
Timea Bacsinszky und Martina Hingis haben sich als Tennis-Doppel gesteigert.Bild: EPA/KEYSTONE
Der Medaillen-Silberstreifen am Horizont bekommt eine goldene Einfärbung. Martina Hingis und Timea Bacsinszky stehen nach einer erstaunlichen Leistung im Viertelfinale.
10.08.2016, 07:2210.08.2016, 16:42
klaus zaugg, rio de janeiro
Der Dichterfürst Mark Twain hat nichts von Tennis verstanden. Aber eine seiner Weisheiten bringt das Erfolgsrezept unseres Tennis-Doppels auf den Punkt gebracht. «Alles, was es braucht, ist Ignoranz und Selbstvertrauen.»

Erleichterung pur nach dem Sieg im Achtelfinal.Bild: EPA/KEYSTONE
Der Triumph im Achtelfinale gegen das amerikanische Doppel Bethanie Mattek- Sands/Coco Vandeweghe (6:4, 6:4) ist ein Sieg des Selbstvertrauens – und der Ignoranz. An die eigenen Möglichkeiten glauben und ignorieren, dass man ja vor Rio noch gar nie zusammen ein Doppel gespielt hat. Ignorieren, dass dies alles kein von langer Hand geplanter Medaillen-Feldzug ist. Sondern eine Feuerwehrübung. Scheitern wäre logisch und entschuldbar.
Gute Entwicklung in 39 Stunden
Die Steigerung gegenüber der ersten Partie ist verblüffend. Den Sieg in der ersten Runde hatte Martina Hingis magistral orchestriert. Es war ihr Erfolg. Sie gewann, um es boshaft zu formulieren, die erste olympische Doppel-Partie nicht mit sondern trotz Timea Bacsinszky.
Nun haben die beiden Schweizerinnen knapp 39 Stunden später beinahe auf Augenhöhe gespielt. Noch immer ist Martina Hingis die wichtigere der beiden Spielerinnen und sie wir es bleiben. Taktisch schlauer, charismatischer, flinker, explosiver, eleganter.

In der ersten Partie holte Martina Hingis die Kohle aus dem Feuer.Bild: EPA/KEYSTONE
Aber ihre Partnerin aus dem Welschland ist aufgeblüht. Ja sie ist über Nacht beinahe eine neue Spielerin geworden. Ihre Verunsicherung nach dem Ausscheiden im Einzel hat sich aufgelöst wie Nebel in der Morgensonne. Ihr Selbstvertrauen ist zurück. Sie wirkt auf dem Platz nicht mehr nervös, verzagt und ängstlich. Wir haben am Geburtstag von Roger Federer eine «neue» Timea Bacsinszky und damit ein «neues» Doppel gesehen.
Das Spiel wirkt nicht mehr improvisiert. Sondern durchdacht. Nicht mehr hektisch, sondern ruhig und präzis. Nun ergänzen sich die beiden Spielerinnen. Es war nicht mehr Martina Hingis, die ständig die taktischen und spielerischen Notfälle auf dem Platz bereinigen musste. Timea Bacsinszky hat eine defensivere Rolle übernommen und Martina Hingis kann ihr enormes Talent besser umsetzen.
«Wir verstehen das Spiel und können es gut lesen.»
Timea Bacsinszky
Um es an einem Beispiel aus einer anderen Sportart zu erklären: Es ist so, wie wenn Roman Josi nun nicht mehr mit Robin Grossmann sondern mit Timo Helbling an der blauen Linie verteidigt und es wagen darf, sich mehr um die Offensive zu kümmern.

Timea Bacsinszky scheint den Tritt immer besser zu finden.Bild: Charles Krupa/AP/KEYSTONE
Martina Hingis lobt Timea Bacsinszky ausgiebig. Sie sei stolz auf die Leistung ihrer Partnerin, die mutig «wie ein Soldat» am Netz gestanden sei. Die Chemie stimme. Timea Bacsinszky sagt, sie und Martina Hingis seien taktische Spielerinnen. «Wir verstehen das Spiel und können es gut lesen.» Das erkläre die schnellen Fortschritte. Und ganz offensichtlich hatte Timea Bacsinszky in dieser zweiten Partie viel mehr Energie.

Der Energietank bei Bacsinszky war im Achtelfinal wieder voll.Bild: KEYSTONE
Das erste Doppel hatte sie am Samstag etwas mehr als drei Stunden nach der verlorenen Einzelpartie bestritten. Sie sagt, es sei nicht möglich gewesen, sich dazwischen richtig zu verpflegen. Während des Doppels sei ihr dann «das Benzin» ausgegangen und gegen Schluss habe sie deswegen Muskelkrämpfe bekommen. Nun waren die Energietanks wieder gefüllt.
Platzwechsel mit Wirkung
Vielleicht war ja auch noch ein bisschen Voodoo dabei. Delegationsleiter Severin Lüthi, unser Tennis-General, von dessen olympischer Tennis-Armee nach der Fahnenflucht der Männer (Roger Federer, Stan Wawrinka) nur noch der «Frauenhilfsdienst» übrig geblieben ist, setzt sich zusammen mit zwei Begleitern keck auf die Fotografenplätze neben dem Court.
«Wir waren auf das Spiel konzentriert und haben ihn gar nicht wahrgenommen.»
Martina Hingis
Die Partie beginnt nicht gut, bald liegen Martina Hingis und Timea Bacsinszky im ersten Satz nach drei Games 1:2 zurück. Da steigt unverhofft der Schiedsrichter von seinem Stuhl herunter und komplimentiert den Schweizer Delegationschef samt Entourage hinaus.

Severin Lüthi mit Timea Bacsinszky beim Fotoshooting.Bild: KEYSTONE
Hatte er sich ungebührlich benommen? Unerlaubterweise taktische Anweisungen erteilt? «Nein» sagt Martina Hingis. «Wir waren auf das Spiel konzentriert und haben ihn gar nicht wahrgenommen.» Aber eine Wirkung hatte die Episode doch. Sobald Severin Lüthi auf der Zuschauertribüne Platz genommen hatte und nicht mehr am Platzrand sass, begann das Spiel unseres Doppels zu laufen und der Sieg stand nie mehr in Frage. «Also damit hat Severin Lüthi nichts zu tun» relativiert Martina Hingis. Vielleicht hat es doch ein wenig geholfen. «Stets liegt, wo das Banner des Sieges wallt, der Aberglaube im Hinterhalt» sagte einst der Dichter Graf August von Platen.
Wie weit geht die Reise?
Im Viertelfinal wartet nun das an Nummer 3 gesetzte Geschwisterpaar Hao-Ching Chang/Yung-Jan Chan aus Taiwan.
Der Silberstreifen am Horizont bekommt eine goldene Einfärbung. Einerseits weil eine weitere Steigerung unseres Doppels zu erwarten ist und andererseits, weil die Favoritinnen Venus und Serena Williams ebenso überraschend bereits ausgeschieden sind wie die als Nummer 2 gesetzten Französinnen Caroline Garcia/Kristina Mladenovic.

Holt das Frauen-Doppel eine olympische Tennismedaille?Bild: EPA/KEYSTONE
Martina Hingis kann eine Medaille gewinnen. Nicht mehr trotz, sondern mit und vielleicht am Ende gar dank Timea Bacsinszky.
Die kuriosesten Geschichten aus 120 Jahren Olympia
1 / 30
Die kuriosesten Geschichten aus 124 Jahren Olympia
quelle: ap / lionel cironneau
Fakten zu den Olympischen Spielen von Rio 2016
Das könnte dich auch noch interessieren:
Vergangene Woche wurde Boris Becker von einem Londoner Gericht wegen verschiedener Insolvenzstraftaten schuldig gesprochen. Zum Hintergrund: Als er 2017 gerichtlich für zahlungsunfähig erklärt wurde, hatte er den Insolvenzverwaltern sein Vermögen offenlegen müssen und dabei nach Einschätzung des Gerichts wichtige Teile ausgelassen. Dafür muss der ehemalige Tennis-Profi nun für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis. Frühestens nach einem Jahr und drei Monaten darf er die übrige Zeit auf Bewährung verbringen.