Was passiert jetzt mit Leuthards Prestigeprojekt, der Energiestrategie 2050?
Nach der Abstimmung ist vor der Abstimmung. So lässt sich der Auftritt von Bundesrätin Doris Leuthard am Sonntag interpretieren. Die Energieministerin zeigte sich vor den Medien erleichtert über das Nein zur Atomausstiegs-Initiative der Grünen. In erster Linie aber machte sie Werbung für ihr Prestigeprojekt: «Das Argument des Bundesrats, dass die Energiestrategie 2050 der bessere Weg ist, hat offenbar auch das Stimmvolk überzeugt», sagte Leuthard.
Ob dem so ist, steht noch nicht fest. Die SVP hat das Referendum gegen die in der Herbstsession vom Parlament verabschiedete erste Etappe der Energiestrategie ergriffen. Allerdings steht sie derzeit mit ihrer Opposition ziemlich alleine da, wichtige Player halten sich (noch) bedeckt. Nach dem Nein vom Sonntag verspüren die Gegner jedoch Aufwind. Man könne den Ja-Anteil von 46 Prozent «nie und nimmer» als Ja zur Energiestrategie deuten, sagte SVP-Präsident Albert Rösti.
Über kurz oder lang werden sich die erneuerbaren Energien durchsetzen, ist watson-Autor Philipp Löpfe überzeugt. In den nächsten Wochen und Monaten wird sich zeigen, ob der Staat der Energiewende nachhelfen wird. Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Was will die Energiestrategie 2050?
Das erste Massnahmenpaket enthält eine Art Atomausstieg «light». Eine Laufzeitbeschränkung für Atomkraftwerke hat das Parlament abgelehnt. Der Bau neuer AKW ist jedoch verboten. Dafür sollen die erneuerbaren Energien stärker gefördert werden. Der Netzzuschlag soll von 1,3 auf 2,3 Rappen pro Kilowattstunde steigen. Eine vierköpfige Familie würde das rund 100 Franken im Jahr kosten. Die SVP behauptet, die Mehrbelastung betrage 3200 Franken pro Jahr, was Doris Leuthard im Interview mit der «Luzerner Zeitung» als «völliger Mumpitz» bezeichnete.
0,2 Rappen aus dem Netzzuschlag sind für Subventionen an bestehende Grosswasserkraftwerke reserviert. Der grösste Teil wird für die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV) verwendet, mit der erneuerbare Energien subventioniert werden. Heute reicht das Geld bei weitem nicht, fast 40'000 Gesuche für Wind-, Solar- oder Biomasseanlagen befinden sich auf der KEV-Warteliste. Deshalb findet man auf Schweizer Hausdächern viel weniger Solarpanele als in Deutschland. Daneben ist Energieeffizienz angesagt, es ist mehr Geld für Gebäudesanierungen vorgesehen.
Wie stehen die Chancen für die Energiewende?
Nicht sehr gut, wenn man sich die Sichtweise von SVP-Chef Albert Rösti aneignet. Doch man kann das Ergebnis vom Sonntag auch anders interpretieren. Die Volksinitiative «Strom ohne Atom» brachte es 2003 nur auf knapp 34 Prozent Ja. Die 45,8 Prozent Ja für die aktuelle Initiative sind eine klare Steigerung. Die Skepsis gegenüber der Atomenergie hat seit Fukushima offenkundig zugenommen. Deshalb hat auch Bundesrätin Leuthard gute Gründe für ihre Interpretation.
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Was macht die FDP?
Politisch sind die Fronten abgesteckt: Die SVP bekämpft die Energiewende, SP, Grüne, BDP und Grünliberale sind dafür, ebenso Doris Leuthards Partei, die CVP. Die grosse Unbekannte ist die FDP. Ihre Bundeshausfraktion hat mehrheitlich Ja gesagt, doch namhafte Vertreter sind für ein Nein, darunter Parteipräsidentin Petra Gössi und der Energiepolitiker Christian Wasserfallen. Er betonte am Sonntag, die Abstimmung habe nicht den Weg für die Energiestrategie geebnet.
Die Jungfreisinnigen beteiligen sich aktiv an der Unterschriftensammlung. Um eine klare Stellungnahme aber drückt sich die FDP herum. Man wolle abwarten, ob das Referendum zustande komme, und erst danach definitiv entscheiden, sagte Petra Gössi am Sonntag. Bei der CVP kommt dies schlecht an, sie forderte in einer Mitteilung, die FDP müsse sich «nun endlich klar zur Energiestrategie 2050 bekennen».
Wo steht die Wirtschaft?
Einzelorganisationen wie Gastrosuisse bekämpfen die Energiestrategie, doch die Grossen halten sich bedeckt. Der Dachverband Economiesuisse will seine Haltung erst im Januar festlegen, sagte Präsident Heinz Karrer. Im Schweizerischen Gewerbeverband (SGV) gibt es zwar starke Sympathien für das Referendum, er unterstützt die Unterschriftensammlung jedoch nicht. Der Verband ist in dieser Frage keineswegs geeint. So erhofft sich das Baugewerbe zusätzliche Aufträge dank den Fördermitteln für «Erneuerbare» und Gebäudesanierungen.
Kommt es überhaupt zur Abstimmung?
Das ist nicht sicher. Die Unterschriftensammlung für das Referendum laufe harzig, sagte Albert Rösti dem «Tages-Anzeiger». Es brauche nun einen Effort. Falls diese Aussage mehr als nur Taktik ist, könnte es schwierig werden. Die Hälfte der Sammelfrist ist abgelaufen, und bald kommen die Feiertage, eine schlechte Zeit, um Unterschriften zu beschaffen. Für die SVP wäre ein Scheitern allerdings ein enormes Debakel, sie wird alles tun, um das Referendum über die Ziellinie zu bringen.
Mit Themen, die nicht ihre «Kernkompetenz» Ausländer, Asyl und Europa betreffen, hat sich die Partei stets schwer getan. Auch gegen die Energiestrategie 2050 wird sie kaum geschlossen antreten. Viele SVP-Gewerbler dürften wie erwähnt dem Anliegen gewogen sein. Der Zürcher Nationalrat Hans Egloff hielt als Präsident des Hauseigentümerverbands (HEV) nach den Beratungen im Parlament fest, er könne gesamthaft für die Hauseigentümer «eine positive Bilanz ziehen».