Sag das doch deinen Freunden!
Max Frisch starb vor 25 Jahren, kurz vor seinem 80. Geburtstag und im Unfrieden mit seiner Heimat. Kurz vor seinem Tod erschien in der «Wochenzeitung» ein offener Brief, in dem der Schriftsteller sich über die Schweiz ausliess: «1848 eine grosse Gründung des Freisinns, heute unter der jahrhundertelangen Dominanz des Bürgerblocks ein verluderter Staat – und was mich mit diesem Staat heute noch verbindet: ein Reisepass (den ich nicht mehr brauchen werde)».
Mit dieser letzten öffentlichen Wortmeldung wies Frisch Anfragen für eine Beteiligung an der 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft zurück. Seine Abrechnung mit dem «verluderten Staat» basierte nicht zuletzt auf der Erkenntnis, dass er vom Staatsschutz während Jahrzehnten bespitzelt worden war. Im Zuge der Fichenaffäre, die nach dem Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp 1988 aufgeflogen war, hatte er Einsicht in seine umfangreiche Akte erhalten.
Max Frisch war ein grosser, aber auch umstrittener Schriftsteller. Und ein kritischer Zeitgenosse, der sich immer wieder zu aktuellen Themen geäussert hat, etwa zum Umgang der Schweiz mit den so genannten «Gastarbeitern». Den Bürgerlichen war er ein Dorn im Auge, sie bezeichneten ihn als Nestbeschmutzer. Eines aber war Max Frisch nie: Ein Staatsfeind. Trotzdem wurden er und andere Menschen linker Gesinnung vom Staatsschutz in diese Kategorie eingestuft.
Die Fichenaffäre ist ein Hauptargument der Gegner des neuen Nachrichtendienstgesetzes (NDG), über das am 25. September abgestimmt wird. Sie befürchten, mit den ausgebauten Kompetenzen für den Nachrichtendienst des Bundes (NDB) könnte sich die Geschichte wiederholen. Seit dem Kalten Krieg aber hat sich vieles geändert, die Schweiz ist heute ein anderes Land. Ich weiss, wovon ich spreche. Ich habe die damalige Zeit erlebt und möchte nicht dorthin zurück.
Trotzdem sind die Befürchtungen nicht aus der Luft gegriffen. Der Zürcher Nationalrat und Grünen-Nationalrat Balthasar Glättli wurde vor einigen Jahren fichiert, weil er ein Bewilligungsgesuch für eine Demonstration eingeholt hatte. Dabei wurde als Folge der Fichenaffäre die Registrierung politischer Aktivitäten gesetzlich verboten. Man kann es Glättli deshalb nicht übel nehmen, dass er dem neuen Gesetz misstraut. Er ist das wohl profilierteste Sprachrohr der Gegner.
Meine Haltung zum Gesetz war lange ambivalent. Ich habe nichts übrig für einen Ausbau des Schnüffelstaats. Gleichzeitig aber besteht eine Notwendigkeit, dass der NDB mit der heutigen Zeit und vor allem ihren Technologien Schritt halten kann. Terrororganisationen wie der so genannte «Islamische Staat» bewegen sich virtuos in der virtuellen Welt. Wenn wir das Gewaltmonopol des Staates ernst nehmen, müssen wir ihm die entsprechenden Gegenmittel geben.
Die NDG-Befürworter sprechen von gleich langen Spiessen, und sie haben grundsätzlich Recht. An einer Medienkonferenz am Dienstag verwiesen sie auf den verhinderten Terroranschlag von drei mutmasslichen Dschihadistinnen in Paris am vergangenen Wochenende. Was aber ist mit jenen Attentätern in Frankreich und Belgien, die nicht gestoppt werden konnten, obwohl die sich meisten von ihnen auf dem Radar der staatlichen Überwachungsorgane befanden?
Man kann auch zu viele Daten sammeln. Beim NDG besteht diese Gefahr. Das betrifft nicht zuletzt die Kabelaufklärung, mit der der grenzüberschreitende Internetverkehr auf Stichworte gescannt werden kann. Balthasar Glättli hat dafür einen prägnanten Vergleich parat: «Sie finden die Nadel im Heuhaufen nicht besser, wenn sie den Heuhaufen grösser machen.» Auch aus der Sicht eines Journalisten ist die Kabelaufklärung problematisch, sie gefährdet den Quellenschutz, der in der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiert ist.
Befürworter des Gesetzes benutzen gerne das Argument «Ich habe nichts zu verbergen». Es ist ebenso naiv wie gefährlich. Mich ärgern aber auch jene Gegner, die lautstark auf ihrer Privatsphäre beharren und diese gleichzeitig im Internet sorglos mit aller Welt teilen. Sie liefern sich damit Konzernen aus, die das Datensammeln zum Geschäftsmodell erklärt haben. Während Geheimdienste ihre Daten filtern müssen, um zu den gewünschten Informationen zu gelangen.
Das macht das NDG nicht besser. Es hat zu viele Mängel auch rechtsstaatlicher Art, wie sie der Staatsrechtler Rainer Schweizer im Interview mit 20 Minuten geschildert hat. Und wenn der Bundesrat erklärt, es werde jährliche vielleicht zehn oder zwölf Fälle geben, in denen eine Überwachung bewilligt wird, ist ohnehin Vorsicht angebracht. Man erinnert sich an ähnliche Prognosen, etwa dass die Zuwanderung mit der Personenfreizügigkeit kaum zunehmen werde.
Die Kollegen von der «Aargauer Zeitung» plädieren für ein «vorsichtiges Ja» zum NDG. Das ist mit Verlaub Unsinn. Nur ein Nein macht den Weg frei für ein nachgebessertes Gesetz, etwa beim journalistischen Quellenschutz. Denn grundsätzlich bleibt es dabei: Der Nachrichtendienst muss für die heutigen Technologien gerüstet sein, einfach mit verhältnismässigen Mitteln.
Schutzlos gegenüber dem Terrorismus ist die Schweiz ohnehin nicht. Mit dem Bundesgesetz betreffend die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF), das nach dem gescheiterten Referendum in Kraft treten wird, erhalten die Behörden neue Möglichkeiten, unter anderem die umstrittenen Staatstrojaner. Balthasar Glättli spricht sich in der «Berner Zeitung» zudem für eine Stärkung der Bundespolizei und der Kantonspolizeien aus: «Das und eine bessere Zusammenarbeit helfen mehr gegen Terroranschläge als das Nachrichtendienstgesetz.»
Bereits heute profitiert der NDB von anderen Nachrichtendiensten. Die «IS»-Sympathisanten, die dieses Jahr vom Bundesstrafgericht verurteilt wurden, konnten dank einem Tipp eines US-Nachrichtendienstes, vermutlich der NSA, dingfest gemacht werden. Man kann das als Trittbrettfahrerei bezeichnen. Aber es ist immer noch besser ein unbefriedigendes Gesetz.
Terrorismus ist per Definition asymetrische Kriegsführung. Terroristen werden immer den Vorteil haben, sich nicht an Gesetze halten zu müssen. Gleich lange Spiesse gibt es nur im klassischen Krieg, draussen auf dem Schlachtfeld, wie man ihn vor 200 Jahren und früher ausfocht.
Wer heutzutage gleich lange Spiesse fordert, verkennt, dass er damit zwangsläufig die Strafverfolgung auf die gleiche Stufe wie Terroristen setzen muss. Denn erst dann sind die Spiesse gleich lang.