Wir lieben Menschen mit Asperger-Syndrom! Jedenfalls wenn sie Dr. House, Saga Norén, Sherlock Holmes oder Sheldon Cooper heissen und erfunden sind. Brutal egomane, nerdige Genies mit amüsanten Kommunikations-Störungen, Zwangsneurosen und Phobien. Das Asperger-Syndrom gilt als eine milde Variante innerhalb des Austismusspektrums. Die amerikanische Autorin Rudy Simone ist selbst ein «Aspie» – so nennt sie Menschen mit Asperger-Syndrom.
Weihnachten naht. Haben Sie Angst, Geschenke
zu kriegen?
Ich bin keine Christin, ich krieg eh keine Weihnachts-Geschenke.
Aber ja, für Aspies ist es oft schrecklich, überrascht zu werden. Sie wissen dann, dass jemand für sie Geld ausgegeben
und sich Gedanken gemacht hat, aber sie finden das Geschenk trotzdem scheisse
und können dies auch nicht verbergen.
Was ist Ihre Lösung?
Ich mach das ganz unromantisch. Ich sage:
Ich will genau das, schenk mir nichts anderes, sonst verschwendest du bloss
dein Geld.
Das ist ja eigentlich für beide Seiten ganz
praktisch.
Ja! Angenommen mein aktueller, schwer autistischer Liebhaber käme trotz allem auf die Idee, mir was zu Weihnachten
schenken zu wollen, würde ich ihm nichts direkt aufdrängen. Aber ich würde sagen:
Schmuck wäre schön!
Und wäre er froh darüber?
Ja sicher. Er müsste dann nicht mühsam
versuchen, meine möglichen Wünsche zu erahnen. Leider kann er sich den Schmuck
nicht leisten.
Hassen Sie eigentlich alle Überraschungen?
Was ich gar nicht ausstehen kann, ist, wenn
jemand unangemeldet an meiner Tür klingelt. Ich sage immer: Selbst wenn Colin
Farrell nackt auf einem Einhorn vor meiner Tür stünde, ich würde ihn zum Teufel
jagen! Aber ich habe gelernt, andere Überraschungen zu schätzen. Zum Beispiel Schmuck
oder Einladungen zum Essen. Einfach war das nicht, ich musste dazu meine Komfortzone brutal verlassen.
Meine Kollegin Anna Rothenfluh lässt Sie
fragen, ob Sie Aspies auf den ersten Blick erkennen können. Und ob Sie nicht
mal bei uns durch die Redaktion gehen und die Aspies unter uns identifizieren könnten.
Oh ja, spielen wir «Finde den Aspie»! Mein
Lieblingsspiel! Wir stellen alle hinter eine Wand und fragen: «Was ist deine
liebste TV-Serie?» Wer «Big Bang Theory» sagt, ist ein Aspie. Leider geht es
nicht so einfach, auch wenn ich gerne Asperger-Diplome aushändigen möchte. Die
Typen, die bei euch gerade auf dem Flur Pingpong spielen, sehen jedenfalls nicht
sehr autistisch aus.
Schauen Sie die «Big Bang Theory»?
Nein. Aber alle sagen, ich muss. Weil dieser Sheldon
Cooper ein Vorzeige-Aspie sei. Das Problem ist bloss: Wenn ich eine Serie
schaue, muss ich alles sehen. Da kann ich mich auch nicht auf eine einzelne
Staffel beschränken. Aber ich liebe «Penny Dreadful», ich tendiere sehr zum
Gothic Horror und zu Serienkillern. Und «Sherlock» ist grossartig.
Ist die Zunahme der Menschen, bei denen ein
Asperger-Syndrom diagnostiziert wird, eine Folge der digitalen Revolution?
Absolut, sie ist zu einem grossen Teil dafür
verantwortlich. Da hatte man all die Menschen, die vor dem Internet in grosser
Verwirrung durch ihr Leben strauchelten und sich für vereinzelte Freaks
hielten. Als ich den Begriff «Asperger» zum ersten Mal hörte, klang das für
mich wie eine seltsame Burger-Variante mit Fleisch, das vom falschen Ende der
Kuh kommt. Mit dem Internet haben wir Informationen und Leidensgenossen
gefunden.
Ist der virtuelle Raum nicht auch sowas wie
ein Aspie-Paradies?
Für einige sicher. Aber wie jede eskapistische
Sucht – Videogames, Netflix, Drogen, Alkohol –, ist auch diese gefährlich. Als ich jung
war, habe ich zum Beispiel wie verrückt meine Sinnenswahrnehmungen trainiert. Um
dann zu merken, dass ich mich in einen vollkommenen Kontrollfreak verwandle.
Auch totale Kontrolle ist eine Art von Eskapismus.
Ist es schwierig, Freude zu lernen?
Nein, ich bin jemand, der sich über vieles
freut und vieles geniessen kann. Das Problem ist bloss, dass mir noch viel mehr
Schmerzen bereitet. Wie viele Aspies bin ich hypersensitiv. Grundsätzlich habe
ich immer körperliche Schmerzen, ausser, wenn ich mich freue.
Leiden Sie jetzt gerade unter Schmerzen?
Ja! Es ist nicht ein klarer Schmerz, kein
Kopfschmerz oder so. Eher, als würde man ganz leicht unter Strom stehen, so ein
elektrisches Kribbeln im ganzen Körper, das mich packt, sobald ich mit Menschen
zusammen bin. Es ist wie so ein animalischer Fluchtinstinkt.
Und was würden Sie tun, wenn Ihnen wohl wäre?
Dann würde ich am liebsten auf diesen Tisch
hier springen und singen! Aber sowas tut man nicht in unserem Alltag.
Sie haben bereits ein Buch über Frauen mit
Asperger geschrieben, über die «Aspergirls», jetzt eins über Männer. Was
unterscheidet die beiden?
Grundsätzlich hassen Aspies eine Aufteilung
nach Geschlechtern, Rassen oder Alter, sie ignorieren die Hülle eines Menschen vollkommen.
Okay, ich rede jetzt hier sehr normativ. Einem Mann kann man einen Computer
geben, er verschwindet damit, vergisst den Rest der Menschheit und ist
zufrieden. Seine Probleme kann er perfekt ausblenden. Eine Frau spürt, dass was
nicht stimmt, sie wird zur Detektivin, zermürbt sich, sucht nach Gründen und
Schuld und zieht sich noch mehr in sich selbst zurück. Ihr Leben wird unendlich
kompliziert.
Asperger klingt eigentlich wie die perfekte
Entschuldigung für jeden Beziehungsphobiker: Er vergisst alles, schert sich
nicht um Romantik, ist rücksichtslos und egoistisch.
Ich höre oft die Klage: Wenn er kein Aspie
wäre, so wäre alles perfekt! Ich sage dann: Vielleicht, aber vielleicht würdet
ihr auch dann nicht zusammen passen. Liebe ist zwar die beste Motivation, aber
der Aspie wird sich selbst dadurch nur ein winziges bisschen verändern. Es ist
unmöglich, über ihn Kontrolle zu erlangen, wir können bloss unsere Reaktion auf
ihn kontrollieren.
Was können Aspies gut?
Ein Freund von mir ist zum Beispiel der beste
Vater der Welt. Er kann sich total in dieser Aufgabe verlieren und darin
aufgehen, sie strengt ihn überhaupt nicht an.
Und was ist ihr grösstes Problem?
Der Arbeitsmarkt. Gerade in
Amerika sind Einzelkämpfer und Individualisten nicht mehr gefragt. Es geht nur
noch ums Team. Wenn dann noch der Druck einer Wirtschaftskrise hinzukommt,
haben Aspies so gut wie keine Chancen mehr.
Ihr Kapitel über das Schlafen hat mich sehr
gerührt. Sie schreiben, dass die richtigen Stoffe total wichtig sind, damit ein
Aspie darin schlafen kann. Ich musste sofort an weichen Flanell denken.
Die Beschaffenheit der Laken und des Pyjamas,
die Temperatur und das Gewicht der Decke sind irrsinnig wichtig. Natürlich kann
man sich bis zu einem gewissen Grad über Therapien desensibilisieren. Ich habe das dank Schlaftabletten geschafft. Davor schlief ich so gut wie nie, oft blieb ich vier Tage lang hintereinander wach. Heute brauche ich keine
Tabletten mehr.
Vor wenigen Tagen haben Sie sich entschieden, nach einem längeren Aufenthalt in Frankreich ganz dazubleiben. Wieso?
Ich bin offiziell ein politischer
Flüchtling. Wenn mich jemand adoptieren oder sich meines Falls annehmen will,
bitte! Nein, Quatsch. Eigentlich hätte ich vor ein paar Tagen zurück fliegen
sollen, aber jetzt, nach der Wahl, kann ich mir nicht vorstellen, je wieder
zurückzukehren. Ich habe schon überall
gelebt, in Europa, Asien, Neuseeland und es gefällt mir überall besser als in
Amerika, ich spüre einfach keine innere Verbindung zu dem Land.
Kein Fünkchen Patriotismus?
Der ganze amerikanische Nationalstolz ist doch
bloss Gehirnwäsche. Ironischerweise habe ich meinen ersten Preis als Autorin
für einen Essay mit dem Titel «Wieso ich stolz bin, Amerikanerin zu sein»
erhalten.
Wie jung waren Sie da?
Zwölf.