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Interview zu «Wild»: Lilith Stangenbergs Liebe zum Wolf

Auf dem Dach ihres Plattenbaus übt Ania mit dem Wolf die Freiheit.
Auf dem Dach ihres Plattenbaus übt Ania mit dem Wolf die Freiheit.Bild: Praesens
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«Ich war mit Leberwurst eingeschmiert, damit mich der Wolf ableckt» – Lilith Stangenberg über ihre gefährlichsten Dreharbeiten

Es ist der verrückteste Film dieses Frühlings mit den gefährlichsten Dreharbeiten: «Wild» von Nicolette Krebitz mit der sensationellen Lilith Stangenberg als Wolfsgeliebte.
23.04.2016, 07:0124.04.2016, 14:26
Simone Meier
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Ania (Lilith Stangenberg) ist IT-Fachfrau in einem rätselhaften Betrieb in der deutschen Stadt Halle. Eine triste Plattenbau-Existenz. Auf dem Weg zur Arbeit sieht sie einen Wolf und verliebt sich in ihn. Ent- und verführt das Tier. Lebt mit ihm. Lässt sich von ihm befreien. Verwildert.

Gedreht und geschrieben hat «Wild» Nicolette Krebitz, sie wurde in den 90ern als Schauspielerin und Berliner It-Girl berühmt. Ihr «Wild» ist grossartig: Da sehen wir Bilder, die wir schlicht noch nie gesehen haben, von Situationen, die es so im Kino vorher auch noch nie gegeben hat. Ein Trip, den man zunehmend atemlos mitmacht. Denn: Restlos alles, was wir da sehen, ist beim Dreh auch so geschehen.

Lilith Stangeberg drehte mit zwei Wölfen, einem für den Nahkontakt und einem etwas schöneren für die Bilder in der Totalen.

Trailer zu «Wild»

Lilith Stangenberg, als Sie zum Casting für die Rolle der Ania gingen, war Ihnen da klar, dass Sie ganz direkt mit einem Raubtier spielen werden? 
Auf der Einladung zum Casting stand: «Bitte nur kommen, wenn man keine Angst vor Hunden hat.» Da ahnte ich, das wird ein echter Wolf und das wird eine ansteckungsfähige Nähe. Ich war so versessen auf diese Rolle und so verliebt in diese Geschichte, ich hab das Buch richtig aufgefressen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in den letzten zehn Jahren im deutschen Film eine vergleichbare Rolle gegeben hätte.  

Schon gar nicht für eine Frau. Man kann jetzt sagen, Leonardo DiCaprio macht in «The Revenant» was Ähnliches. Aber nicht mit echten Tieren ...
Es gab ja keine Begegnung zwischen ihm und dem Bären! Ich hab der Nicolette Krebitz vor dem Casting einen Brief geschrieben, dann hab ich einfach alles gegeben, und es hat geklappt. Als ich die Wölfe dann kurz vor Drehbeginn in Ungarn besucht habe, war ich vollkommen angstlos und bereit.

Wie lange hatten Sie denn Zeit, um die Wölfe kennen zu lernen?
Zwei, drei Tage, das musste reichen. Es ging um ganz simple Dinge: Nebeneinander stehen, liegen, sitzen, laufen, mit ihm sprechen. Das Wichtigste war, dass mein Hauptwolf keine Angst vor mir hat. Seine Angst gewinnen, kann man sofort, einmal eine falsche Geste und er wird mir immer misstrauen. Aber daran zu arbeiten, dass er Vertrauen hat, das war hart.

Nicolette Krebitz: Hier auf einem Plattencover ...

Bild
Bild: wikipedia

Wie muss man sich das vorstellen?
Die Wölfe wurden in Gefangenschaft geboren, wie Zootiere, und sind Menschen gewöhnt. Aber die sind nicht zähmbar, die bleiben immer wild, unberechenbar und gefährlich.

Eben. Es gab da so einen Zwischenfall mit Fleisch in Ihrer Hosentasche ...
Das war meine Schuld. Ich hatte immer Fleisch dabei, um meinen Wolf zu locken. Der arbeitet ja nur, wenn er Hunger hat.

Klingt gefährlich!
Nee. Wie war das immer? «Etwas gesättigt, aber noch Appetit». Ich war ja auch die ganze Zeit mit Leberwurst eingeschmiert, damit er mich ableckt. Ich hatte mir also ein Stück Fleisch in die Tasche gesteckt und musste in Ohnmacht fallen. Natürlich hat er dann versucht, an das Fleisch zu kommen. Ich hab zu spät reagiert, weil ich dachte, das kommt gut, da hat er geschnappt. Aber das war nichts Grosses.

... und hier von Fettes Brot und Tocotronic besungen

Wenn Sie mit einem Schauspieler arbeiten, ist da ja immer noch eine professionelle Distanz zwischen Ihnen, mit einem Tier ist das nicht möglich, oder?
Genau so ist es. Wenn man eine Liebesszene mit einem Schauspieler dreht, ist da immer irgendwas zwischen einem, das Drehbuch oder sonstwas. Eine Liebesszene mit einem Wolf ist einfach Realität. Er hat ja kein Drehbuch gelesen.

Aber er macht trotzdem, was im Drehbuch steht, weil man seine Instinkte so leiten kann?
Richtig. Es steht im Drehbuch ja auch nichts, was der Wolf nicht selbst machen würde. Es ist schon seinem Verhalten entlang geschrieben. Zum Beispiel, dass jeder Wolf in Gefangenschaft alles dafür tun würde, um sich zu befreien. Das find ich auch so toll: Wir Menschen sperren uns ein in unseren Wohnungen und Büros ...  

... wo uns offensichtlich wohler ist als in der Freiheit ...
... aber so ein Tier gibt nicht auf, bis es ausgebrochen ist. Es will immer in die Freiheit. Ich finde, von diesem Drang könnten wir uns ein bisschen mehr ins eigene Leben holen. Ich glaub ja, dass wir alle eigentlich wild geboren sind.

Sie ganz sicher!
Nee, wir alle! Und die Erziehung ist dann unsere Domestizierung. Wenn ich mich so umgucke, auch in meinem eigenen Leben, hab ich das Gefühl, die Menschen wollen immer alles Andere domestizieren. Man will immer alles kontrollieren, planen, sich absichern, gerade für die Zukunft. Aus Angst vor dem Unbekannten. Aber gerade in diesem Undomestizierten, Wilden, findet doch Leben statt!

Das haben Sie persönlich vom Wolf gelernt?
Ja! Ja, auf jeden Fall!

Wenn Lilith Stangeberg nicht einschlafen kann, stellt sie sich vor, sie liegt beim Wolf. Wie hier.
Wenn Lilith Stangeberg nicht einschlafen kann, stellt sie sich vor, sie liegt beim Wolf. Wie hier.
Bild: Praesens

Ganz praktische Frage: Ihr durftet jeden Tag nicht länger als drei Stunden mit den beiden Wölfen drehen. Wo haben sie denn den Rest der Zeit verbracht?
Du darfst einen Wolf ja nicht aus seinem Rudel entfernen. Sein Platz wird sonst einfach von einem andern eingenommen, und er findet nicht mehr zurück. Und er kriegt richtigen Kummer. Deshalb ist das ganze Rudel aus fünf Wölfen nach Halle angereist. Zusammen hatten sie eine ganz grosse Scheune mit Auslauf für sich.

Vermissen Sie den Wolf? 
Sehr! Wenn ich zum Beispiel nicht einschlafen kann, stell ich mir immer vor, ich lieg so beim Wolf. Ich weiss ja ganz genau, wie der sich anfühlt, wie der riecht, wie der atmet und so, das vermiss ich total. Bis heute ist es so, dass mich die Erinnerung an die Wölfe stärkt und meinen Kompass wieder ausrichtet, wenn ich mal unsicher oder unklar bin.

Apropos riechen: Hat das nicht ganz entsetzlich gerochen? Oder nimmt man das nicht mehr wahr, wenn man sowieso immer mit Leberwurst beschmiert ist?
Ich finde, der Wolf riecht wohlig! Der ist ein ganz reinliches Tier. Ich wollte den am Ende so richtig einatmen. Die Wohnung, die hat manchmal gestunken. Ich bin ja Vegetarierin, seit ich sechs bin, aber das hat mir alles nichts ausgemacht. Auch das Fleisch nicht.

In einer Szene erlegt der Wolf eine Maus für Sie. Mussten Sie da in die echte Maus beissen?
Nein. Aber da muss ich auch sagen: Diese Seele haben wir auf dem Gewissen.

Die Maus?
Das war eine Zoomaus. Die wäre sowieso an eine Schlange verfüttert worden.

Und der getötete Hase?
Der war ein Roadkill, einer, den die Polizei tot von der Autobahn gekratzt hatte.

Lilith Stangenberg hier mal ganz normal.
Lilith Stangenberg hier mal ganz normal.
Bild: KEYSTONE

Ich hab gelesen, nach der Liebesszene mit dem Wolf seien Sie total euphorisch gewesen.
Die Szene war auf einen Abend disponiert, und da war der Wolf satt. Der hat einfach nichts mehr gemacht. Der hatte wahrscheinlich zu viel Rührei gegessen. Ich lag auf dem Bett, war mit Leberwurst eingeschmiert und musste ihn immer rufen, aber das hat ihn nicht interessiert. Am nächsten Morgen haben wir wieder probiert, ich habe gerufen, er kam nicht ...

Wie hiess der eigentlich?
Nelson. Und plötzlich kam er und hat meinen ganzen Kopf und Hals und so abgeschleckt und die ganze Szene hat exakt wie im Drehbuch stattgefunden. Und ich muss sagen: So eine Hingabe, so einen Kontrollverlust hab ich bisher noch nicht erlebt. Das hat mich so beflügelt, dass ich danach nur jauchzen konnte.

Und dann gab’s noch eine andere Szene, da locken Sie den Wolf mit Menstruationsblut ...
Da ist es mir ähnlich ergangen. Eine radikale Hingabe zusammen mit einem riesigen Kontrollverlust. Danach war ich stolz, dass ich das geschafft hab vor der Kamera. Nicolette sagte: «Sowas hat man einfach noch nie auf einer deutschen Leinwand gesehen!»

Nein, wirklich nicht. Ist der Film in Deutschland eigentlich ab 18?
Ab 16. Ich glaube, jünger sollte man nicht sein. Nee.

Im Theater arbeiten Sie ja immer mit sehr viel Text. Jetzt ist da fast kein Text. War das schwierig?
Ich finde es wohltuend! Ohne dieses ganze Geschwafel. Gerade im Kino. Wenn man sich die Filme am Ende der Stummfilmzeit anschaut, da waren die so weit in der Bildsprache! Und dann kam plötzlich der Tonfilm, und du sahst nur noch so abgefilmte Dialoge. Aber die haben keine Bilder mehr gesucht und haben sich filmisch total zurück entwickelt. Ich habe gerade im Kino immer eine grosse Sehnsucht danach, dass nicht so viel geredet wird und dass die Bilder sprechen.

Liebe heisst ein bisschen verschmelzen. Immer. Aus dem Plakat zu «Wild».
Liebe heisst ein bisschen verschmelzen. Immer. Aus dem Plakat zu «Wild».
Bild: Praesens

Neben den Wölfen gibt es noch einen Mann in «Wild», Ihren ebenfalls sehr eigenwilligen Chef, dargestellt von Georg Friedrich. Er spielt gerade im Schweizer Film «Aloys» einen psychotischen Privatdetektiv. Wie haben Sie ihn in Erinnerung?
Der ist toll! Der erinnert mich so an Marlon Brando, von der Erotik her und so.

Das muss ja hart gewesen sein: Mit einem erotischen Wolf und Marlon Brando zu drehen.
Ich war im siebten Himmel!

Haben Sie an Zürich ähnlich gute Erinnerungen? Sie haben ja hier drei Jahre lang am Schauspielhaus gearbeitet.
Als ich heute hier ankam, war es, als würde ich einen Liebhaber wieder treffen, den ich schon ganz lang nicht mehr gesehen habe. Ich war ja damals auch das erste Mal weg von Zuhause, ich verbinde mit jeder Ecke Geschichten, das hatte ich noch nie mit einer andern Stadt.

Auch nicht mit Halle?
Doch, mit Halle schon. Als hätte ich da was ganz Grosses erlebt. Mit den Wölfen.

«Wild» läuft ab 28. April im Kino.

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