Schon die kleinste Verletzung, ein Schnitt oder Aufprall können äussere und innere Blutungen auslösen, die kaum zu stoppen sind. Unbehandelt verbluten Betroffene der Hämophilie-Erkrankung, einer erblichen Gerinnungsstörung des Blutes, die vor allem Männer betrifft und die bis vor kurzem unheilbar war.
Dann kam die Gentherapie Hemgenix des Biotechnologie-Unternehmen CSL Behring, die 2022 in den USA zugelassen wurde. Sie kann Hämophilie B, eine sehr seltene Form der Bluterkrankheit, an der in der Schweiz rund 70 Personen leiden, heilen - mit nur einer erlösenden Spritze. Bekannt geworden ist sie allerdings auch als das «teuerste Medikament der Welt», die Zahl 3.5 Millionen Dollar pro Infusion machte Schlagzeilen.
Jetzt wurde das Mittel auch von Swissmedic zugelassen. Zum jetzigen Zeitpunkt könnten die Kosten für die Schweiz nicht kommentiert werden, teilte CSL Behring auf Anfrage mit. Denn die Verhandlungen über den Preis und die Kassenzulässigkeit liefen noch. Wichtig sei allerdings, schreibt CSL Behring, die Kosten angesichts dessen zu bewerten, dass die Patienten sich bis anhin prophylaktisch und ein Leben lang den fehlenden Gerinnungsfaktor spritzen müssten.
Fast sicher ist, dass der Preis von Hemgenix denjenigen der Gentherapie Zolgensma übertreffen wird. Zolgensma wird zur Behandlung von Kleinkindern mit spinaler Muskelatrophie (SMA) angewendet und kostet rund 2 Millionen Franken. Ein ähnliches Preisschild vermuten Fachleute für neue Therapien mit der Genschere CRISPR/Cas9. Die erste derartige Behandlung wurde im vergangenen Jahr in Grossbritannien und den USA gegen die Sichelzellanämie und Beta-Thalassämie zugelassen. Auch personalisierte Zelltherapien in der Krebsmedizin machten wegen ihrer hohen Wirksamkeit und gleichzeitig hohen Kosten immer wieder auf sich aufmerksam.
Zweifelsohne geben all diese innovativen Therapien bislang unheilbar kranken Menschen Hoffnung. Gleichzeitig hiess es bereits 2014 in einem Bericht der Stiftung für Technologiefolgen-Abschätzung TA-Swiss, dass «die Möglichkeiten der personalisierten Medizin eine gesellschaftliche Diskussion nötig machen werden, welche Solidarität ein soziales Versicherungssystem zu tragen bereit ist - und welche nicht».
Die Theologin und Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle ist Institutsleiterin bei der Stiftung Dialog Ethik, die sich der Frage nach dem bestmöglichen Handeln im Gesundheits- und Sozialwesen widmet. Sie sagt: «Die Politik wäre gefordert, den gesellschaftlichen Diskurs zu diesem wichtigen Thema anzuregen. Aber sie schweigt sich dazu seit Jahren aus.»
Dies, obschon Bundesrat Ignazio Cassis bereits 2011, damals noch als FDP-Nationalrat, ein Postulat im Parlament eingereicht hat. Titel: «Wie viel soll die Gesellschaft für ein Lebensjahr zahlen?» Er wollte vom Bundesrat wissen, bis zu welchem Punkt und unter welchen Bedingungen die Bürgerinnen und Bürger die medizinischen Kosten, die die Krankheit eines einzelnen Menschen verursacht, solidarisch mittragen müssen. Das sei eine zentrale Frage für die Zukunft des Gesundheitssystems und der sozialen Krankenversicherung, zu der eine politische Debatte in der Schweiz - anders als in anderen Ländern - bisher nicht stattgefunden habe.
Daran geändert hat sich denn auch kaum etwas. Immerhin hat die Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin (NEK) 2020 in einer Stellungnahme für das Bundesamt für Gesundheit festgehalten, dass die solidarische Grundversicherung aus ethischer Sicht nicht alles bezahlen muss, was medizinisch möglich ist. Denn: «Die finanziellen Mittel sind beschränkt. Die Frage ist daher, wie wir diese begrenzten Mittel möglichst fair unter den kranken Menschen verteilen», sagt die Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle.
Menschenleben und Gesundheit mit Geld aufzuwiegen, klingt hart, gefühllos, befremdlich. Doch Ökonominnen und Ökonomen tun es ständig - zum Beispiel auch Mitglieder der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes während der Pandemie. Sie hat berechnet, ob sich ein Lockdown lohnt.
Demnach, so die Berechnung, rettet ein vierwöchiger Lockdown, je nach Wirksamkeit der Massnahmen, zwischen 3200 und 4800 Menschenleben - zusammengerechnet beträgt der Wert dieser geretteten Leben mindestes 1.7 Milliarden Franken, höchstens 8.2 Milliarden Franken. Demgegenüber stehen volkswirtschaftliche Kosten des Lockdowns von 1.4 bis 1.8 Milliarden Franken. Fazit: Es lohnt sich wirtschaftlich also grossmehrheitlich, harte Massnahmen durchzusetzen, wenn die Zirkulation eines neuen Virus wie zu Beginn der Coronapandemie hoch ist.
Solche Zahlenspielereien sind nichts Neues. Schon im 17. Jahrhundert berechneten Ärzte und Ökonomen in England den Geldwert eines Menschen, um zu untersuchen, ob es sich für den Staat finanziell lohnt, gegen Krankheit und Armut vorzugehen. Schliesslich könnte ihn das gesunde Arbeits- und Streitkräfte bescheren.
«Es stimmt schon, dass viele Leute es für unethisch halten, einem Menschenleben einen Geldwert zuzuordnen», räumt die Gesundheitsökonomin Elena Keller ein, die an der australischen University of New South Wales in Sydney forscht. Sie beschäftigt sich mit dem Preis-Leistungs-Verhältnis von medizinischen Behandlungen und damit, ob sich diese ökonomisch lohnen.
Für eine Übersichtsarbeit hat Keller gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen über 1400 Studien durchforstet, die sich mit dem Wert menschlichen Lebens beschäftigen. Ein Menschenleben hat demnach nicht nur einen Preis, sondern deren viele: 6.8 Millionen Dollar, wenn es um die Gesundheit geht, 8.7 Millionen auf dem Arbeitsmarkt und 5.3 Millionen im Strassenverkehr. Der Wert eines zusätzlichen Lebensjahrs bewegt sich zwischen 13'000 und 796'000 Dollar.
«Ein weitverbreiteter Irrtum ist, dass diese Beträge den Wert ausdrücken sollen, für den ein Mensch sein Leben eintauschen würde. Aber das ist nicht der Fall», sagt Keller. Es gehe vielmehr um den «Wert eines statistischen Lebens», ein theoretisches Konzept, das in den 70er-Jahren in den USA entwickelt wurde. «Es basiert auf der Zahlungsbereitschaft eines Einzelnen, um ein Todesrisiko auszuschliessen.»
Ein Gedankenspiel zur Veranschaulichung: Stellen Sie sich vor, dass in Ihrer Stadt ein neues Virus umhergeht, das alle ansteckt, aber nur eine Person tötet - man weiss aber nicht, wen. Glücklicherweise gibt es eine wirksame Pille, die vor dem Tod schützt, wenn sie vor der Ansteckung eingenommen wird. Wie viel wären Sie bereit, für die Pille zu bezahlen? Nehmen wir an, alle 10'000 Bewohnerinnen und Bewohner dieser Stadt wären bereit, im Schnitt 100 Franken für die Pille auszugeben. Dann käme insgesamt ein Betrag von 1 Million Franken zusammen. Das entspricht dem Wert eines statistischen Lebens in diesem konkreten Fall.
Der grosse Gegenentwurf zum Wert eines statistischen Lebens ist der Humankapitalansatz. Er leitet den Wert des Menschen aus dessen erwartbarem restlichen Lebenseinkommen ab. Angewendet wurde er zum Beispiel bei der Opferentschädigung nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001. Der amerikanische Anwalt Kenneth Feinberg erhielt vom US-Kongress den Auftrag, mehr als 7 Milliarden Dollar an die Hinterbliebenen anhand des Humankapitals zu verteilen.
2005 hat Feinberg in seinem Buch «What Is Life Worth?» dargelegt, wie ihn die Entscheidungsfindung in ein Dilemma gebracht hat: War es wirklich in Ordnung, 500'000 Dollar der Familie eines Busfahrers zu geben und 2 Millionen derjenigen eines Börsenmaklers? War ein Feuerwehrmann, der sich ins brennende World Trade Center stürzte, um Menschen zu retten, wirklich weniger wert als ein Flugzeugpilot?
Ethisch sind solche Überlegungen mit der Menschenwürde nicht vereinbar. Denn: «Jeder Mensch ist gleich viel wert, sodass die Mittel fair zu verteilen sind», sagt Ruth Baumann-Hölzle. Doch so wie das Gesundheitssystem in der Schweiz derzeit aufgebaut sei, fehlten Entscheidungsfindungsinstrumente für eine faire Leistungs- und Mittelverteilung. «Die mit der stärksten Lobby setzen sich durch und erzielen den grössten Gewinn», sagt sie.
Sowieso sei die Frage nach dem Wert eines Menschenlebens die falsche. «Stattdessen stellt sich die Frage, wie viel wir als Gesellschaft für eine Therapie mit einer bestimmten Wirksamkeit zu bezahlen bereit sind - und wie wirksam diese Therapie im Verhältnis zu anderen Massnahmen ist», so Baumann-Hölzle. Das könnte mittels Schwellenwerten, die das Kosten-Wirksamkeits-Verhältnis festlegen, bestimmt werden - theoretisch. In der Praxis fehle für solche Diskussion und Verhältnisbestimmungen die Transparenz, kritisiert sie.
Erstens wisse man schlicht nicht, wie die Pharmafirmen die Preise für eine Behandlung festlegen, also etwa, wie viele Forschungs-, Entwicklungs- und Marketingkosten hineingeflossen sind. Die Zahlen müssen nicht offengelegt werden. Zweitens werden die finalen Preise dann zwischen der Pharmaindustrie und dem Bundesrat unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt. Sie bleiben also ein gut gehütetes Geheimnis.
Und drittens werde die Wirksamkeit einer Therapie laut Baumann-Hölzle zu wenig umfassend untersucht. «Es werden Therapien in Studien an Patientengruppen getestet, bei denen die grösste Wirksamkeit zu erwarten ist. Wie gut ein Medikament dann aber zum Beispiel bei älteren Personen wirkt, wird oft ungenügend nachverfolgt. Das führt dazu, dass das Gesundheitssystem unter Umständen für sehr teure Therapien aufkommen muss, die bei bestimmten Patientengruppen kaum wirksam sind», so die Ethikerin.
Dass sich bei den Gesundheitskosten etwas ändern muss, ist spätestens seit der drastischen Prämienerhöhung im vergangenen Jahr allen klar geworden. Und tatsächlich tut sich politisch langsam etwas: Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates (GPK-S) hat einen Bericht vorgelegt, der unter anderem verlangt, dass das BAG sein derzeitiges Modell für die Kosten-Nutzen-Bewertung von Medikamenten überprüfen soll. Und dass diese Bewertung wieder, wie noch vor ein paar Jahren, von einer unabhängigen Stelle durchgeführt wird.
Zudem thematisiert der Bericht die ethischen Fragen im Zusammenhang mit der Aufnahme neuer, sehr kostspieliger Medikamente. Es sei unerlässlich, heisst es darin, Grenzen für die Abrechnung solcher Arzneien zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung festzulegen.
Allerdings beinhalte dies heikle Fragen, die nicht allein das BAG beantworten könne. Deshalb verlangt die GPK-S vom Bundesrat, eine faktenbasierte gesellschaftliche Debatte zu diesem Thema anzuregen. Ein entsprechendes Postulat hat sie verabschiedet.
Als Inspiration hierfür soll Schweden dienen: Dort werden solche Debatten auf Basis von staatlich koordinierten regionalen Initiativen gefördert und geführt. Denn nur durch eine öffentliche Auseinandersetzung mit diesem emotionalen Thema, so die Überzeugung der Nationalen Ethikkommission als auch der GPK-S, werden Grenzen zur Kostenübernahme von Medikamenten von der Bevölkerung akzeptiert. (aargauerzeitung.ch)
Die ethische Frage betrifft nicht nur, was ist ein Menschenleben wert, sondern welcher Gewinn ist ethisch vertretbar.