Die NZZ ist begeistert: Auf der Bühne steht ein «Zwergneger»! Und wie es sich gehört «freundlich grinsend». Kein Mensch weiss, ob stimmt, was die weisse Frau neben ihm sagt, ob er wirklich ein Reisesouvenir aus Afrika ist oder ob sie ihn sich nicht vielleicht einfach bei einem Zirkus ausgeliehen hat. Die NZZ jedenfalls stellt sich sofort vor, dass er ihretwegen «den Giftpfeil und den Bogen mit dem Staubsauger vertauscht» haben müsse. Vom Wilden zum Haussklaven gewissermassen, eine ganz natürliche Karriere.
Das ist im April 1939. Die wohlhabende Zürcherin Dora Eggert-Kuser tritt mit ihrem Dokumentarfilm «Negresco Schimpansi» dreimal in Zürich auf. Das Publikum ist begeistert. Mit ihrem Mann, dem deutschen Regisseur Wilhelm Eggert (von dem sie zur Zeit der Vorführungen wohl schon wieder getrennt ist), hat Dora zwei Jahre lang Afrika bereist.
Reisefilme von Ehepaaren sind damals ein Verkaufsschlager, erklärt der Filmhistoriker Wolfgang Fuhrmann von der Uni Zürich. Es gibt amerikanische, deutsche und österreichische Paare – manche sogar mit Kindern –, die mit ihren Expeditionen nicht nur das gelebte Abenteuer verkörpern, sondern auch ein cooles, modernes, emanzipiertes Ehemodell.
Dieses passt ausgezeichnet zum Grundcharakter ihrer Unternehmungen: In ihren Filmen demonstrieren sie andauernd kulturelle Überlegenheit über das Fremde, das «Primitive». Die mitgeführte Technik – Kameras, Grammophone, Motorfahrzeuge – ist dabei das erste und wichtigste Distinktionsmerkmal.
Dora und Wilhelm gelten wegen Doras Staatsbürgerschaft und ihres beträchtlichen Vermögens als das «Schweizer Paar». Die beiden sind um 1934 mit dem Jeep durch die Wüste gefahren, wo der Sand angeblich 70 Grad warm wird, und sind mehrfach «räuberischen Gesellen» begegnet, die allerdings bloss nett in die Kamera strahlten. Todesmutig besuchten sie «Kannibalen», deren Menschenfleisch-Verzehr allerdings höchst selten «kultische» Hintergründe hatte, keine kulinarischen.
Kurz: Es ist den Eggerts in Afrika nichts zugestossen, auch wenn sie uns dies auf der Tonspur andauernd weismachen wollen. Gar nichts. Keine Krankheit, keine gefährlichen Moskitostiche, keine Angriffe durch Mensch oder Tier. Dabei haben sie enorm viele Tiere gefilmt. Das heisst: Dora hat sie gefilmt. Dora ist nämlich die Kamerafrau von «Negresco Schimpansi». Selbstvergessen nähert sie sich allen, sie ist die Frau ohne Angst.
Jedenfalls glauben dies im April 1939 alle. Im Herbst wirft ein anderer Dokumentarfilmer den Eggerts vor, die meisten ihrer imposanten Tieraufnahmen zusammengekauft zu haben. Was damals allerdings normal war. Fand sich brauchbares Filmmaterial erst einmal auf dem Markt, so stand es gegen Geld allen zur Verfügung. Es war eine ganz normale Einkommensquelle für Filmschaffende, sie finanzierten sich so ihre Reisen.
Leider sind die Tieraufnahmen das tollste an «Negresco Schimpansi». Die Besuche bei den einzelnen Volksstämmen sind nicht wirklich ergiebig, sie mäandrieren fasziniert zwischen Tellerlippen, Gesässschmuck und Körpergrössen. Besonders die «gnomenhaften Menschlein» der klein gewachsenen «Pygmäen» beziehungsweise «Zwerge» versetzen die Europäer in Verzückung.
Und weil Hitler zum Zeitpunkt der Postproduktion des Films bereits heftig an der Macht ist, gibt es auch für unsere Ohren haarsträubende Bemerkungen wie «hier ist noch keine Reichsautobahn». Das Schweizer Publikum störte sich daran nicht. Es fand sich in einem innigen, postkolonialen Schulterschluss mit dem deutschen.
Das Besondere an diesem eher hobbymässig angefertigten Film, sagt Fuhrmann, sei allerdings die Interaktion der Eggerts und der Einheimischen. Denn trotz prekärer Kommentare sei da zu sehen, dass vor dem Filmen eine Kommunikation stattgefunden hat. Dass den Menschen erst enorm viel erklärt wurde, bevor man sie filmte. Es ist so eine gelöste, recht charmante Vertrautheit entstanden. Bis sich die Eggerts dann wieder von Schwarzen auf Tragstühlen durch den Dschungel transportieren lassen, denn «die Differenz muss immer wieder hergestellt werden», sagt Fuhrmann.
Ein anderer Film, ein anderer Kontinent, ein anderes Ehepaar: «Der weisse Tod im Himalaya» (1931) ist im Gegensatz zu «Negresco Schimpansi» ein Meisterwerk. Seit 1925 leben Günter und Hettie Dyrenfurth aus Deutschland in der Schweiz, und da Hettie jüdische Vorfahren hat, werden sie auch nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Günter unterrichtet Geographie und Naturwissenschaften auf dem St. Galler Rosenberg.
«Der weisse Tod» hat ein klares Ziel: Die Dyrenfurths wollen mit einem internationalen Alpinisten-Team, dem renommierten Schweizer Kameramann Charles-Georges Duvanel und 400 Sherpas (für über 10 Tonnen Material) einen neuen Bergsteiger-Rekord setzen. Sie denken dabei noch nicht an den Mount Everest mit seinen 8848 Höhenmetern, aber an den 8586 Meter hohen Kangchendzönga. Doch zuerst spielen sie ihren neuen, nepalesischen Mitarbeitern auf dem Grammophon «Was macht der Maier am Himalaya» vor.
Den Kangchendzönga werden sie nicht erreichen. Eine Lawine geht nieder und tötet Duvanels 19-jährigen Assistenten. Die Aufnahmen der Lawine sind so montiert, dass wir glauben, die letzten Bilder aus der Kamera des Toten zu sehen. Die Lawine wirft die Bergsteiger zurück und verhindert, dass sie bei ihrem «Angriff» hinter die «Hauptverteidigungslinie» des Berges gelangen.
Dramaturgisch gesehen ist die Lawine ein Glücksfall, denn umso packender wird jetzt die Eroberung des Nachbarbergs, des 7459 Meter hohen Jongsong Peak. Auch er wäre ein Rekord-Gipfel. Natürlich schaffen sie es. Schliesslich war dies von Anfang an das Ziel des Films. Scheinbar mit letzter Kraft. Oft ohne Handschuhe. Mit einer Ausrüstung, die wirkt, als könnte man darin keinen Tag lang überleben, und einem minimalistischen Sauerstoffgerät.
Verblüffend ist auch die Musik: Ein durchgehender, satter, melodramatischer Soundtrack, der gelegentlich von nepalesischer Musik unterbrochen wird. Es ist der klassische Topos des Reisefilms: Die Einheimischen können sich zwar nicht über ihre Sprache mit der Filmcrew verständigen, aber Musik und Tanz verstehen alle.
Alle «Originalaufnahmen» mussten für die Tonspur mühselig neu aufgenommen werden. Dyrenfurth lieh sich dazu im Völkerkundemuseum Berlin die korrekten Instrumente und liess die Musik von Nepalesen, die in Berlin lebten, neu einspielen, erzählt Fuhrmann. Der dokumentarische Gehalt von «Der weisse Tod» sollte so authentisch wie möglich sein.
Gattin Hettie blieb während der Dreharbeiten übrigens als Chefin des Basislagers auf 5150 Meter zurück. Auf ihrer Reiseschreibmaschine machte sie aus den Heldentaten der Männer einen Bericht. 1934 bestieg sie den 7244 Meter hohen Sia Kangri. Noch nie war eine Frau höher gelangt. Ihr Rekord sollte erst 1955 gebrochen werden.
«Negresco Schimpansi» und «Der weisse Tod im Himalaya» waren an den Solothurner Filmtagen zu sehen. Die beiden äusserst sehenswerten Filme gibt es sonst leider nur in der Cinémathèque Suisse in Lausanne zu sehen beziehungsweise für Vorführungen auszuleihen.