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Europa der Regionen: Eine gute Idee mit einem grossen Haken

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Demonstration für ein unabhängiges Katalonien in Barcelona.Bild: EPA/EFE

Europa der Regionen: Eine gute Idee mit einem grossen Haken

Katalanen, Schotten, Norditaliener: Alle wollen unabhängig sein. Solange es jedoch kein gesamteuropäisches Sozial- und Sicherheitssystem gibt, lässt sich dieser Wunsch nicht vernünftig umsetzen.
05.10.2017, 12:1805.10.2017, 22:57
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Nach dem Blutrausch des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall des Osmanischen Reiches war eine Idee des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson sehr populär. In seinem legendären 14-Punkte-Programm versprach er allen Völkern Selbstbestimmung und wurde deshalb in Europa begeistert empfangen.

«Wir müssen eine neue Demokratie erfinden. Eine, die nicht an die Idee des Nationalstaates gekoppelt ist.»
Robert Menasse

Der an sich grossartige Plan hatte einen Pferdefuss: Wilson konnte nicht definieren, wer genau sich selbst bestimmen durfte. War das eine Region oder eine Nation? Die neue Grenzziehung an der Pariser Friedenskonferenz von 1919 fiel denn auch reichlich willkürlich aus und sorgt bis heute für Ärger.  

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Auch die Schotten spielen mit der Unabhängigkeits-Idee.Bild: EPA/EPA FILE

Heute ist der Wunsch nach Unabhängigkeit in Europa wieder sehr stark vorhanden. Der Kampf der Katalanen ist nur das jüngste Beispiel. In Schottland scheiterte eine Volksabstimmung für einen eigenen Staat nur knapp, die Norditaliener wären ihre südlichen Kollegen lieber heute als morgen los, und die verschiedenen Regionen in Belgien werden mehr schlecht als recht zusammengehalten.  

Grundsätzlich ist ein «Europa der Regionen» eine gute Idee. In einer Region kennt man sich und kann daher auch demokratisch entscheiden. Die Schweizer am Bodensee beispielsweise fühlen sich ihren österreichischen und deutschen Nachbarn stärker verbunden als den Romands und den Tessinern. Zudem hat in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts der Nationalismus in Europa für unsägliches Leid gesorgt.  

Wahllokal in Katalonien gewaltsam gestürmt

Video: srf

Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse plädiert daher vehement für mehr Selbstbestimmung der Regionen. In seinem vor ein paar Jahren veröffentlichten Essay «Der Europäische Landbote» fordert er: «Wir müssen eine neue Demokratie erfinden. Eine, die nicht an die Idee des Nationalstaates gekoppelt ist. (...)Wenn wir nachhaltig Frieden auf dem Kontinent schaffen wollen, dann müssen wir den Nationalismus im Kern ersticken.»

«Es waren nationale Regierungen, die Banken gerettet, Liquidität ins Geldsystem gepumpt, Konjunkturprogramme gestartet und Schecks für Arbeitslose unterzeichnet haben.»
Dani Rodrik

Politisch wäre ein «Europa der Regionen» unproblematisch. Selbstständige Regionen lassen sich gut mit der Idee eines Vereinigten Europas verbinden. Die Katalanen wollen die Spanier loswerden, nicht Brüssel. Für die Schotten ist das englische Ja zum Brexit gar ein Grund, erneut eine Abstimmung für eine Unabhängigkeit zu erzwingen. Warum will es trotzdem nicht klappen?  

Dani Rodrik, Ökonomieprofessor an der Harvard University, legt den Finger auf den wunden Punkt. Nationalismus ist mehr als Blut-und-Boden-Rhetorik, der Nationalstaat hat auch eine wichtige Funktion. Das hat sich nach der Finanzkrise einmal mehr bewahrheitet. «Es war die heimische Politik, die einschreiten musste, um einen ökonomischen Zusammenbruch zu verhindern», so Rodrik. «Es waren nationale Regierungen, die Banken gerettet, Liquidität ins Geldsystem gepumpt, Konjunkturprogramme gestartet und Schecks für Arbeitslose unterzeichnet haben. Oder wie es der Gouverneur der Bank of England treffend formuliert hat: ‹Banken sind global, solange sie lebendig sind, aber national, sobald sie todkrank geworden sind.›»

Das Beispiel Leukderbad

Was Rodrik meint, können wir an einem einheimischen Beispiel demonstrieren: In den 90-er Jahren musste die Walliser Gemeinde Leukerbad wegen eines grössenwahnsinnigen Bürgermeisters Bankrott anmelden. Das hatte für die Einwohner zur Folge, dass der lokale Steuersatz schmerzlich angehoben wurde. Doch kein Leukerbader Rentner musste um seine AHV bangen, kein Erwerbstätiger musste Angst haben, die Arbeitslosenversicherung zu verlieren.

Der Schweizer Förderalismus und die direkte Demokratie funktionieren, weil wir nationale Sicherheitsnetze aufgespannt haben. Gerades deshalb können wir den Regionen grosse Selbstständigkeit zugestehen.  

Auch katalanischer Nationalismus ist hässlich

Gäbe es in der EU wie in der Schweiz ein gemeinsames Sozialsystem, dann könnte man den Katalanen, den Schotten und allen anderen gefahrlos mehr Unabhängigkeit zugestehen. Ohne ein solches Sicherheitsnetz droht entweder ein Chaos, oder ein neuer Nationalismus. Ob dieser katalanisch, schottisch oder wie auch immer aussieht, spielt keine Rolle. Hässlich ist er auf jeden Fall.

Paradoxerweise muss die EU also zuerst enger zusammenrücken, bevor sie ihren Regionen mehr Autonomie einräumen kann.

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99 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Kronrod
05.10.2017 12:43registriert März 2015
Löpfe behauptet, die Schweiz sei gross genug für eigene Sicherheitsnetze, aber das etwa gleich grosse Katalonien nicht. Das scheint mir nicht so recht zusammenzupassen.
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Angelo C.
05.10.2017 15:13registriert Oktober 2014
Ohne allzusehr ins Detail gehen zu wollen: der Artikel gefällt mir, die Betrachtungen sind m.E. mehrheitlich stimmig....

Richtige Abspaltungen (aussser Kosovo, Krim, Montenegro) gab es in den vergangenen Jahrzehnten in Europa kaum, wenn man BE und JU ausklammern will. Dem Baskenland ist es misslungen.

Man darf also echt gespannt sein, wie sich die Entwicklung zwischen Flamen und Wallonen, britischen Teilstaaten, Katalonien und Norditalien in den kommenden Jahren präsentieren wird.

Mag sein, dass Katalonien eine Art Initialzündung auslösen wird 🤔!
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Luca Brasi
05.10.2017 13:29registriert November 2015
Welche Norditaliener wollen den Süden loswerden? Nicht einmal die Lega Nord spricht von "Padanien" mehr und ohne die Landwirtschaft des Südens ist der Norden genauso aufgeschmissen.
Und die Bodenseeregion fühlt sich Deutschland und Österreich näher? Wieso sehe ich dann zur Ferienzeit so viele SG- oder TG-Autokennzeichen im Tessin? So entfremdet und "disconnected" scheinen die Regionen auch nicht zu sein.
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