrum der ostenglischen Stadt Norwich bei Grabungsarbeiten für ein Einkaufszentrum auf menschliche Knochen. Archäologen fanden dort einen alten Brunnen, in dem die Skelette von 17 Menschen lagen – sechs Erwachsene und elf Kinder im Alter von zwei bis 15 Jahren, darunter drei Schwestern. Auffällig war dabei, dass die Leichen anscheinend kopfüber in den Brunnen geworfen worden waren. Der Fundort befand sich zudem ausserhalb eines geweihten Friedhofs – vermutlich handelte es sich bei den Toten also um Opfer einer Gewalttat, einer Seuche oder einer Hungersnot.

Massaker von Norwich: 800 Jahre alte menschliche Skelette im Brunnen von Chapelfield, Norwich.
Die Toten wurden anscheinend kopfüber in den Brunnen geworfen; die Erwachsenen zuerst, die Kinder danach. Bild: BBC

Die Skelette der Erwachsenen wiesen Brüche auf, die auf den Fall in den Brunnen zurückzuführen waren; nicht aber die Knochen der Kinder. Deren Fall war offenbar durch die bereits im Brunnen liegenden Toten gebremst worden. Keines der Skelette zeigte Spuren von Verletzungen, die typischerweise dabei auftreten, wenn jemand versucht, einen Sturz aufzufangen. Die Archäologen schlossen daraus, dass die Opfer bereits tot waren, als sie in den Brunnen geworfen wurden.

Alles weist auf ein Massaker hin

Da es sich bei den Toten von Chapelfield – dem vormaligen Namen des Fundorts – um Erwachsene und Kinder beiderlei Geschlechts und unterschiedlichen Alters handelte und ihre Überreste zudem dicht beieinander lagen, waren sie vermutlich bei einem einzigen katastrophalen Ereignis ums Leben gekommen und dann kurz nacheinander in den Brunnen geworfen worden. Die Untersuchung der Sedimente zeigte, dass sie sofort mit Erde bedeckt wurden, die vom Boden rund um den Brunnen stammte.

Massaker von Norwich: Menschliche Überreste am Grund des Brunnens.
Die menschlichen Überreste am Grund des Brunnens.Bild: NPS Archaeology/Giles Emery

Eine Radiokarbon-Datierung der Skelettreste, die 2011 vorgenommen wurde, ordnete diese dem Zeitraum von 1161 bis 1216 zu – mithin lange vor dem verheerenden Seuchenzug der Beulenpest, die England nicht vor 1348 erreichte. Die Überreste wiesen auch keine Spuren von Krankheiten wie Lepra oder Tuberkulose auf. Als wahrscheinlichste Erklärung für den gleichzeitigen Tod dieser Menschen und ihre überstürzte, unzeremonielle Bestattung blieb damit ein Massaker übrig.

Waren die Opfer Juden?

Aber wer waren die Toten von Chapelfield? Zwei Indizien stützen die Vermutung, dass es sich um Juden handeln könnte, die einem Pogrom zum Opfer gefallen waren: Zum einen befindet sich der Fundort der Skelette unmittelbar südlich des seit 1135 bestehenden mittelalterlichen jüdischen Wohnbezirks von Norwich, damals die zweitgrösste englische Stadt. Zum anderen fällt das Massaker in einen Zeitraum, in dem es zu mehreren Ausbrüchen von antisemitischer Gewalt in England kam (siehe Info-Box unten).

Massaker von Norwich: Fundort der menschlichen Skelette in Norwich, England.
https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(22)01355-0
Der Fundort der Skelette in Norwich. Karte: Current Biology

Ein solches Pogrom ereignete sich im Jahr 1190 zu Beginn des Dritten Kreuzzugs, an dem sich auch englische Ritter beteiligten. Es war nicht selten, dass Kreuzzüge bereits in der Heimat der Kreuzritter zu Ausschreitungen gegen jüdische Gemeinden führten; ein berüchtigtes Beispiel ist die Judenverfolgung 1096 im Rheinland anlässlich des Ersten Kreuzzugs, die in der nahezu vollständigen Vernichtung der jüdischen Gemeinde in Mainz gipfelte. Was 1190 in Norwich geschah, gibt ein zeitgenössischer Bericht des Chronisten Ralph de Diceto in dessen «Ymagines Historiarum» wieder:

«Viele von denen, die nach Jerusalem eilten, beschlossen, sich zuerst gegen die Juden zu erheben, bevor sie die Sarazenen überfielen. Dementsprechend wurden am 6. Februar [1190 n. Chr.] alle Juden, die sich in ihren eigenen Häusern in Norwich aufhielten, abgeschlachtet; einige hatten sich in die Burg geflüchtet.»
Juden im mittelalterlichen England
Juden durften sich in England erst seit der normannischen Eroberung im Jahr 1066 ansiedeln; aus der Zeit davor gibt es keine Zeugnisse jüdischen Lebens in England. Immer wieder kam es zu antisemitischen Anschuldigungen und Ausschreitungen. So etwa 1144, als Juden in Norwich beschuldigt wurden, einen Jungen rituell geopfert zu haben – die berüchtigte Ritualmordlegende. Einen Höhepunkt erlebten die Pogrome in der Zeit des Dritten Kreuzzugs; 1190 kam es zu einem Massaker in York, bei dem etwa 150 Juden getötet wurden. 1190 fand auch das Massaker in Norwich statt, von dem die Chapelfield-Skelette zeugen. Die Diskriminierung der Juden hörte danach nicht auf. Ab 1218 mussten sie erstmals ein Abzeichen tragen, das sie als Juden identifizierte. 1290 erliess Edward I. schliesslich ein Dekret, das die Verbannung aller jüdischen Einwohner Englands anordnete. Mehr als 350 Jahre gab es danach in England nahezu keine jüdische Bevölkerung mehr.
Quelle: BPB.de
Illustration in der Rochester-Chronik, die die Ausweisung der Juden aus England im Jahr 1290 zeigt.
https://www.bl.uk/manuscripts/Viewer.aspx?ref=cotton_ms_nero_d_ii_f183v
Illustration in der Rochester-Chronik, die die Ausweisung der Juden aus England im Jahr 1290 zeigt. Bild: British Library

Trotz dieser Hinweise, dass es sich bei den Opfern von Norwich um Juden handeln könnte, war deren Identität nie eindeutig geklärt worden. Bei der ersten Untersuchung vor 11 Jahren hatte eine Erbgut-Analyse zwar bereits auf eine jüdische Herkunft der Toten hingedeutet, doch diese DNA-Analyse erwies sich als wenig schlüssig.

DNA-Analyse bringt Klarheit

Doch nun hat ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlern aus den Bereichen Populationsgenetik, Genomik und Geschichte die Vermutung bestätigt. Ihre Analyse der in den Skeletten vorhandenen DNA, die Ende August im Fachblatt «Current Biology» erschienen ist, hat den Cold Case endgültig gelöst: Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit waren die Toten von Chapelfield tatsächlich Juden.

Die Forscher um die Anthropologin Selina Brace vom Natural History Museum in London untersuchten die erhaltenen Gensequenzen von sechs der Toten und verglichen sie mit einem Sample, das aus den Genomen von mehr als einem Dutzend moderner westeurasischer Populationen bestand. Das Ergebnis der Auswertung: Die sechs Individuen von Chapelfield sind enger mit heutigen aschkenasischen Juden verwandt als mit der heutigen nichtjüdischen Bevölkerung Englands.

Massaker von Norwich: Genetische Zugehörigkeit der sechs Chapelfield-Individuen (schwarze Punkte):
https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(22)01355-0
Genetische Zugehörigkeit der sechs Chapelfield-Individuen (schwarze Punkte): Sie sind alle deutlich von den heutigen britischen und auch nordeuropäischen Stichproben entfernt. Dafür überschneiden sie sich teilweise mit den Profilen von Südeuropäern, Zyprioten sowie modernen aschkenasischen, türkischen und nordafrikanischen Juden. Grafik: Current Biology

Dieser Vergleich ist deshalb möglich, weil das Judentum nicht nur eine religiöse und kulturelle Dimension hat, sondern auch eine ethnische Komponente aufweist. Dies gilt auch für die Aschkenasim, die mittel-, nord- und osteuropäischen Juden sowie deren Nachfahren. Ihre genetische Abstammung widerspiegelt sowohl ihre von Wanderungen in der Diaspora geprägte Bevölkerungsgeschichte als auch die endogame Heiratspraxis, also dass vorzugsweise innerhalb der eigenen Gruppe geheiratet wird.

«Genetischer Flaschenhals»

Die Untersuchung des Erbguts warf ausserdem Licht auf Veranlagungen der Opfer von Chapelfield für genetische Erkrankungen. Aufschlussreich war besonders die Prädisposition für primäre Ziliendyskinesie. Es handelt sich um eine seltene angeborene Erkrankung der Atemwege, bei der die Bewegung der Flimmerhärchen (Zilien) gestört ist. Sie kommt bei heutigen Aschkenasim relativ häufig vor. Computersimulationen zeigten zudem, dass die Häufigkeit solcher genetischer Prädispositionen bei den Chapelfield-Toten ziemlich exakt jener der modernen aschkenasischen Bevölkerung entsprach – ein weiterer Befund, der die These stützt, dass es sich bei den Toten um aschkenasische Juden handelte.

Dieser Befund bringt zudem die bisherige Lehrmeinung ins Wanken, wonach es vor 500 bis 700 Jahren einen «genetischen Flaschenhals» in der aschkenasischen Population gegeben habe, also einen starken Bevölkerungsrückgang. Solche Flaschenhälse können einen sprunghaften Anstieg seltener genetischer Varianten – darunter auch bestimmter Krankheitsmutationen – bewirken. Da die Toten von Chapelfield jedoch bereits vor dem 12. Jahrhundert für dieselben erblichen Krankheiten anfällig waren wie die heutigen Aschkenasim, müsse dieser Flaschenhals früher stattgefunden haben, erklärt der Evolutionsgenetiker Mark Thomas, ein Mitautor der Studie, in der Fachzeitschrift «Nature».

Thomas verwahrt sich laut «Nature» auch gegen den Einwand seines Fachkollegen Eran Elhaik von der Universität Lund in Schweden, der den Autoren der Studie vorwirft, sie hätten die Chapelfield-Toten deswegen als aschkenasische Juden identifiziert, weil sie gar keine andere Bevölkerungsgruppe in Betracht gezogen hätten. Demgegenüber besteht Thomas darauf, das Forschungsteam habe sehr wohl verschiedene Szenarien getestet, und nur schon das Ergebnis der genetischen Analyse der Veranlagung für Erbkrankheiten beweise die aschkenasische Abstammung der Toten ausreichend.

Mitautor Ian Barnes, Spezialist für alte DNA am Natural History Museum, der bereits an der ersten Untersuchung der Skelette mitgewirkt hatte, weist darauf hin, dass es im mittelalterlichen Norwich nach Ansicht von Archäologen und Historikern nicht viele Möglichkeiten für andere Gruppen gegeben habe, die dort ansässig gewesen sein könnten.

Auf dem richtigen Friedhof bestattet

Die Überreste der Toten waren 2013, zwei Jahre nach der ersten Untersuchung, auf einem jüdischen Friedhof bestattet worden – obwohl damals nach wie vor Unsicherheit über ihre Abstammung herrschte. Alan West, Kurator für Archäologie am Norwich Castle Museum, behauptete damals sogar, es deute «nichts darauf hin, dass sie jüdischen Ursprungs» seien. Mit den neuen Erkenntnissen lässt sich diese Behauptung nicht mehr aufrechterhalten. So kann Barnes mit Fug feststellen, dass die Toten von Chapelfield «auf dem richtigen Friedhof und mit den richtigen religiösen Riten begraben» worden seien. «Es hat mehr als 800 Jahre gedauert, aber am Ende haben sie es geschafft.»

Die Erkenntnisse der Studie führen auch drastisch vor Augen, wie gnadenlos das Massaker gewesen sein muss. Wie es Mitautor Tom Booth in einer Mitteilung des University College London formuliert: «Ralph de Dicetos Bericht über die Angriffe im Jahr 1190 n. Chr. ist sehr eindrucksvoll, aber ein tiefer Brunnen mit den Leichen jüdischer Männer, Frauen und vor allem Kinder zwingt uns, uns mit dem wahren Schrecken der Ereignisse auseinanderzusetzen.»

2011 sendete die BBC eine Dokumentation über die Toten von Chapelfield.Video: YouTube/Reel Truth History Documentaries
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32 Kommentare
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Tom79
08.09.2022 19:27registriert Juli 2020
Menschen sind so dumm!
Schlachten sich gegenseitig ab weil sie sich nicht einig werden über ihren imaginären ausserirdischen Freund.
Der Glaube an diesen geben sie auch immer wehement an die nächste Generation weiter damit auch schön weiter gezankt wird.
Religion die wohl dümmste Erfindung der Menschheit.
19014
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Joseph Dredd
09.09.2022 00:00registriert Juli 2014
Danke @Daniel Huber für den gut recherchierten und spannend geschriebenen Artikel!
730
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Jean Jacques Nagulagg
08.09.2022 20:56registriert März 2018
Kompliment an den Autor.
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