Auf den ersten Blick haben das Konstanzer Inselhotel, General Dufour, das nach seinem Konstrukteur benannte Luftschiff Zeppelin und der Gebrauch französischer Spielkarten in stattlichen Thurgauer Seegemeinden wie Steckborn oder Ermatingen nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten Blick schon.
Denn die 1785 von Genf nach Konstanz emigrierte Familie Macaire de L’Or betrieb in den Räumen des im Zuge des Josephinismus aufgehobenen Klosters auf der Dominikanerinsel bis 1870 eine Baumwollstoffdruckerei; der Genfer Kartograf, Kantonsingenieur und General im Sonderbundskrieg Guillaume Henri Dufour ist als Kind der Genfer Fabrikanten- und Unternehmerkolonie in Konstanz geboren; Amélie von Zeppelin, geborene Macaire, die Mutter des auf der «Genferinsel» zur Welt gekommenen Ferdinand Graf von Zeppelin, ebenfalls.
Hingegen ist der indirekte Zusammenhang zwischen dem Gebrauch französischer Spielkarten in Teilen des Thurgaus und der Genfer Kolonie in Konstanz zwar naheliegend, aber nicht restlos geklärt. Immerhin: David Macaire, der Vater von Amélie von Zeppelin, hat 1817 das Schloss Arenenberg in der einen gut halbstündigen Ritt von Konstanz entfernten Thurgauer Gemeinde Salenstein an Hortense de Beauharnais, die Mutter von Louis-Napoléon, vermittelt. Und im Thurgau, so heisst es im Volksmund, werde im Rayon eines Tagesrittes um den Arenenberg mit französischen Karten gejasst.
Eine Genfer Kolonie am Bodensee? – Ja, im vorrevolutionären Jahr 1785 siedelte sich in der bereits damals touristisch reizvollen, aber wirtschaftlich darniederliegenden Konzilstadt eine Gruppe von finanzstarken Genfer Kaufleuten und Fabrikanten von Luxusgütern wie Baumwollstoffdrucken mit indisch-exotischen Motiven (Indiennes) und Uhren an. Sie waren angesichts der politischen Wirren in der Rhônestadt nach sorgfältigen Abklärungen und Verhandlungen mit Kaiser Joseph II. mit vielerlei Privilegien ausgestattet an den sicheren Produktionsstandort im damals vorderösterreichischen Konstanz ausgewichen.
Ein paar Jahre später stellten «die Genfer» gut zehn Prozent der rund viertausendköpfigen Bevölkerung! Der Göttinger Bildungsreisende Christoph Meiners, der auf seinen beiden Schweizer Reisen in Konstanz vorbeikam, meint die Stadt 1788 nicht wiederzuerkennen. Während ihm die Inneneinrichtung im Gasthof zum Goldenen Adler an der Marktstätte 1782 auf seiner ersten Reise noch aus der Zeit des Konzils zu stammen schien, findet er bei seinem zweiten Besuch alles auf dem neuesten Stand vor. Der Adler war das erste Haus am Platz. Wie die Krone an der Vordergasse in Schaffhausen oder das Schwert am Weinplatz in Zürich.
Überall hört er Französisch, die Strassen scheinen ihm «auffallend lebhafter als vormals», die Häuser neu oder saniert. Aber auch das nicht nur unproblematische Verhältnis zwischen den Einheimischen und den Zugezogenen beschreibt der zeitgenössische Reisende mit wachen Augen. Unter den Genfern hielt die anfängliche Euphorie allerdings nicht lange an. Nach der Jahrhundertwende war ein grosser Teil der Emigranten bereits wieder nach Genf zurückgekehrt.
Nicht so die Familie Macaire. Der Bankier und Unternehmer Jean-Jacques Louis Macaire de L’Or war der führende Kopf und das erste eingeschriebene Mitglied der Genfer Kolonie in Konstanz. 1785 richtete er in den Räumlichkeiten des Klosters auf der Dominikanerinsel eine erste Manufaktur zur Indienne-Produktion ein. Der Baumwollstoffdruck sollte im 19. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Industriezweige in Konstanz werden. Ein Jahr später gründete er die erste Bank der Stadt, zu deren Kunden bald auch Eugène de Beauharnais, der Stiefsohn Napoleons, und dessen Schwester Hortense de Beauharnais, Königin von Holland und Mutter von Louis-Napoléon, gehören sollten.
David Macaire, der eine Sohn von Jean-Jacques Louis, fungierte 1830 als einer der Gründungsaktionäre und erster Präsident der Dampfschifffahrtsgesellschaft für den Bodensee und Rhein Konstanz. Natürlich hatte er dabei die Verbesserung der Transportmöglichkeiten für die Produkte aus der Indienne-Fabrik Macaire frères im Kopf – ob das den Schifferzünftern am See nun passte oder nicht.
Seine Tochter Amélie heiratete im Alter von 17 Jahren den Grafen Friedrich (Fritz) von Zeppelin. Es war eine Liebesheirat. Die Ehe zwischen der humorvollen Fabrikantentochter und dem gemütvollen Grafen verlief glücklich, ebenso die ausserordentlich gut dokumentierte Kindheit ihrer Tochter Eugenie und der beiden Söhne Ferdinand und Eberhard auf Schloss Girsberg im benachbarten Emmishofen (TG).
Das Familienglück dauerte allerdings nur 18 Jahre. Amélie von Zeppelin starb im Alter von 36 Jahren an Tuberkulose. Fritz von Zeppelin und die drei Kinder erholten sich nur schwer von dem Schlag. Eugenie entwickelte sich in der Folge zur Seele der Familie, Eberhard baute zwei Jahrzehnte später das ehemalige Inselkoster mit der Indienne-Fabrik zu einem Nobelhotel um, und Ferdinand entwickelte Luftschiffe. Er sollte wiederum zwei Jahrzehnte später zu einer der populärsten Figuren im damaligen Deutschland werden.
Kurz: Die Genfer, insbesondere die Familie Macaire, vermittelten der Entwicklung der ehemaligen Bischofsstadt wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Impulse. Ihre calvinistische Kirche richteten sie im Refektorium des ehemaligen Inselklosters ein. Damit war in Konstanz zum ersten Mal seit der erzwungenen Rückkehr zum alten Glauben im Jahr 1548 wieder eine protestantische Gemeinde aktiv.
In besagter Kirche wurde am 16. April 1786 das erste in Konstanz geborene Kind der Genfer Kolonie getauft. Auf den Namen Constance. Die Taufe hat der württembergische Historienmaler Carl von Häberlin 1895 in einem grossen Wandbild im ehemaligen Kreuzgang des mittlerweile zu einem Luxushotel umgebauten Klosters gemalt.
Dito die «Zeit der K.K. privileg. Indiennefabrik Macaire frères um 1800», als drittletztes von 18 grossformatigen szenischen Bildern, welche die Geschichte der Insel von den Pfahlbauern bis in die Zeit des 1874 eröffneten Hotels darstellen. Die mit den 1878 auf den Markt gekommenen Keim’schen Mineralfarben gemalte Szene zeigt, wie an der Mole vor der Fabrik unter Aufsicht des geschickt in Szene gesetzten Fabrikanten Stoffballen in eine Lädine oder einen Segner, die damaligen Frachtschiffe auf dem Bodensee, verladen werden. Die imposante Figur des Fabrikherrn steht mit grauem Mantel und schwarzem Zylinder vor rot gefärbten, zum Trocknen aufgehängten Baumwolltüchern und tauscht mit dem Schiffsführer Papiere aus.
Da er als noch junger Mann dargestellt ist, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um David Macaire (1774–1849) handelt, den Grossvater des Auftraggebers, Hotelbesitzers und Historikers Eberhard Graf von Zeppelin. Die drei Arbeiter hinter Macaire sind auffallend rührige und gut genährte Burschen; die Hungerlöhne, für die sie während 14 Stunden am Tag oder noch länger schuften, sieht man ihnen nicht an. Auch die Szene mit drei spielenden Arbeiterkindern mutet geradezu idyllisch an.
Die Wirklichkeit hat anders ausgesehen. Von den Kindern aus dem Waisenhaus, die schon im Alter von sechs Jahren in der Fabrik arbeiten mussten, ganz zu schweigen. Dass Historienbilder mehr über ihre Entstehungszeit und das Selbstverständnis ihrer Auftraggeber aussagen als über die historische Wirklichkeit der gewählten Themen und Motive, versteht sich von selbst. Das gilt ja auch für die Historiografie. Als künstlerische Inszenierung einer frühindustriellen Tätigkeit im Rahmen der Familiengeschichte des Hoteliers vor den Augen der zahlreichen gut betuchten Hotelgäste der Belle Époque in dem zur bequemen Wandelhalle umgebauten Kreuzgang des ehemaligen Klosters sind sie gleichwohl bemerkenswert.
Und Guillaume Henri Dufour? – Er kam am 15. September 1787 als Sohn des Uhrmachers Bénédict Dufour und dessen Frau Pernette Valentin im spätgotischen Haus Zum Falke an der heutigen Wessenbergstrasse zur Welt. Die Eltern, die Genf wegen der politischen Wirren bereits 1782 verlassen hatten, kehrten, wie viele andere Emigranten auch, allerdings schon 1789 nach Genf zurück.
Henri Dufour blieb mit der Region über seine Freundschaft mit dem über weite Strecken auf Schloss Arenenberg aufgewachsenen Prinzen Louis-Napoléon verbunden. Dufour hatte Napoleon 1830–1836 in seiner Funktion als Genie-Instruktor an der eidgenössischen Militärschule in Thun unterrichtet. Besagter Louis-Napoléon, der Konstanz und die Gegend am Untersee wie seine eigene Westentasche kannte, nahm am eingangs erwähnten Hochzeitsfest von Amélie Macaire und Friedrich (Fritz) von Zeppelin auf der «Genferinsel» in Konstanz teil – in der Uniform eines Berner Artilleriehauptmanns.