Die griechische Regierung will das Volk über die von den Gläubigern geforderten Reformen abstimmen lassen. Der Zeitpunkt und das einseitige Vorgehen ohne Rücksprache stiessen auf heftige Kritik. Athen habe damit die «Tür für weitere Gespräche geschlossen», sagte Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem am Samstag. «EU entsetzt über neuartige Entscheidungsmethode aus Griechenland», spottete darauf die deutsche Satire-Website Der Postillon.
Sie bedient das Klischee, wonach die Europäische Union allergisch ist gegenüber Volksbefragungen, bei denen «ausgerechnet das Volk über seine eigenen Belange entscheiden» soll. In der Schweiz mit ihrer ausgebauten direkten Demokratie werden solche Vorurteile besonders gerne kolportiert. «Die EU ist undemokratisch organisiert. Volksentscheide werden wiederholt, bis sie das von den Politikern gewünschte Resultat ergeben, oder umgangen», sagte der Schriftsteller Charles Lewinsky – beileibe kein SVP-Anhänger – im Interview mit watson.
Die Realität ist um einiges komplizierter. Tatsächlich kam es mehrfach vor, dass Abstimmungen wiederholt wurden, die im ersten Anlauf ein für die EU negatives Ergebnis erzeugten. Allerdings machte sie in den meisten Fällen Zugeständnisse an den jeweiligen Staat. Und in einem besonders schwerwiegenden Fall musste sie am Ende vor dem Volkswillen kapitulieren.
Überhaupt gab es in der Geschichte der Union mehr Referenden, als man gemeinhin vermutet:
1973 kam es in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur ersten grösseren Erweiterungsrunde. Den Weg frei machte ein Volksentscheid in Frankreich ein Jahr zuvor, bei dem 68,3 Prozent für die Aufnahme neuer Mitglieder gestimmt hatten. Der frühere Präsident Charles de Gaulle hatte sie jahrelang verhindert, er wollte vor allem die Briten nicht in der EWG haben. Nun stimmte das Volk in Dänemark und Irland für den Beitritt, in Norwegen lehnte es ihn ab.
Grossbritannien trat ohne Volksentscheid bei, doch bereits 1975 stimmten die Briten erstmals über einen «Brexit» ab. Die damals noch europaskeptische Labour-Partei hatte inzwischen die Konservativen an der Macht abgelöst. Sie führte die erste nationale Volksabstimmung in der Geschichte des Landes durch, bei der das Volk mit 67,2 Prozent Ja den Verbleib in der EWG befürwortete. Zuvor hatte die Regierung eine Reduktion der britischen Beitragszahlungen erreicht.
Der 1992 im niederländischen Maastricht unterzeichnete Vertrag vertiefte die Einigung, er schuf unter anderem die Grundlage für die Währungsunion. In Irland, wo über jede Änderung der europäischen Verträge zwingend abgestimmt werden muss, sagte das Volk mit 68,7 Prozent klar Ja. Sehr viel grösser war die Skepsis in Frankreich. Nur dank dem intensiven Engagement von Präsident François Mitterrand kam es zu einem knappen Ja mit 51,1 Prozent.
Als drittes Land stimmte Dänemark über Maastricht ab. Der Entscheid war ein Schock für Europa: 50,7 Prozent lehnten den Vertrag ab, der deswegen nicht in Kraft treten konnte. Mit umfangreichen Zugeständnissen konnten die Dänen zu einer zweiten Abstimmung am 18. Mai 1993 bewegt werden, bei der sie mit 56,8 Prozent Ja sagten. So muss Dänemark weder den Euro übernehmen noch bei der gemeinsamen Justiz- und Verteidigungspolitik mitmachen.
Nach dem Ende des Kalten Kriegs stellten Österreich, Finnland, Norwegen und Schweden ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Union (EU). In allen vier Ländern hatte das Volk das letzte Wort. Das klarste Ja resultierte in Österreich mit 66,6 Prozent. Die Norweger hingegen lehnten als einziges Land den Beitritt mit 52,2 Prozent Nein ab, zum zweiten Mal in ihrer Geschichte. Im Gegensatz zur Schweiz ist Norwegen aber Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR).
Der Vertrag von Amsterdam von 1998 sollte dafür sorgen, dass die EU nach der Osterweiterung um zehn neue Mitglieder handlungsfähig bleibt. Das Parlament wurde gestärkt, bei Abstimmungen im Ministerrat war Einstimmigkeit nicht mehr zwingend erforderlich. In zwei Ländern stimmte das Volk ab, den «üblichen Verdächtigen» Dänemark (55,1 Prozent Ja) und Irland (61,7 Prozent Ja). Weil sich Amsterdam als ungenügend erwies, unterzeichneten die EU-Mitglieder 2001 den Vertrag von Nizza.
Über diesen stimmten nur die Iren ab, und sie sorgten für einen erneuten Schock: 53,9 Prozent sagten Nein, bei einer Beteiligung von nur 34,8 Prozent. Frust über die Regierung und diffuse Ängste vor der neuen Konkurrenz aus dem Osten hatten zur Ablehnung geführt. Für die EU aber war es undenkbar, das Grossprojekt Osterweiterung am kleinen Irland scheitern zu lassen. 2002 kam es zu einer zweiten Abstimmung, bei der sich Schwergewichte wie Václav Havel für ein Ja einsetzten. Mit Erfolg: 62,9 Prozent stimmten dieses Mal zu.
Die Übernahme des Euro wurde nur in zwei Ländern dem Volk vorgelegt. In beiden Fällen gab es ein Nein: Dänemark lehnte die Einheitswährung 2000 mit 53,2 Prozent ab, Schweden 2003 mit 56,1 Prozent. Beide Staaten gehören bis heute nicht zur Eurozone.
Die schmerzlichste Niederlage erlitt die EU 2005 mit ihrem Prestigeprojekt einer gemeinsamen Verfassung. Sie war zuvor in umfangreichen Verhandlungen erarbeitet worden. In Spanien und Luxemburg sagte das Volk Ja, doch ausgerechnet das mächtige Frankreich lehnte die Verfassung am 29. Mai 2005 mit 54,9 Prozent Nein ab. Dafür verantwortlich war eine «unheilige Allianz»: Linke wehrten sich gegen das «neoliberale» Wirtschaftsmodell der EU, rechte Nationalisten lehnten eine Vertiefung der europäischen Integration grundsätzlich ab.
Als drei Tage später mit den Niederlanden ein zweites Gründungsmitglied ebenfalls Nein sagte (mit 61,5 Prozent noch deutlicher als die Franzosen), war die Verfassung am Ende. Weitere geplante Abstimmungen unter anderem in Grossbritannien und Polen fanden nicht statt.
Als «Ersatz» für die gescheiterte Verfassung wurde 2008 der Vertrag von Lissabon unterzeichnet. Nur im obligaten Irland wurde er dem Volk vorgelegt, und wieder kam es zu einem Drama. 53,2 Prozent der Iren lehnten den Vertrag am 12. Juni 2008 im ersten Anlauf ab. Es folgte erneut eine zweite Abstimmung, die am 2. Oktober 2009 mit einem klaren Ja von 67,1 Prozent endete.
Obwohl der Meinungsumschwung deutlich war, zementierte gerade diese Wiederholung das Image der EU, sie sei eine undemokratische Institution, die negative Volksentscheide nicht akzeptieren könne. Übersehen wurde dabei, dass die Iren von der EU-Kommission diverse Zusagen erhielten. Sie durften an der militärischen Neutralität und an ihrem restriktiven Abtreibungsrecht festhalten, ausserdem wurde ihnen ein permanenter EU-Kommissionssitz garantiert.
Die Liste zeigt, dass Abstimmungen in der EU keine «bislang völlig unbekannte Art der Entscheidungsfindung» (Der Postillon) sind. Und das Volk keineswegs ohnmächtig ist. Absehbar ist, dass es in Zukunft eher mehr Referenden geben wird. Zwei sind bereits in der Pipeline: Bis Ende Jahr stimmen die Dänen über den Verbleib bei der EU-Polizeibehörde (Europol) ab. Und die Briten werden vielleicht schon nächstes Jahr erneut über den «Brexit» entscheiden.
In Frankreich soll zudem das Volk in Zukunft über die Aufnahme jedes neuen EU-Mitgliedslandes abstimmen. Die entsprechende Verfassungsänderung wurde vor allem mit Blick auf die Türkei beschlossen.