Rüstungschef: «Die Schweiz steht in dieser Rangliste auf Platz 13. 13 von 15!»
In zwei Monaten kommt Donald Trump ans WEF in der Schweiz, dann gilt höchste Alarmstufe. Bereitet Ihnen dieser Auftritt Bauchschmerzen?
Urs Loher: Nein, gar nicht. Die Schweiz ist gut aufgestellt, um ein solches Einzelereignis zu bewältigen.
Vor Kurzem sagten Sie, die Schweiz könne derzeit 8 Prozent ihres Luftraums verteidigen. Gleichzeitig tauchen überall in Europa plötzlich Drohnen auf, mutmasslich aus Russland.
Ja. Aber beim WEF geht es im Wesentlichen darum, ein Gebäude zu schützen und noch einen Flugplatz. Das ist sehr punktuell. Was mir mehr Sorgen bereitet, ist die Verteidigung in einem grösseren Kontext. Schon alleine die Durchführung von Olympischen Spielen würde mir grosses Bauchweh bereiten. Frankreich hatte im vergangenen Sommer alleine zur Drohnenabwehr 3400 Personen im Einsatz. Und selbst wenn unsere Boden-Luft-Abwehrsysteme Patriot kommen, können wir nur 30 Prozent der Schweiz verteidigen. Das ist, was mir Sorgen bereitet.
Ich frage deshalb, weil Armeechef Thomas Süssli vor Kurzem die Beschaffung einer Drohnenabwehr bis Ende Jahr gefordert hat. Ist das überhaupt realistisch?
Das ist sehr wohl realistisch. Wir sprechen hier von kleinen, handelsüblichen Drohnen. Solche Drohnen wehrt man heutzutage mit Jamming, also Störsendern, ab. Wir sind zuversichtlich, dass die Beschaffung bis Ende Jahr, spätestens Anfang 2026, klappt. Wir sind im Gespräch mit zwei Schweizer Anbietern. Das wird aber nicht lange reichen.
Wie meinen Sie das?
Wir sehen heute in der Ukraine, wie dynamisch die Entwicklung im Bereich der Drohnen ist. Eine handelsübliche Drohne kann man mit Jammern gut abwehren, aber sobald diese modifiziert sind, wird es sehr schwierig. Am Anfang brauchte Russland ein halbes Jahr, um sich auf eine Modifikation einzustellen. Heute sind es noch ein bis zwei Wochen. Mittelfristig braucht es aus meiner Sicht zwei Elemente: Entweder ein Laser, um die Drohnen zu bekämpfen, oder Drohnen, die gegen andere Drohnen aktiv werden.
Laserkanonen?
Ja. Bereits vor fünfzehn Jahren, als ich noch bei Rheinmetall arbeitete, haben wir dies getestet. Da musste man noch mehr als eine Minute auf ein Ziel fokussieren, um es zum Absturz zu bringen. Heute kann man die Energie so stark bündeln, dass bereits eine kurze Zeit ausreicht. Und der Vorteil ist: Es braucht keine Munition, nur Energie. Das geht natürlich nicht bei Nebel, das ist klar.
Und was dann?
Dann bekämpft man Drohnen mit Drohnen. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten, von Crash-Drohnen bis zu solchen, welche Netze abwerfen, damit sich die Rotoren verheddern.
Sie sagen mittelfristig: Von welcher Zeitspanne reden wir hier?
In drei bis fünf Jahren wird die Schweiz eine solche Drohnenabwehr brauchen. Aktuell tauchen ja vor allem einzelne Drohnen auf, aber was ist, wenn es plötzlich zehn sind, oder zwanzig? Bei einem Schwarm bleibt nicht viel Zeit, um diese einzeln abzuschiessen. Dann braucht es eine adäquate Antwort. Und die Drohnen sind, zumindest die Mikro- und Mini-Drohnen, sehr agil.
Der Rest von Europa scheint auf ein anderes System zu setzen: den Skyranger. Warum geht die Schweiz einen Sonderweg?
Der Skyranger ist auch für die Schweiz ein Thema. Allerdings müssen wir hier bezüglich des Einsatzgebietes unterscheiden: In einem militärischen Umfeld ist dieser sicher sinnvoll, auf einem zivilen Flughafen hingegen untauglich. Wir reden hier von 35-Millimeter-Geschossen. Solche im zivilen Umfeld einzusetzen, ist keine gute Idee.
Der Zeitdruck scheint enorm. Wie sorgen Sie dafür, dass es in diesem Umfeld nicht zu Fehlkäufen kommt?
Was heisst hier Fehlkäufe? Ich bin nicht der Meinung, dass die Beschaffung selbst das Problem ist. Das Problem sind die Lieferzeiten. Wir suchen nach Systemen, die halb Europa nachfragt. Also haben wir Lieferzeiten von vier bis sechs Jahren. Und bis das Material in den Truppen ankommt und diese es einsetzen können, sind wir dann bei sechs bis acht Jahren.
Die Schweiz geniesst keine Priorität, das musste sie schmerzlich erfahren.
Das US-Verteidigungsministerium klassifiziert Prioritäten von 1 bis 15. Die Schweiz steht in dieser Rangliste auf Platz 13. 13 von 15! Da kommen zuerst die USA, dann die Bündnispartner, dann die kriegsführenden Länder und jene, die sich nahe am Kriegsgeschehen befinden. Und dann irgendwann wir.
Die positive Lesart davon wäre: Die Bedrohungslage ist offenbar nicht so schlimm. Oder nicht?
Das sehe ich anders. Wir stehen so weit hinten, weil alle anderen Länder massiv aufrüsten, weil sie eben die Bedrohungslage als gefährlich einschätzen. Diese Länder haben zunächst ihr Kriegsmaterial an die Ukraine weitergegeben, die wiederum einen strategischen Wert für die USA hat. Nun füllen sie ihre Lager – nur die Schweiz steht abseits. Grossbritannien baut derzeit sieben Munitionsfabriken auf. Wir hingegen rüsten quasi ab. Das leuchtet mir nicht ein. Nun warten wir auf die Patriot-Systeme, weil die Ukraine priorisiert wurde. Und im schlimmsten Fall fallen wir immer weiter nach hinten in dieser Warteschlange.
Sie waren vor Kurzem persönlich im Pentagon. Wie wurden Sie empfangen?
Es gab vonseiten der USA viel Verständnis für unsere Situation, dass wir derzeit unseren Luftraum nicht verteidigen können. Wir arbeiten unter Hochdruck daran, möglichst zwei Führungseinheiten der Patriot-Systeme zu erhalten, damit die Truppen den Einsatz bereits üben können.
Viel Verständnis – aber keine definitive Zusage?
Nein, eine Zusage gab es nicht.
Und was ist der aktuelle Stand beim F-35?
Der Bundesrat wird Ende November informieren, wie es weitergeht. Stand jetzt rechnen wir nicht mit einer Verzögerung. Bezüglich der Stückzahl gibt es eigentlich drei Optionen: Entweder die Schweiz beschafft weniger Flieger, es gibt einen Nachtragskredit oder wir verzichten auf Offset-Geschäfte. Aufgrund des Entscheids, den Zusammenbau von vier Fliegern durch die Ruag weiter voranzutreiben, fällt die letzte Option eigentlich weg.
Die Schweiz ist der European Sky Shield Initiative beigetreten und will nun im Einklang mit europäischen Nachbarn Rüstungsgüter beschaffen. Ist das eine direkte Folge aus diesen amerikanischen Beschaffungs-Flops?
Die neue rüstungspolitische Strategie der Schweiz besagt im Kern zwei Dinge: Wir müssen erstens dafür sorgen, dass die Schweiz wieder eine Rüstungsindustrie aufbaut. Und zweitens, dass in einem Konflikt die Wahrscheinlichkeit sehr gross ist, dass wir auf die Zusammenarbeit mit unseren unmittelbaren Nachbarn angewiesen sind. Das ist, was die European Sky Shield Initiative ist, eine Beschaffungsinitiative. Der Titel ist etwas missverständlich. Es geht nicht darum, gemeinsam einen europäischen Luftraum zu verteidigen.
Die SVP kritisiert dies massiv: Es bestehe die Gefahr, dass die Schweiz ihre Souveränität verliere.
Ich kann diese Kritik nicht nachvollziehen, zumal es uns freisteht, jedes einzelne Projekt für uns zu beurteilen. Und sowieso: Im Ernstfall ist sich jedes Land selbst das nächste.
Umgekehrt kann man sich auch die Frage stellen, ist die Schweiz überhaupt noch ein verlässlicher Partner für das Ausland?
Wenn man das Kriegsmaterialgesetz anschaut, wie es heute feststeht, dann nicht. Es verbietet die Weitergabe von Schweizer Rüstungsgütern von einem fremden Land an eine kriegsführende Partei. Deutschland kann also Munition nicht an die Ukraine weitergeben, wenn diese aus der Schweiz stammt. Aber ohne diese Flexibilität beschaffen andere Länder keine Rüstungsgüter in der Schweiz. Darum bin ich dankbar, dass die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats einen Schritt gemacht und die Absicht geäussert hat, das Kriegsmaterialgesetz entsprechend anzupassen. Auf dass wir wieder Vertrauen aufbauen können und ein verlässlicher Partner werden können.
Nur: Ausgerechnet die Ukraine ist von dieser Lockerung ausgenommen. Das war der Antrag der SVP.
Noch ist die Debatte ja nicht fertig, das Geschäft geht ja noch in den Nationalrat. Und ich gehe davon aus, dass es zu einem Referendum kommt. Insofern wird die Debatte noch lange andauern. Aber ich werte die aktuelle Entwicklung als positives Zeichen.
Aber aus Ihrer Sicht wäre es wichtig, dass die Schweiz die Weitergabe von Kriegsmaterial an die Ukraine erlaubt?
Die Neutralität muss respektiert werden. Für den Rüstungsstandort Schweiz ist es wichtig, so wenig Einschränkungen wie möglich zu erhalten. Denn die Schweizer Rüstungsindustrie ist am Boden. Die wenigsten Länder werden noch Enduser-Zertifikate unterzeichnen. Die Schweizer Rüstungsindustrie muss exportieren können, der Heimmarkt ist zu klein.
Wie baut man diese wieder auf?
Ich gehe nicht davon aus, dass wir je Flieger oder Panzer in der Schweiz entwickeln. Wo wir aber mit unseren Hochschulen weltweit führend sind, ist die Forschung und Entwicklung in neuen Technologien. Ich denke hier an KI, Drohnen und Robotik. Es muss uns in diesem Feld gelingen, einen Wissenstransfer von den Hochschulen in die Wirtschaft zu forcieren. Das Ziel muss sein, das Knowhow in der Schweiz zu behalten.
Sie haben vorher die Drohnenabwehr angesprochen: Braucht es ein Leuchtturmprojekt?
Ein erster Schritt dazu ist die ins Leben gerufene Taskforce Drohnen, mit der wir die Funktionsweise, die Entwicklung von Munition und die Steuerelemente analysieren. Für mich ist das eigentlich erst der Anfang dieser Entwicklung. Die nächste Etappe muss dann sein, wenn nicht nur eine Drohne im Einsatz steht, sondern ein Schwarm von Drohnen. Ein Verbund, der untereinander kommunizieren mit möglicherweise unterschiedlichen Missionen. Mein Ziel ist es, ein Ökosystem von Firmen aufzubauen, das in dieser Entwicklung eine führende Rolle einnimmt.
Ein «Drone Valley».
Oder ein «Drone Country». Vielleicht wird es ein bisschen grösser als ein Tal.
Wir haben jetzt viel über die Zukunft gesprochen, deshalb zum Schluss ein Blick zurück: Sie sind seit ungefähr zwei Jahren Rüstungschef der Schweiz – welches persönliche Fazit ziehen Sie aus dieser Zeit?
Für mich ist ernüchternd, in welcher Lage sich die Schweiz befindet. Wenn ich sehe, mit welcher Vehemenz Deutschland, Frankreich oder Dänemark auf die aktuelle Bedrohung reagieren, und wir hingegen vier Jahre um Anpassungen des Kriegsmaterialgesetzes diskutieren: Dann fühle ich mich ohnmächtig. Die Schweiz war auf viele kriegerische Auseinandersetzungen des letzten Jahrhunderts schlecht vorbereitet und brauchte viel Glück. Aber ich bin nicht sicher, ob Glück eine weise Strategie ist. (aargauerzeitung.ch)
