Wie stellen Sie sich Ihre letzten Jahre auf Erden vor? Wie soll Ihr Ende aussehen?
Arno Schmidt-Trucksäss: Ich stelle mir vor, dass ich zu Hause lebe und nicht in ein Pflegeheim muss. Dass ich die täglichen Verrichtungen des Alltags selber erledigen kann und dabei auch noch viel Freude habe. Dass ich also bis kurz vor dem Tod gesund bleibe.
Wie gelingt ein solches Szenario – möglichst alt und gesund sterben? Sie sprechen von «slow aging»?
Indem man die Krankheiten, die im Alter entstehen, möglichst weit zurückdrängt. Also den Beginn dieser Krankheiten aufhält. Dafür sollten wir die körperliche Aktivität frühzeitig in unser Leben integrieren. Über die körperliche Aktivität nehmen wir positiv Einfluss auf die Risikofaktoren, welche den chronischen Erkrankungen zugrunde liegen.
An welche Erkrankungen denken Sie?
Zum Beispiel nehmen wir mit Sport positiven Einfluss auf den Zuckerstoffwechsel, was Diabetes vermeidet. Durch körperliche Aktivität beeinflussen wir auch das Cholesterin im Blut, das verantwortlich ist für koronare Herzerkrankungen. Und die sportliche Tätigkeit hilft uns vor allem auch gegen Entzündungen im Körper. Diese stellen einen grundsätzlichen kardinalen Mechanismus dar, zum Beispiel für die Entstehung von Krebserkrankungen. All diese Dinge können wir durch körperliche Aktivität positiv beeinflussen.
Dann sollte man in Alterswohnungen eher Treppen ein- statt ausbauen?
Ja, das würde ich auf jeden Fall befürworten. Wir denken traditionell in die Richtung, dass wir im Alter Hindernisse aus dem Weg räumen. Natürlich gehören keine Stolperfallen in unseren Alltag, aber es ist falsch, die Treppen aus dem Haus zu verbannen. Treppen stellen für den älteren Menschen ein alltägliches Training dar. Jeder Treppengang ist ein Krafttraining. Neuere Studien mit Menschen im Alter von 50 bis 60 Jahren zeigen, dass man die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklung von koronaren Herzerkrankungen um 20 Prozent senken kann, wenn man insgesamt mindestens 15 – 20 Stockwerke pro Tag bewältigt.
Als Sie bei Ihrem Referat am Sportärztekongress sagten, man solle besser mit Sport beginnen als mit Rauchen aufhören, ging ein Raunen durch den Saal! Eine ziemlich provokative Aussage!
Es war natürlich etwas provokant ausgedrückt. Ich bin überhaupt kein Verfechter des Rauchens und auch kein Befürworter von übermässigem Alkoholkonsum. Ich wollte nur deutlich machen, dass das Risiko, zu sterben, bei einer schlechten körperlichen Fitness viel höher ist als durch permanentes Rauchen oder einen erhöhten Alkoholkonsum, selbst bei bereits bestehenden chronischen Krankheiten wie Diabetes. Wir müssen deshalb umdenken und körperliche Aktivität als Medizin viel stärker in unser Leben integrieren, als es derzeit der Fall ist. So drängen wir Risikofaktoren und chronische Erkrankungen entscheidend zurück.
Worauf stützen Sie diese These?
Sie stützt sich auf drei grosse Studien und Entwicklungen der letzten Jahre. In einer Beobachtungsstudie über 10 Jahre bei 750'000 Menschen wurde aufgezeigt, dass eine unterdurchschnittliche Fitness durch körperliche Inaktivität das Todesrisiko um das 3-Fache steigert, währenddem das Risiko als Raucher oder Patient mit Diabetes nur um das 1,4-Fache erhöht ist. Die zweite Untersuchung erhebt den sogenannten Euroscore. Dieser erfasst das Risiko für die Entstehung einer koronaren Herzerkrankung. Durch die zusätzliche Messung der Unterschiede der körperlichen Fitness konnte man die Voraussage einer koronaren Herzerkrankung deutlich schärfen. So stark schärfen, dass man eigentlich die körperliche Fitness zwingend in eine Risikoabschätzung zu dieser Erkrankung integrieren müsste. Man sollte zusätzlich zu den anderen Risikofaktoren unbedingt auch die Fitness auf dem Fahrrad- oder Laufbandergometer messen. Damit erhält man eine viel stärkere Aussage zur zukünftigen Entstehung von chronischen Erkrankungen, insbesondere von Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Und die dritte Studie?
Es handelt sich um eine grosse Untersuchung in Norwegen – die sogenannte «Generation 100 Study». Man hat dabei Personen zwischen 70 und 77 Jahren während fünf Jahren trainiert. Es wurde aufgezeigt, dass insbesondere das sogenannte «High Intensity Interval Training» besonders effektiv war, Todesfälle zu reduzieren. Das ist der stärkste Nachweis in einer Studie mit dem «Medikament Bewegung» dafür, wie sehr regelmässiges körperliches Training auch im Alter von siebzig Jahren geeignet ist, um Erkrankungen und Todesfälle zurückzudrängen.
Aber in der Sprechstunde werde ich höchstwahrscheinlich zuerst zu mässigem Alkoholkonsum und Rauchverzicht animiert, bevor mir der Hausarzt erklärt, ich solle nun intensiv Sport treiben. Müsste man die Senioren also vermehrt zum Sportmediziner schicken?
Ja, das sollte man tun – und mit diesem Verständnis die Förderung der Fitness in die Therapie integrieren. Wir wissen, dass die kurative Medizin – also die reine Behandlung von Risikofaktoren – in der Zurückdrängung von chronischen Erkrankungen limitiert ist. Wir vergessen dabei, gerade weil die Menschen immer älter werden, das Erhalten beziehungsweise Verbessern der körperlichen Funktion. Das kann nur übers Training erreicht werden. Und nur darüber können wir wirklich Einfluss nehmen auf das Zurückdrängen von Risikofaktoren und Erkrankungen. Es werden zwar auch in der Schweiz immer mehr Sportmediziner ausgebildet, aber leider liegt der Anteil der Mediziner mit interdisziplinärem Schwerpunkt Sport- und Bewegungsmedizin derzeit noch bei geringen 1,5 Prozent. Es sollten viel mehr sein.
High Intensity Interval Training tönt eher nach Spitzensport als nach Altersturnen! Welche konkreten Ratschläge können Sie dem Senior geben, wenn er sich Ihrem Alterstraum anschliessen will?
Das hört sich tatsächlich nach Spitzensport an, ist aber selbstverständlich adaptiert an den älteren Menschen. Einige Praxisbeispiele: zügig anstatt gemächlich gehen, Treppen steigen, anstatt sich in der Ebene bewegen. In der norwegischen Studie wurde das Training beispielsweise auf dem Fahrrad-Ergometer durchgeführt. Es gibt Trainingsinstrumente, mit denen wir ganz dosiert und gezielt die Intensität, die zur Verbesserung der Fitness notwendig ist, ansteuern können. Das ist eine spezifische sport- und bewegungsmedizinische Kompetenz. Es gibt aber auch immer mehr mit Sportmedizinern kooperierende Fitness-Einrichtungen, die es verstehen, diese Art von Training in den Gesundheitsalltag älterer Menschen zu integrieren.
Und wenn man bisher eher auf der faulen Haut lag – bringt dann ein zweites Leben als sporttreibender Rentner überhaupt noch etwas?
Auf jeden Fall. Es ist nie zu spät. Man kann auch noch als Hundertjähriger mit Trainieren beginnen. Man sollte sich nie sagen, jetzt ergibt es keinen Sinn mehr. Aber selbstverständlich ist ein frühes Einsetzen von Fitnesstraining umso wirksamer. Durch Aufbau von Muskulatur und einer guten Herz-Kreislauf-Funktion kann man auch spät im Leben noch Einfluss nehmen auf das Vermeiden von Gebrechlichkeit. Wir wünschen uns schliesslich alle, dass wir im Alter nicht pflegebedürftig und von fremder Hilfe abhängig werden. Dass wir beispielsweise aus dem Sessel aufstehen oder ohne Hilfe über einen Fussgängerstreifen gehen können. Körperliche Fitness beeinflusst auch die soziale Integration und die Teilhabe am Leben.
Welche Schritte sind notwendig?
Mir ist wichtig, zu betonen, dass wir ein generelles Umdenken von der kurativen Medizin hin zur Integration einer Lebensstilmedizin brauchen. Wir geben in der Schweiz jedes Jahr rund 90 Milliarden Franken für kurative Medizin und nur 1,5 Milliarden für Prävention aus – und davon nur 300 Millionen Franken für Bewegungsintervention. Und einen ebenso kleinen Teil für Ernährungsintervention. Ich denke, wir müssen den Anteil der Prävention deutlich stärken. Damit entlasten wir das Gesundheitssystem erheblich. Man kann aus grösseren Studien sagen, dass man durch die Investition von einem Franken in die Lebensstil-Medizin drei Franken einspart. Man sollte dabei lediglich einen etwas längeren Atem haben, als es in der Politik leider üblich ist. Der Reward dauert nun mal eine Weile. Man sollte langfristig in der Grössenordnung eines Jahrzehnts denken.
Und es benötigt zwingend mehr Sportmediziner?
Ja, aber auch der normale Hausarzt sollte in der Lage sein, in der Sprechstunde zumindest die zwei wichtigsten Fragen anzusprechen: Wie oft bewegen Sie sich in der Woche? Und in welcher Zeitdauer und mit welcher Intensität? Wenn man dabei die Leitlinie von wöchentlich 150 bis 300 Minuten moderater oder 75 bis 150 Minuten intensiver körperlicher Aktivität erfüllt, dann ist es wunderbar. Wenn es aber nicht der Fall ist, dann sollte das medizinische Umfeld wissen, wo sich der nächste Sportmediziner für die Einschätzung von Fitness und Belastbarkeit und das nächste Fitnesscenter oder ein gesundheits- und bewegtes orientiertes Angebot befindet und die Patienten darauf aufmerksam machen. Sie tragen damit zu einem guten und langen Leben bei. (riz/aargauerzeitung.ch)
Und statt nur nach Bewegung zu fragen könnte auch direkt Beispiele für Bewegung jenseits des 'klassischen' Sports gebracht werden. Der war für mich bei der Matura nach 12 Jahren Schulsport gründlich verbrannt, bis ich meine Bewegungsform gefunden habe.