Es war ein unbeschwerter Abend zweier amerikanischer Touristen im Münchner Hofbräuhaus: Das Bier floss, sie feierten lange und liessen am Ende einen Masskrug mitgehen. Einer wurde dabei erwischt, der andere verliess das Hofbräuhaus mit dem geklauten Souvenir. Letzterer war John F. Kennedy.
Er nutzte die langen Sommerferien nach seinem ersten Collegejahr für einen Roadtrip. Gemeinsam mit seinem Freund Kirk LeMoyne Billings, genannt Lem, rollte er im Ford Cabriolet durch Europa. Die beiden flirteten und feierten; besuchten aber auch Museen und Messen.
Es könnte eine Reise sein, die nicht weiter aussergewöhnlich für damalige «rich kids» war. Doch sie fand 1937 statt. Damit wurde sie für den künftigen amerikanischen Präsidenten noch etwas anderes: einen Roadtrip durch den Faschismus. Wie sie ihren Urlaub in Hitlerdeutschland und Mussolini-Italien wahrnahmen, hielten Kennedy und Billings in ihren Tagebüchern fest. Es sind jugendliche Blicke von aussen auf die Diktaturen Europas.
Kennedys Tagebuch ist bereits 2013 erschienen. Erstmals liegt nun der Reisebericht seines Freundes Billings vor, wodurch ihre «Grand Tour» an Profil und Anekdoten gewinnt. Herausgegeben hat die Texte der Berner Literaturwissenschafter Oliver Lubrich. Die Tagebücher sind erst auf Deutsch erhältlich, eine englische Übersetzung soll folgen. Weshalb diese ungewöhnliche Abfolge? «In den USA standen bislang Kennedys glamouröse Seite und die Dramen seiner Präsidentschaft im Fokus. Dass er drei Mal in Nazi-Deutschland war, wurde dagegen kaum diskutiert», sagt Lubrich. Kennedy reiste als Botschaftersohn 1939 und als Reporter 1945 erneut dorthin.
Den touristischen Roadtrip mit Billings startete im Juli 1937 in Le Havre – nach einer einwöchigen Seefahrt. Bereits zu Beginn ihrer Europareise zeigte sich der breite Fokus der beiden: An einem Tag besuchten sie in Frankreich ein Schlachtfeld des Ersten Weltkrieges und gleich darauf Champagner-Kellereien.
Kennedy war bei der Reise 20 Jahre alt, Billings 21 Jahre. Entsprechend sind ihre Tagebücher keine scharfsinnigen politischen Analysen. Es sind vielmehr die Notizen einer ausgedehnten Vergnügungs- und Bildungsreise. Banalitäten wie Sonnenbrände oder Ausschlafen kommen darin ebenso vor wie liebevolle Seitenhiebe auf den jeweiligen Reisebegleiter.
Gleichzeitig begleitete eine Frage die beiden: Versinkt Europa schon bald wieder in einem Krieg? Diese Sorge schien in der Luft zu liegen. In Frankreich notierte Kennedy optimistisch in sein Tagebuch: «Man scheint allgemein anzunehmen, dass es keinen neuen Krieg geben wird.»
Doch schon Tage später, im totalitären Italien, wurde diese Annahme in Zweifel gezogen. Nach einem Gespräch mit einem deutschen Touristen, der ihm vom Hass der Deutschen auf die Russen erzählte, notierte Kennedy: «Sieht so aus, als würde der nächste Krieg aus dieser Richtung kommen.»
Obwohl überall Mussolinis Konterfei hing, gefiel Kennedy Italien besser als Frankreich. Die Strassen seien voller und belebter, die Menschen attraktiver. «Der Faschismus scheint ihnen gutzutun», notierte er. Es sind solche Aussagen, die irritieren. Fehleinschätzungen und blinde Flecken dürften auch der Grund gewesen sein, weshalb er das Tagebuch selber nie veröffentlichte.
Kennedys Einträge dokumentieren aber auch das wachsende politische Interesse des jungen Studenten für die Politik Europas. Unterwegs beginnt er darüber zu lesen und hört sich die Meinungen unterschiedlichster Menschen an: etwa von Geflüchteten des Spanischen Bürgekriegs, von faschistischen Hotelbesitzern oder vom Korrespondenten der «New York Times». Selber unterwegs im «Dritten Reich» bejubelt Kennedy die deutschen Autobahnen als die «besten Strassen der Welt».
Zudem findet er grossen Gefallen an den sauberen Städten, was ihn zum problematischen Kurzschluss führt: «Die Städte sind alle sehr reizend, was zeigt, dass die nordischen Rassen den romanischen gewiss überlegen zu sein scheinen.» Gleichzeitig sinnierte er über den Erfolg von Hitler, den er vor allem dessen Propaganda zuschrieb. Diese sei «seine stärkste Waffe». Ausserhalb des Landes würde dies ebenso wie bei Mussolini unterschätzt.
Kennedy sei auf der Reise den Deutschen auf unheimliche Weise nahegekommen, sagt Lubrich:
Inwiefern Kennedy von den Repressionen der Nationalsozialisten wusste, geht aus dem Text nicht hervor. Völlig unwissend war er jedoch nicht. Ein deutscher Tourist erzählte ihm in Italien von Übergriffen. «Sehr interessant», beschrieb Kennedy das Gespräch. Bei Billings ist eine Faszination für Hitler deutlicher: «Man kommt nicht umhin, einen Diktator zu mögen, wenn man in seinem Land ist, wo man so viel Gutes über ihn hört und nichts Schlechtes.»
Obwohl 1937 bereits zehntausende Jüdinnen und Juden vor Gewalt und Diskriminierung durch die Nationalsozialisten geflohen waren, verloren weder Kennedy noch Billings eine Silbe dazu. Literaturwissenschafter Lubrich beschäftigt sich auch mit anderen Reiseberichten über Nazi-Deutschland. «Zeitgenossen von Kennedy warnten bereits vor Kriegsbeginn vor dem sich abzeichnenden Genozid. Anders als Kennedy hielten sie sich aber länger im Dritten Reich auf oder waren als professionell Beobachtende dort», sagt Lubrich.
Er verurteilt den jungen Kennedy nicht und verweist auf die Vergnüngungsreisenden der Gegenwart: «Wie viele Menschen reisen heute in Diktaturen und setzen sich mit den dortigen Menschenrechtsverletzungen auseinander?»