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Otto von Grandson – der letzte Ritter mit einer poetischen Ader

Duell zwischen Otto von Grandson und Gerhard von Stäffis, Darstellung um 1483 in der Amtlichen Berner Chronik von Diebold Schilling.
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Duell zwischen Otto von Grandson und Gerhard von Stäffis, Darstellung um 1483 in der Amtlichen Berner Chronik von Diebold Schilling.Bild: Burgerbibliothek Bern

Otto von Grandson – der letzte Ritter mit einer poetischen Ader

Wie Otto von Grandson (1340?–1397), ein bedeutender Dichter des Mittelalters, in einem Duell ums Leben kam.
18.05.2024, 20:5318.05.2024, 20:53
Alain Corbellari / Schweizerisches Nationalmuseum
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Wir schreiben den 7. August 1397 in Bourg-en-Bresse. Ein spritziger Ritter bestritt einen Gerichtskampf gegen einen alten Hasen, vor dem er zehn Jahre zuvor zweifellos erzittert wäre. Doch an diesem Tag sieht jedermann, dass Otto III. von Grandson nicht mehr der ist, der er mal war. Der junge Gockel, Gerhard von Stäffis, verspeist ihn zum Frühstück.

Dieses Duell war nicht das letzte «Gottesurteil» des Mittelalters, wie es zu oft genannt wurde. Trotzdem ist es für die Anwesenden ein Skandal, denn die meisten glauben nicht mehr an diese Art von Prüfung. Bleiben die Augen des sehr jungen (und ersten) Herzog von Savoyen, Amadeus VIII., späterer Gegenpapst Felix V., trocken? Otto galt als dessen Verbündeter bei der Ermordung seines Vaters, des «roten Grafen», Amadeus VII.

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Wie alt mag Otto gewesen sein? Noch nicht sechzig, denn sonst hätte man ihn vom Duell entbunden. Aber auch nicht viel jünger, da er 1365 geheiratet hatte und einige Jahre ins Land gegangen waren, seit seine ritterlichen Heldentaten von Schottland bis zur Iberischen Halbinsel für Aufsehen gesorgt hatten.

In der Tat erlebte er einige Abenteuer: Er war Botschafter und Kämpfer, geriet in mancherlei Hinterhalt, erlitt Schiffbruch und war sogar Gefangener in Spanien. Er zog im Rahmen des Hundertjährigen Kriegs vor allem für die Engländer in den Kampf, mit denen Savoyen seit einem Jahrhundert verbündet war (Otto I., der Ur-Grossonkel unseres Dichters, verdankte ihnen sein Vermögen).

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So erhielt er die Gelegenheit, seine dichterischen Fähigkeiten auf den britischen Inseln bekannt zu machen. Geoffrey Chaucer, der berühmte Autor der Canterbury Tales, hiess ihn als «die Blume der Poeten Frankreichs» willkommen und imitierte einige von Ottos Gedichten. Gemeinsam begründeten sie die Valentinsdichtung, für die Otto heute noch berühmt ist.

Mit seinem «Livre Messire Ode» sowie zahlreichen Balladen, die die Leichtigkeit der Valentinsliebe und im Kontrast dazu die Melancholie des «schwarz gekleideten Mannes» thematisierten, entzündete Otto ein allerletztes Feuerwerk der mittelalterlichen Liebeslyrik und wurde zu einem der berühmtesten Ritter und Dichter seiner Zeit.

Seite eines Gedichtmanuskripts von Otto von Grandson, Les reponses de cent Balades, um 1430.
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Seiten eines Gedichtmanuskripts von Otto von Grandson, Les reponses de cent Balades, um 1430.

Als Günstling am Hof von Amadeus VII., dem Graf von Savoyen, zog Otto aber auch Eifersucht auf sich. Nach dem plötzlichen Tod des Grafen wurde Otto beschuldigt, den Grafen vergiftet zu haben, und musste den Hof verlassen. Otto ging nach Frankreich ins Exil, wo er trotz seiner Dienstzugehörigkeit zu England herzlich empfangen wurde: Karl VI. bürgte für seine Unschuld und Christine de Pisan beklagte sein Schicksal in einer ihrer Balladen.

Doch die Waadtländer Herren liessen in der Sache um Amadeus’ Tod nicht locker: Gerhard von Stäffis klagte Otto erneut an und hatte ihm gegenüber den Vorteil, dass er lokal gut verankert war. Ottos Familienschloss (in dem er nie gewohnt hatte) steht demjenigen seines Feindes noch heute gegenüber: auf der anderen Seite des Neuenburgersees. Sehr paradox ist, dass Otto, der heute raffinierterweise als der «erste Dichter der Westschweiz» bezeichnet wird, vor allem deshalb im Duell ums Leben kam, weil er zu kosmopolitisch und nicht genug Waadtländer war.

Schloss Grandson am Neuenburgersee.
Schloss Grandson am Neuenburgersee.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Was die «femme» (dt. Frau) von Gerhard anbelangt, die Otto umworben haben soll: Dabei handelt es sich nur um eine einfache Legende aufgrund einer Fehlinterpretation des Wortes «fame» (Latein fama, «Ansehen»). Ein Chronist hatte es im 15. Jahrhundert verwendet, um darzulegen, worum Gerhard den älteren Mann beneidet hatte. Es stimmt schon: «Wer hat, dem wird gegeben.»

Und welche Rolle spielte Amadeus VII. bei alledem? Was die paranoiden Zeitgenossen damals als Vergiftung interpretiert hatten, waren ganz einfach die Folgen des Tetanus, den er sich nach einem unglücklichen Jagdunfall zugezogen hatte.

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watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Der letzte Ritter mit einer poetischen Ader» erschien am 19. Oktober 2020 und wurde am 17. Mai 2024 aktualisiert.
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