
Gestrandete Passagiere im Washington National Aiport. Das Computersystem der Delta Ailines war zusammengebrochen.Bild: JOSHUA ROBERTS/REUTERS
Airlines, Versicherungen, Detailhändler und
andere Dienstleister bieten immer individualisiertere Leistungen. Dabei geht
der Gemeinschaftssinn vor die Hunde. Das Resultat sind Wutbürger.
23.08.2016, 12:0824.08.2016, 15:22

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Im 18. Jahrhundert lebten in Nordamerika
indianische Stämme und Siedler nebeneinander. Dabei kam es öfters vor, dass
Weisse von Indianern entführt wurden. Sebastain Junger ist in seinem Buch
«Tribe» dem Schicksal dieser Weissen nachgegangen und machte dabei die
erstaunliche Entdeckung: Die allermeisten wollten nicht mehr zurück.

Fühlte sich bei den Indianern sauwohl: Kevin Costner im Film «Der mit dem Wolf tanzt».
Als Grund
für dieses Phänomen bezeichnet Junger die Gemeinschaft, die bei den
Indianerstämmen viel ausgeprägter war als bei den Siedlern. «Sie (die Indianer,
Anm. der Red.) pflegten einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn, der auch die
Kindererziehung umfasste. Sie pflegten fast alles zusammen mit anderen zu
erledigen und waren praktisch nie allein.»
Gestützt auf Junger hat der «New York
Times»-Kolumnist David Brooks kürzlich die Gemeinschaft der Indianer mit der
modernen amerikanischen Gesellschaft verglichen. Dabei kommt er zu einem
niederschmetternden Befund:
«Wir haben den wachsenden Wohlstand dazu verwendet, uns mehr Raum zu kaufen: grössere Häuser, grössere Gärten, getrennte Schlafzimmer, private Autos und einen möglichst autonomen Lebensstil. Einzeln betrachtet macht jede dieser Entscheidungen Sinn, aber als Ganzes scheint sich die zunehmende Atomisierung als Fehlschlag zu erweisen. Gemäss Angaben der Weltgesundheitsorganisation haben die Menschen in den reichen Ländern acht Mal mehr Depressionen als in den armen.»
David Brooks, «New York Times»
Gier und individuelle Leistung bilden
bekanntlich die Grundlage des Kapitalismus. Diese Kombination hat den Menschen
in den reichen Ländern einen unglaublichen Wohlstand ermöglicht, aber
gleichzeitig den Gemeinschaftssinn verkümmern lassen. Nach drei Jahrzehnten Neoliberalismus hat diese Entwicklung einen traurigen neuen Höhepunkt erreicht:
Unsere Leistung am Arbeitsplatz wird immer präziser erfasst und unser Lohn
darauf ausgerichtet. Umgekehrt wollen wir nur noch für exakt definierte
Leistungen bezahlen.
Dank Big Data und künstlicher Intelligenz kann
dieses Prinzip immer effizienter durchgesetzt werden. Bei den Airlines
beispielsweise gab es lange zwei Klassen, dann kam die Businessklasse hinzu.
Heute wird die Holzklasse zunehmend zerstückelt: Wer am Fenster sitzen will,
muss mehr bezahlen als wer den unbeliebten Mittelsitz belegen muss. Zusatzkosten gibt
es für mehr Gepäck, besseres Essen. An einzelnen Flughäfen kann man sich mit einer
Gebühr die Schlange vor dem Check-In ersparen, usw.
«Wer reich ist, kann sich erlauben, was lange als normal für alle galt – nämlich das Privileg, es mit menschlichen Wesen zu tun zu haben.»
Edward Luce, «Financial Times»
Die Airlines sind in bester Gesellschaft. Vor
allem stark monopolisierte Dienstleistungsunternehmen setzen zunehmend auf
Individualisierung. Wer eine Box in sein Auto montieren lässt, die seinen Fahrstil aufzeichnet, wird mit tieferen
Versicherungsprämien belohnt. Wer etwa
in der Hotelkette Ibis ein anständiges Wi-Fi benützen will, muss hingegen eine
Zusatzgebühr entrichten. Migros und Coop drängen uns immer stärker an den
Self-Checkout, Swisscom und Sunrise lassen uns in der Warteschlange
der Helpline verzweifeln.

Self-Checkout in einer Migros-Filiale in Baden.Bild: KEYSTONE
Die Individualisierung ist verbunden mit einer
Digitalisierung. Es scheint, dass sich der Kapitalismus einen Mittelstand nicht
mehr leisten kann. Online gilt: Selbst ist der Mann, respektive die Frau. «Wer
reich ist, kann sich erlauben, was lange als normal für alle galt – nämlich das
Privileg, es mit menschlichen Wesen zu tun zu haben», stellt Edward Luce in der
«Financial Times» fest. «Nur sehr reiche Menschen erhalten heute noch ein
personalisiertes Banking, wo der Vermögensverwalter ihren Namen und ihre
Bedürfnisse kennt. Das trifft zunehmend auch für das Gesundheitswesen zu. Viele
oligopolistische Dienstleister führen inzwischen heimlich Listen von
VIP-Kunden. Sie müssen sich nicht mehr durch die Roboter gesteuerten
Beantwortungssysteme kämpfen, sondern werden direkt mit einem menschlichen
Kundenberater verbunden.»
Kann man menschliche Wärme kaufen?
Die fortschreitende Atomisierung der
Wirtschaft erzeugt Frust und Wut. Wer von computerisierten
Beantwortungssystemen abgewimmelt wird, wähnt sich als Mensch zweiter Klasse.
Wer ein Flugticket nicht umtauschen kann, weil er bei der Online-Bestellung
einen Fehler gemacht hat, fühlt sich verar... Beim Mittelstand breitet sich so
das Gefühl aus, nur noch dann anständig behandelt zu werden, wenn man dafür
auch bezahlt. Wenn menschliche Wärme und Gemeinschaftsgefühl käuflich sind,
dann hat die Gesellschaft ein Problem.
Die Affenpocken betreffen fast ausschliesslich Männer, die Sex mit anderen Männern haben. Ihre Lobbyorganisation Pink Cross fordert nun, dass der Bundesrat handelt und die «besondere Lage» ausruft.
Die «besondere Lage» solle ausgerufen werden, um Impfstoff und Medikamente national zu beschaffen und deren Zulassung voranzutreiben, begründet Pink Cross die Petition in einer Mitteilung vom Mittwoch. Zur Bekämpfung der Affenpocken gebe es eine Impfung, Tests und Medikamente. «In der Schweiz fehlt aber der Zugang zu allen drei Mitteln», so die Kritik.