Nach dem Blutrausch des Ersten Weltkrieges und dem Zerfall des Osmanischen Reiches war eine Idee des damaligen US-Präsidenten Woodrow Wilson sehr populär. In seinem legendären 14-Punkte-Programm versprach er allen Völkern Selbstbestimmung und wurde deshalb in Europa begeistert empfangen.
Der an sich grossartige Plan hatte einen Pferdefuss: Wilson konnte nicht definieren, wer genau sich selbst bestimmen durfte. War das eine Region oder eine Nation? Die neue Grenzziehung an der Pariser Friedenskonferenz von 1919 fiel denn auch reichlich willkürlich aus und sorgt bis heute für Ärger.
Heute ist der Wunsch nach Unabhängigkeit in Europa wieder sehr stark vorhanden. Der Kampf der Katalanen ist nur das jüngste Beispiel. In Schottland scheiterte eine Volksabstimmung für einen eigenen Staat nur knapp, die Norditaliener wären ihre südlichen Kollegen lieber heute als morgen los, und die verschiedenen Regionen in Belgien werden mehr schlecht als recht zusammengehalten.
Grundsätzlich ist ein «Europa der Regionen» eine gute Idee. In einer Region kennt man sich und kann daher auch demokratisch entscheiden. Die Schweizer am Bodensee beispielsweise fühlen sich ihren österreichischen und deutschen Nachbarn stärker verbunden als den Romands und den Tessinern. Zudem hat in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts der Nationalismus in Europa für unsägliches Leid gesorgt.
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse plädiert daher vehement für mehr Selbstbestimmung der Regionen. In seinem vor ein paar Jahren veröffentlichten Essay «Der Europäische Landbote» fordert er: «Wir müssen eine neue Demokratie erfinden. Eine, die nicht an die Idee des Nationalstaates gekoppelt ist. (...)Wenn wir nachhaltig Frieden auf dem Kontinent schaffen wollen, dann müssen wir den Nationalismus im Kern ersticken.»
Politisch wäre ein «Europa der Regionen» unproblematisch. Selbstständige Regionen lassen sich gut mit der Idee eines Vereinigten Europas verbinden. Die Katalanen wollen die Spanier loswerden, nicht Brüssel. Für die Schotten ist das englische Ja zum Brexit gar ein Grund, erneut eine Abstimmung für eine Unabhängigkeit zu erzwingen. Warum will es trotzdem nicht klappen?
Dani Rodrik, Ökonomieprofessor an der Harvard University, legt den Finger auf den wunden Punkt. Nationalismus ist mehr als Blut-und-Boden-Rhetorik, der Nationalstaat hat auch eine wichtige Funktion. Das hat sich nach der Finanzkrise einmal mehr bewahrheitet. «Es war die heimische Politik, die einschreiten musste, um einen ökonomischen Zusammenbruch zu verhindern», so Rodrik. «Es waren nationale Regierungen, die Banken gerettet, Liquidität ins Geldsystem gepumpt, Konjunkturprogramme gestartet und Schecks für Arbeitslose unterzeichnet haben. Oder wie es der Gouverneur der Bank of England treffend formuliert hat: ‹Banken sind global, solange sie lebendig sind, aber national, sobald sie todkrank geworden sind.›»
Was Rodrik meint, können wir an einem einheimischen Beispiel demonstrieren: In den 90-er Jahren musste die Walliser Gemeinde Leukerbad wegen eines grössenwahnsinnigen Bürgermeisters Bankrott anmelden. Das hatte für die Einwohner zur Folge, dass der lokale Steuersatz schmerzlich angehoben wurde. Doch kein Leukerbader Rentner musste um seine AHV bangen, kein Erwerbstätiger musste Angst haben, die Arbeitslosenversicherung zu verlieren.
Der Schweizer Förderalismus und die direkte Demokratie funktionieren, weil wir nationale Sicherheitsnetze aufgespannt haben. Gerades deshalb können wir den Regionen grosse Selbstständigkeit zugestehen.
Gäbe es in der EU wie in der Schweiz ein gemeinsames Sozialsystem, dann könnte man den Katalanen, den Schotten und allen anderen gefahrlos mehr Unabhängigkeit zugestehen. Ohne ein solches Sicherheitsnetz droht entweder ein Chaos, oder ein neuer Nationalismus. Ob dieser katalanisch, schottisch oder wie auch immer aussieht, spielt keine Rolle. Hässlich ist er auf jeden Fall.
Paradoxerweise muss die EU also zuerst enger zusammenrücken, bevor sie ihren Regionen mehr Autonomie einräumen kann.