Wissen
Schweiz

Genfer­in­sel im Bodensee

Blick vom rechten Ufer über den See auf das Konstanzer Inselhotel im Herbst 2023. Heute wird das im Besitz der badischen Staatsbrauerei Rothaus befindliche Hotel von der Steigenberger-Gruppe betrieben ...
Blick vom rechten Ufer über den See auf das Konstanzer Inselhotel im Herbst 2023. Heute wird das im Besitz der badischen Staatsbrauerei Rothaus befindliche Hotel von der Steigenberger-Gruppe betrieben.Bild: Felix Graf

Genfer­in­sel im Bodensee

Im November 1834 heiratete die 17-jährige Genfer Fabrikantentochter Amélie Macaire auf der ehemaligen Klosterinsel in Konstanz den württembergischen Grafen Friedrich von Zeppelin. Es wurde vornehmlich Französisch gesprochen. Und das nicht ohne Grund ...
09.12.2023, 18:25
Felix Graf / Schweizerisches Nationalmuseum
Mehr «Wissen»

Auf den ersten Blick haben das Konstanzer Inselhotel, General Dufour, das nach seinem Konstrukteur benannte Luftschiff Zeppelin und der Gebrauch französischer Spielkarten in stattlichen Thurgauer Seegemeinden wie Steckborn oder Ermatingen nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten Blick schon.

Denn die 1785 von Genf nach Konstanz emigrierte Familie Macaire de L’Or betrieb in den Räumen des im Zuge des Josephinismus aufgehobenen Klosters auf der Dominikanerinsel bis 1870 eine Baumwollstoffdruckerei; der Genfer Kartograf, Kantonsingenieur und General im Sonderbundskrieg Guillaume Henri Dufour ist als Kind der Genfer Fabrikanten- und Unternehmerkolonie in Konstanz geboren; Amélie von Zeppelin, geborene Macaire, die Mutter des auf der «Genferinsel» zur Welt gekommenen Ferdinand Graf von Zeppelin, ebenfalls.

Hier bloggt das Schweizerische Nationalmuseum
Mehrmals wöchentlich spannende Storys zur Geschichte der Schweiz: Die Themenpalette reicht von den alten Römern über Auswandererfamilien bis hin zu den Anfängen des Frauenfussballs.
blog.nationalmuseum.ch

Hingegen ist der indirekte Zusammenhang zwischen dem Gebrauch französischer Spielkarten in Teilen des Thurgaus und der Genfer Kolonie in Konstanz zwar naheliegend, aber nicht restlos geklärt. Immerhin: David Macaire, der Vater von Amélie von Zeppelin, hat 1817 das Schloss Arenenberg in der einen gut halbstündigen Ritt von Konstanz entfernten Thurgauer Gemeinde Salenstein an Hortense de Beauharnais, die Mutter von Louis-Napoléon, vermittelt. Und im Thurgau, so heisst es im Volksmund, werde im Rayon eines Tagesrittes um den Arenenberg mit französischen Karten gejasst.

Ob die Präsenz von Louis-Napoléon auf ...
https://permalink.nationalmuseum.ch/100655886
Ob die Präsenz von Louis-Napoléon auf ...Bild: Schweizerisches Nationalmuseum
... Arenenberg, die Jasskarten-Grenze verschoben hat, bleibt bis heute eine offene Frage.
https://ba.e-pics.ethz.ch/catalog/ETHBIB.Bildarchiv/r/1249330/viewmode=infoview
... Arenenberg die Jasskarten-Grenze verschoben hat, bleibt bis heute eine offene Frage.Bild: e-pics

«Die Genfer»

Eine Genfer Kolonie am Bodensee? – Ja, im vorrevolutionären Jahr 1785 siedelte sich in der bereits damals touristisch reizvollen, aber wirtschaftlich darniederliegenden Konzilstadt eine Gruppe von finanzstarken Genfer Kaufleuten und Fabrikanten von Luxusgütern wie Baumwollstoffdrucken mit indisch-exotischen Motiven (Indiennes) und Uhren an. Sie waren angesichts der politischen Wirren in der Rhônestadt nach sorgfältigen Abklärungen und Verhandlungen mit Kaiser Joseph II. mit vielerlei Privilegien ausgestattet an den sicheren Produktionsstandort im damals vorderösterreichischen Konstanz ausgewichen.

Ein paar Jahre später stellten «die Genfer» gut zehn Prozent der rund viertausendköpfigen Bevölkerung! Der Göttinger Bildungsreisende Christoph Meiners, der auf seinen beiden Schweizer Reisen in Konstanz vorbeikam, meint die Stadt 1788 nicht wiederzuerkennen. Während ihm die Inneneinrichtung im Gasthof zum Goldenen Adler an der Marktstätte 1782 auf seiner ersten Reise noch aus der Zeit des Konzils zu stammen schien, findet er bei seinem zweiten Besuch alles auf dem neuesten Stand vor. Der Adler war das erste Haus am Platz. Wie die Krone an der Vordergasse in Schaffhausen oder das Schwert am Weinplatz in Zürich.

Überall hört er Französisch, die Strassen scheinen ihm «auffallend lebhafter als vormals», die Häuser neu oder saniert. Aber auch das nicht nur unproblematische Verhältnis zwischen den Einheimischen und den Zugezogenen beschreibt der zeitgenössische Reisende mit wachen Augen. Unter den Genfern hielt die anfängliche Euphorie allerdings nicht lange an. Nach der Jahrhundertwende war ein grosser Teil der Emigranten bereits wieder nach Genf zurückgekehrt.

Indienne à la chaumière. Unbekannte Manufaktur. Holzmodeldruck auf Baumwolltuch, 1790–1800.
https://permalink.nationalmuseum.ch/100308791
Indienne à la chaumière. Unbekannte Manufaktur. Holzmodeldruck auf Baumwolltuch, 1790–1800.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Die Familie Macaire de L’Or

Nicht so die Familie Macaire. Der Bankier und Unternehmer Jean-Jacques Louis Macaire de L’Or war der führende Kopf und das erste eingeschriebene Mitglied der Genfer Kolonie in Konstanz. 1785 richtete er in den Räumlichkeiten des Klosters auf der Dominikanerinsel eine erste Manufaktur zur Indienne-Produktion ein. Der Baumwollstoffdruck sollte im 19. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Industriezweige in Konstanz werden. Ein Jahr später gründete er die erste Bank der Stadt, zu deren Kunden bald auch Eugène de Beauharnais, der Stiefsohn Napoleons, und dessen Schwester Hortense de Beauharnais, Königin von Holland und Mutter von Louis-Napoléon, gehören sollten.

David Macaire, der eine Sohn von Jean-Jacques Louis, fungierte 1830 als einer der Gründungsaktionäre und erster Präsident der Dampfschifffahrtsgesellschaft für den Bodensee und Rhein Konstanz. Natürlich hatte er dabei die Verbesserung der Transportmöglichkeiten für die Produkte aus der Indienne-Fabrik Macaire frères im Kopf – ob das den Schifferzünftern am See nun passte oder nicht.

Jetzt abonnieren!

Nationalmuseum

Seine Tochter Amélie heiratete im Alter von 17 Jahren den Grafen Friedrich (Fritz) von Zeppelin. Es war eine Liebesheirat. Die Ehe zwischen der humorvollen Fabrikantentochter und dem gemütvollen Grafen verlief glücklich, ebenso die ausserordentlich gut dokumentierte Kindheit ihrer Tochter Eugenie und der beiden Söhne Ferdinand und Eberhard auf Schloss Girsberg im benachbarten Emmishofen (TG).

Das Familienglück dauerte allerdings nur 18 Jahre. Amélie von Zeppelin starb im Alter von 36 Jahren an Tuberkulose. Fritz von Zeppelin und die drei Kinder erholten sich nur schwer von dem Schlag. Eugenie entwickelte sich in der Folge zur Seele der Familie, Eberhard baute zwei Jahrzehnte später das ehemalige Inselkoster mit der Indienne-Fabrik zu einem Nobelhotel um, und Ferdinand entwickelte Luftschiffe. Er sollte wiederum zwei Jahrzehnte später zu einer der populärsten Figuren im damaligen Deutschland werden.

Landung des Zeppelin «LZ 127» mit den deutschen Teilnehmern der Völkerbundversammlung in Genf-Cointrin am 14. September 1930.
https://permalink.nationalmuseum.ch/100440129
Landung des Zeppelin «LZ 127» mit den deutschen Teilnehmern der Völkerbundsversammlung in Genf-Cointrin am 14. September 1930.Bild: Schweizerisches Nationalmuseum

Kurz: Die Genfer, insbesondere die Familie Macaire, vermittelten der Entwicklung der ehemaligen Bischofsstadt wichtige wirtschaftliche und gesellschaftliche Impulse. Ihre calvinistische Kirche richteten sie im Refektorium des ehemaligen Inselklosters ein. Damit war in Konstanz zum ersten Mal seit der erzwungenen Rückkehr zum alten Glauben im Jahr 1548 wieder eine protestantische Gemeinde aktiv.

In besagter Kirche wurde am 16. April 1786 das erste in Konstanz geborene Kind der Genfer Kolonie getauft. Auf den Namen Constance. Die Taufe hat der württembergische Historienmaler Carl von Häberlin 1895 in einem grossen Wandbild im ehemaligen Kreuzgang des mittlerweile zu einem Luxushotel umgebauten Klosters gemalt.

Dito die «Zeit der K.K. privileg. Indiennefabrik Macaire frères um 1800», als drittletztes von 18 grossformatigen szenischen Bildern, welche die Geschichte der Insel von den Pfahlbauern bis in die Zeit des 1874 eröffneten Hotels darstellen. Die mit den 1878 auf den Markt gekommenen Keim’schen Mineralfarben gemalte Szene zeigt, wie an der Mole vor der Fabrik unter Aufsicht des geschickt in Szene gesetzten Fabrikanten Stoffballen in eine Lädine oder einen Segner, die damaligen Frachtschiffe auf dem Bodensee, verladen werden. Die imposante Figur des Fabrikherrn steht mit grauem Mantel und schwarzem Zylinder vor rot gefärbten, zum Trocknen aufgehängten Baumwolltüchern und tauscht mit dem Schiffsführer Papiere aus.

Porträtfotografie von Historienmaler Carl von Häberlin, Anfang 20. Jahrhundert.
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Haeberlin-carl-von-1911-04-28-schwaebisches-bilderblatt-jg04-nr18-s08.jpg
Porträtfotografie von Historienmaler Carl von Häberlin, Anfang 20. Jahrhundert.Bild: Wikimedia
Carl von Häberlin und die Schweiz
Der 1832 in Oberesslingen bei Stuttgart geborene Carl von Häberlin war der wohl wichtigste und produktivste Exponent der späten naturalistischen Historienmalerei im südwestdeutschen Raum. Der monumentale Bilderzyklus zur Geschichte der ehemaligen Klosterinsel in Konstanz gehört zu den spektakulärsten und wohl auch meistbesuchten Werken dieser Art. Als der Maler von 1887 bis 1896 mit Unterbrüchen im Inselhotel arbeitete, hatte er seinen privaten Wohnsitz bereits auf Schloss Wyden bei Ossingen im Zürcher Weinland. Auf das Schloss aufmerksam wurde er übrigens durch seinen Landsmann Julius Motteler, der 1880 von seinem Zürcher Exil aus auf Wyden den ersten Kongress der deutschen Sozialdemokraten unter dem Bismarck’schen Sozialistengesetz organisiert hatte.

Ebenfalls in die Zeit auf Wyden fallen die Wandmalereien auf Schloss Castell in Tägerwilen (TG) und am Rathaus von Stein am Rhein (SH), für die er am 25. März 1901 das Ehrenbürgerrecht der Stadt und damit die schweizerische Staatsbürgerschaft erhielt, sowie drei Entwürfe im Hinblick auf den Wettbewerb für die Wandbilder in der Waffenhalle des 1893 bis 1898 erbauten Schweizerischen Landesmuseums in Zürich. Den Zuschlag erhielt allerdings Ferdinand Hodler mit seiner völlig neuen, ebenso expressiven wie eigenwilligen Historienmalerei, was zum längsten und leidenschaftlichsten Kunststreit der Schweiz führte.

Da er als noch junger Mann dargestellt ist, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um David Macaire (1774–1849) handelt, den Grossvater des Auftraggebers, Hotelbesitzers und Historikers Eberhard Graf von Zeppelin. Die drei Arbeiter hinter Macaire sind auffallend rührige und gut genährte Burschen; die Hungerlöhne, für die sie während 14 Stunden am Tag oder noch länger schuften, sieht man ihnen nicht an. Auch die Szene mit drei spielenden Arbeiterkindern mutet geradezu idyllisch an.

Die Wirklichkeit hat anders ausgesehen. Von den Kindern aus dem Waisenhaus, die schon im Alter von sechs Jahren in der Fabrik arbeiten mussten, ganz zu schweigen. Dass Historienbilder mehr über ihre Entstehungszeit und das Selbstverständnis ihrer Auftraggeber aussagen als über die historische Wirklichkeit der gewählten Themen und Motive, versteht sich von selbst. Das gilt ja auch für die Historiografie. Als künstlerische Inszenierung einer frühindustriellen Tätigkeit im Rahmen der Familiengeschichte des Hoteliers vor den Augen der zahlreichen gut betuchten Hotelgäste der Belle Époque in dem zur bequemen Wandelhalle umgebauten Kreuzgang des ehemaligen Klosters sind sie gleichwohl bemerkenswert.

«Taufe des ersten hier geborenen Kindes der Genfer Kolonie im Refectorium 1786». Wandbild von Carl von Häberlin, 1895.
«Taufe des ersten hier geborenen Kindes der Genfer Kolonie im Refectorium 1786». Wandbild von Carl von Häberlin, 1895.Bild: Felix Graf
«Zeit der K.K. privileg. Indiennefabrik von Macaire frères um 1800». Wandbild von Carl von Häberlin, 1895.
«Zeit der K.K. privileg. Indiennefabrik von Macaire frères um 1800». Wandbild von Carl von Häberlin, 1895.Bild: Felix Graf

Und Guillaume Henri Dufour? – Er kam am 15. September 1787 als Sohn des Uhrmachers Bénédict Dufour und dessen Frau Pernette Valentin im spätgotischen Haus Zum Falke an der heutigen Wessenbergstrasse zur Welt. Die Eltern, die Genf wegen der politischen Wirren bereits 1782 verlassen hatten, kehrten, wie viele andere Emigranten auch, allerdings schon 1789 nach Genf zurück.

Henri Dufour blieb mit der Region über seine Freundschaft mit dem über weite Strecken auf Schloss Arenenberg aufgewachsenen Prinzen Louis-Napoléon verbunden. Dufour hatte Napoleon 1830–1836 in seiner Funktion als Genie-Instruktor an der eidgenössischen Militärschule in Thun unterrichtet. Besagter Louis-Napoléon, der Konstanz und die Gegend am Untersee wie seine eigene Westentasche kannte, nahm am eingangs erwähnten Hochzeitsfest von Amélie Macaire und Friedrich (Fritz) von Zeppelin auf der «Genferinsel» in Konstanz teil – in der Uniform eines Berner Artilleriehauptmanns.

>>> Weitere historische Artikel auf: blog.nationalmuseum.ch
watson übernimmt in loser Folge ausgesuchte Perlen aus dem Blog des Nationalmuseums. Der Beitrag «Genfer­in­sel im Bodensee» erschien am 29. November.
blog.nationalmuseum.ch/2023/11/genferinsel-im-bodensee
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die Russenpeitsche am Bodensee
1 / 12
Die Russenpeitsche am Bodensee
Die russische Kältepeitsche hat am Bodensee zugeschlagen.
quelle: keystone / walter bieri
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Dank Klimawandel gibt es Marroni vom Bodensee
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
2 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
2
«Echter Durchbruch»: Dieser Impfstoff schützt effektiv vor einer HIV-Infektion

Eine halbjährliche Impfung mit dem Medikament Lenacapavir schützt effektiv vor einer Infektion mit HIV. Das bestätigen Daten der zulassungsrelevanten Phase-3-Studie «Purpose 2», die im «New England Journal of Medicine» («NEJM») vorgestellt werden.

Zur Story