Frau Bruchhaus Steinert, wie stehen Sie ganz grundsätzlich zu Addyi, der «Lustpille» für die Frau?
Helke Bruchhaus Steinert: Aus medizinischer und therapeutischer Sicht bleibe ich im Moment noch eher skeptisch, ob dieses Produkt tatsächlich etwas bewirkt.
Die Lustpille für den Mann ist seit vielen Jahren erfolgreich, warum sollte es hier anders sein?
Weil die beiden Produkte ganz unterschiedlich funktionieren. Viagra für den Mann setzt direkt beim Penis an, indem es dort die Durchblutung fördert. Das Produkt für die Frau löst jedoch keine Erregung direkt am Geschlechtsorgan aus. Es versucht viel mehr, Prozesse im Gehirn zu steuern, um die sexuelle Lust zu fördern.
Und warum sollte das Ihrer Meinung nach nicht funktionieren?
Die Prozesse, die dort im Hirn beeinflusst werden, sollen dafür sorgen, dass beispielsweise Dopamin und Noradrenalin auf einem hohen Niveau sind. Diese Wirkstoffe sind für Antrieb und Aktivität zuständig. Die Idee dahinter lautet also: Wenn wir diesen Hormonen viel Platz geben, dann haben die Frauen mehr Lust und wollen mehr. In Wahrheit ist das aber nur ein ganz kleiner Teil-Aspekt bei der Frage nach der Lust.
Von dem Produkt erwartet man sich also zu viel?
Ganz genau. Es mag sein, dass mich diese Pille rein physiologisch auf das richtige Niveau bringt. Aber deswegen ist die Situation, die mich sexuell anspricht, noch lange nicht gegeben. Ich bin dann vielleicht grundsätzlich in einer passenden Stimmung, aber trotzdem bleibe ich sexuell nicht ansprechbar – weil mir vieles andere auch noch fehlt.
Welches sind denn die anderen Aspekte, die nötig sind, damit Lust entsteht?
In meinem klinischen Alltag höre ich immer wieder, dass Frauen Beachtung finden und sich begehrt fühlen wollen. Das aber nicht nur unmittelbar im sexuellen Kontakt – also nicht erst beim Vorspiel – sondern bereits davor. Die Sache mit dem Kerzenlicht und der Candlelight-Stimmung ist eben doch kein blödes Klischee. Frauen wollen merken, dass sie erotisch angesprochen werden – und das braucht seine Zeit. Während viele Männer eher sagen: «Ich kann auch mal schneller, ich brauche dafür nicht das ganze ‹Drumrum›.»
Gibt es in der Schweiz einen Markt für diese Pille, haben die Schweizerinnen ein Bedürfnis danach?
Die Frauen, die zu mir kommen, haben glaube ich weniger den Wunsch des «Ich will jetzt unbedingt können». Die würden eher sagen: «Dann bin ich wieder diejenige, die können muss. Das macht die Sache für meinen Mann ja noch einfacher.» In den meisten Fällen formulieren die Frauen ihren Wunsch eher folgendermassen: «Ich möchte von meinem Mann mehr Aufmerksamkeit bekommen. Und dann wäre ich auch durchaus sexuell ansprechbar.»
Sie haben also keine Angst, dass die Lustpille für die Frau Ihnen die Patientinnen wegnimmt?
Nein, auf keinen Fall. Ich führe aber vor allem Paartherapien durch. Das schränkt meine Sicht darauf natürlich etwas ein. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Frauen gibt, die ganz grundsätzlich an einem Lustmangel leiden – die sagen würden: «Wenn es nach mir ginge, bräuchte ich überhaupt keinen Sex – weder mit meinem Mann, noch sonst irgendwie.» Solche Frauen wenden sich mit ihrem Problem vielleicht eher an ihren Gynäkologen. Und da möchte ich nicht ausschliessen, dass es Frauen gibt, denen eine solche Pille helfen könnte.
In gewisser Weise macht dieses neue Produkt die Lustlosigkeit aber auch zu einer Krankheit.
Absolut. Die Lust der Frau wird pathologisiert und man sieht sie nicht mehr als wichtigen Hinweis für ein sonstiges Bedürfnis – in der Beziehung, in der gemeinsamen Zeit, im spielerischen Umgang miteinander und und und. Darum bin ich zusätzlich skeptisch. Mit diesem Mittel wird das Problem der Lust sozusagen «wegtherapiert». Das kann der Erotik und einer Verhaltensänderung, die oftmals nötig wäre, den Wind aus den Segeln nehmen.
Kritiker führen auch das Problem der Nebenwirkungen an.
Da bin ich auch sehr kritisch. Mit Blutdruckabfall, Schwindel und Ohnmachtsanfällen sind diese ja doch erheblich.
Was glauben Sie, wie lange es dauern wird, bis das Produkt in die Schweiz kommt?
Diese Frage kann ich nur schwer beantworten. Es hängt ja auch davon ab, ob die hiesige Pharmabranche sich damit einen Gewinn ausrechnen würde. In den USA hat man vielleicht auch eine andere Einstellung zu Medikamenten. In meiner subjektiven Einschätzung sind Schweizer diesbezüglich zurückhaltender. Die sagen eher: «Ich versuche es erst einmal anders und nehme Medikamente erst dann, wenn es unbedingt sein muss.»
Angenommen, das Produkt kommt in die Schweiz: Würden Sie es Ihren Patientinnen empfehlen?
Weil ich grundsätzlich neugierig bin, würde ich es nicht von Vornherein ausschliessen. Ich würde es vielleicht einer Frau verschreiben, mit der ich in engem Kontakt stehe, mit der ich auch direkt die Folgen besprechen kann – und die vor allem rein körperlich absolut gesund ist. So ist es ja immer mit neuen Produkten: Sie können einen neuen Erkenntnisgewinn bringen, aber man muss sie erst einmal mit Vorsicht geniessen.
Vielleicht wünschen sich das Frauen genau das, häufiger Lust zu verspühren. Warum nicht?
Der Ansatz passt sehr gut zum American Way of Gesundheit, wo man sich tendenziell lieber eine Pille reinschmeisst, um sich nicht mit den Ursachen eines Problems auseinandersetzen zu müssen.