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Für den Flüchtlingsstrom aus Syrien und dem Irak gibt es laut dem deutschen Orientalisten Michael Lüders eine Erklärung: Der Westen ist selbst schuld. Indem er sich seit Jahrzehnten immer wieder politisch und militärisch einmischt, hat er die Region nachhaltig zerrüttet. Früher die europäischen Kolonialmächte, heute vor allem die USA. Stellvertretend für diese Haltung der Kommentar eines watson-Users:
Dazu sieben gängige Thesen, entsprechend sieben Gegenthesen und eine deprimierende Konklusion:
Mal ehrlich: Ist nicht jede politische Grenze willkürlich (auch die der Schweiz)? Oder das Resultat kriegerischer Auseinandersetzungen, mögen sie auch eine Weile zurückliegen? Das berüchtigte Sykes-Picot-Abkommen, mit dem die Siegermächte Grossbritannien und Frankreich noch während des 1. Weltkriegs das später unterlegene Osmanische Reich unter sich aufteilten, wird immer wieder als Wurzel allen Übels in der Region genannt.
Die arroganten Europäer hätten in bester Kolonialmanier auf dem Reissbrett irgendwelche Fantasieländer geschaffen, ohne ethnische und konfessionelle Grenzen zu berücksichtigen, heisst es. Das stimmt weitgehend. Die Schlussfolgerung, eine «weisere» Grenzziehung hätte den Nahen Osten vor chronischer Instabilität verschont, ist trotzdem verkehrt:
Nehmen wir einen typischen arabischen Diktator, Ägyptens Ex-Präsident Hosni Mubarak, korrupt, autoritär, knapp 30 Jahre an der Macht. War er eine Marionette der USA, weil er für die Aufrechterhaltung des Friedensabkommen mit Israel jedes Jahr 1,5 Milliarden Dollar Militärhilfen erhielt? Vielleicht. Allerdings tat dies auch sein demokratisch gewählter Nachfolger Mohammed Mursi, der zudem ebenfalls einen autoritären Regierungsstil pflegte. Er monopolisierte die Macht in den Reihen seiner Getreuen, in diesem Fall der Muslimbrüder. Darauf folgte 2013 unter dem Jubel der enttäuschten Bevölkerung der Militärputsch durch General Abdel Fattah el-Sisi, dem heutigen Präsidenten. Dieser agiert sogar noch repressiver. Bei all diesen Vorgängen nahm der Westen eine Zuschauerrolle ein. Marionette oder nicht scheint für die ägyptische Bevölkerung einerlei.
Nicht immer, sondern immer weniger. Manchmal geht es 13 Jahre lang um iranische Nuklearenergie. Manchmal geht es um eines von zehn Ländern in der Region mit geringen oder gar keinen Erdölvorkommen: Afghanistan, Bahrain, Israel, Jemen, Jordanien, Libanon, Marokko, Syrien, Tunesien und Ägypten. Zugegeben, knapp die Hälfte der weltweit nachgewiesenen Erdölreserven liegen im Nahen Osten.
Das ist viel – und offenbar genug, um in der Vergangenheit Interventionen des Westens zu provozieren:
Eigentlich ging es beim Putsch von 1953 im Iran gar nicht ums Öl. Entscheidend war die Beteiligung der CIA – und der damalige US-Präsident Eisenhower kümmerte sich nicht gross um die Wirtschaftsinteressen Grossbritanniens. Erst als ihm Churchill den Floh ins Ohr setzte, dass Iran unter Mossadegh unter sowjetischen Einfluss gerate, gab er sein Einverständnis für die Aktion.
Heute leben wir in anderen Zeiten. Während der Erdölpreis auf dem Höhepunkt des Irakkriegs 2007 ein Rekordniveau (knapp 150 Dollar pro Fass) erreichte, reagiert der Weltmarkt inzwischen kaum mehr auf Verwerfungen in der Region. Als Irans Erdölexporte wegen der Wirtschaftssanktionen um fast die Hälfte einbrachen, hatte dies keinen nennenswerten Einfluss auf den Erdölpreis. Dies nicht zuletzt darum, weil die USA seit jener Höchstmarke wieder massiv in die eigene Förderung investiert haben.
Das stärkste Indiz, dass der Erdlöpreis anderen Faktoren unterliegt, ist die Terrorherrschaft des Islamischen Staats. Aktuell kostet das Schwarze Gold nur noch 45 Dollar pro Fass. Das ist mindestens so bedrohlich wie teures Öl: Die Monarchien am Golf brauchen langfristig einen doppelt so hohen Ölpreis für ihre Staatshaushalte. Was ist besorgniserregender als ein reiches Saudiarabien? Ein armes Saudiarabien ...
Eine These, die nicht nur westliche Antisemiten, sondern offiziell auch arabische Staaten sowie Iran vertreten. Palästinenser können mit einigem Fug und Recht behaupten, dass der Staat Israel die Wurzel vieler ihrer Probleme ist. Für die arabischen Regierungen hingegen ist der endlose Konflikt vor allem eine zynisch-bequeme Möglichkeit, vom eigenen Versagen abzulenken.
Ungeachtet der Lippenbekenntnisse für die Unabhängigkeit Palästinas haben die Golfstaaten angefangen, mehr oder weniger diskret mit Israel Handel zu treiben, obwohl sie keine diplomatischen Beziehungen unterhalten. Selbst Iran tat dies inmitten seiner revolutionären Sturm- und Drangphase in den frühen 1980er-Jahren: Im Iran-Irakkrieg lieferte Israel der Islamischen Republik Waffen – verglichen mit einem möglichen Sieg Saddams das kleinere Übel, wie die damalige Likud-Regierung fand. Realpolitik pur, keine Mutter aller Probleme.
Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Länder ist im Grundsatz eine löbliche Haltung. Zumindest würde dann offensichtlich, was (nicht) passiert, wenn ausländische Interventionen ausbleiben. Die Annahme, dass so im Nahen Osten endlich rechtsstaatliche Strukturen gedeihen könnten, ist dennoch gewagt. Niemand mischt sich zum Beispiel in die Angelegenheiten Saudiarabiens ein, weder in die inneren noch in die äusseren. Was ist das Resultat? Eines der weltweit repressivsten Regimes, das in Syrien salafistische Rebellengruppen finanziert und im Jemen einen Angriffskrieg mit tausenden zivilen Opfern führt. Also doch nicht sich selbst überlassen? Siehe Punkt 6.
Die selbst-auferlegte Rote Linie war 2013 mit dem Einsatz von Chemiewaffen überschritten. Die US-Marine stand im Mittelmeer bereit, um Cruise Missiles auf Damaskus regnen zu lassen. Dann brachten US-Aussenminister John Kerry und sein russischer Amtskollege Sergei Lawrow die Zerstörung des syrischen Chemiewaffen-Arsenals ins Spiel. Obama sagte die Militäraktion gegen Baschar Assad im letzten Moment ab. Seither fragen sich einige, was wohl heute wäre, hätte den Commander-in-Chief damals nicht der Mut verlassen. Vielleicht wäre der Konflikt heute beigelegt. Vielleicht wäre das Assad-Regime kollabiert und Damaskus heute in den Händen des Islamischen Staats. Wir werden es nie wissen. Eine positive Wirkung ist nach heutigem Erkenntnisstand schwer vorstellbar.
Dann wäre da noch das abschreckende Beispiel Libyens. Praktisch im letzten Moment, bevor Muammar Gaddafi die Opposition in und um Bengasi zerschlug, kam der Westen den Rebellen 2011 mit einer Militäraktion zu Hilfe. Am Ende war der Diktator geschlagen und wurde von den Rebellen exekutiert. Applaus von allen Seiten, der Arabische Frühling hatte in einem weiteren Land gesiegt. Doch ohne Gaddafi versinkt Libyen im Chaos und läuft Gefahr, ein Aussenposten des Islamischen Staats zu werden. Wäre es besser gewesen, Gaddafi an der Macht und ihn den Aufstand niederschlagen zu lassen? Glück hat, wer solche Fragen nicht beantworten muss. Man könnte sie sich ebenso bezüglich Irak und Afghanistan stellen.
Wenn es nicht der Westen ist, der im Orient alles kaputt macht, dann müssen es die Religionen sein. Angesichts der blutigen Konflikte drängt sich dieser Schluss geradezu auf:
Spielt(e) Religion in diesen Kriegen eine Rolle? Sicher. Aber längst nicht die entscheidende:
Dass Europa und die USA im Nahen Osten schwere aussenpolitische Fehler begangen haben, steht ausser Zweifel. Ihnen die Hauptschuld an der Apokalypse in Syrien zu geben, wie das einige im Westen und leider auch viele in der Region tun, greift aber zu kurz. Die Tragik (und Arroganz) dieser Sichtweise liegt im Umkehrschluss, dass nur der Westen es wieder richten kann. Ein Steilpass für die nächste Intervention, die zwar nicht im Alleingang wieder Generationen versaut, ziemlich sicher aber auch die anvisierten Ziele verfehlen wird.
Vielleicht gibt es keine kleineren und grösseren Übel im Nahen Osten, sondern nur mehrere ungefähr gleich grosse. Vielleicht ist es eine Fehlannahme, dass für jedes Problem auch eine Lösung existieren muss. Vielleicht ist das einzige, was der Westen in der Region tun kann, aufzuhören, sich für seine Probleme verantwortlich zu fühlen*.
*Entbindet nicht von der humanitären Pflicht, Kriegsflüchtlingen Schutz zu gewähren.
Was jetzt wichtig wäre, ist endlich eine Lösung für die Probleme zu finden, und nicht einfach weiter zu wursteln.
Was mich ein wenig stört, ist das der Autor davon ausgeht, dass der Westen nur 2 Möglichkeiten hat: Entweder militärisch zu "intervenieren", oder sich rauszuhalten.
Gibt es nicht noch Mittelwege? Was ist mit lösungsorientierter, realpolitischer, nicht von nationalen Interessen (z. B. wirtschaftliche, und dazu zähl ich auch den Waffenexport) geleiteter Diplomatie?