«Putin spielt mit seiner Diplomatie gegenüber Trump ein sehr gefährliches Spiel»
Mehrere Nato-Staaten registrierten in den vergangenen Wochen Verletzungen ihrer Lufträume durch – teils mutmasslich, teils bestätigt – russische Drohnen. Handelt es sich dabei um ein neues Ausmass der Bedrohung?
Daniel Möckli: Die russische Bedrohung rückt näher an Europa, ja, aber sie wird auch stärker wahrgenommen. Der eigentliche Epochenwechsel geschah jedoch mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022. In den letzten Wochen hat sich die Sicherheitslage nicht markant verschlechtert, aber die Nervosität nimmt zu. Hier am Center for Security Studies der ETH analysieren wir Russlands Kriegsstrategie in einem grösseren Kontext, nicht anhand einzelner Ereignisse wie der jüngsten Drohnen-Vorfälle. Russland ist seit der Annexion der Krim im Jahr 2014 ein Brennpunkt.
Und doch scheint die Verunsicherung in Westeuropa seit den Drohnen-Überflügen gestiegen zu sein.
Putin schürt diese Verunsicherung bewusst. Er braucht den Konflikt mit dem Westen, um seine eigene Macht zu erhalten.
Ist die Verunsicherung Europas angebracht?
Ich kann sie verstehen, aber eine Überreaktion wäre ganz im Sinne Putins, er will den Westen spalten und die Nato testen. Es kann auch sein, dass der Kreml mit den Drohnen-Überflügen versucht, die europäischen Staaten dazu zu bewegen, sich vermehrt auf ihr eigenes Land zu konzentrieren. So könnte die Unterstützung für die Ukraine schwinden und Putin stünden im Krieg wieder mehr Möglichkeiten offen.
Für Sie ist also klar, dass die Drohnen einen russischen Hintergrund haben müssen?
Bei der Nato-Ostflanke ist es klar und auch nicht neu, bei den meisten anderen Fällen weiss man das bislang nicht gesichert. Das Vorgehen passt jedoch in das Muster der hybriden Konfliktführung Russlands.
Wie hat die Nato in Ihren Augen reagiert?
Operativ hat sie gut reagiert. Die Solidarität zwischen den europäischen Bündnispartnern war da. Die Schwierigkeit liegt weiterhin im Verhalten der Nato-Führungsmacht USA, die zu oft mit den Achseln zuckt, wenn sich Europa bedroht fühlt. Politisch ist die Nato geschwächt, als operative Militärallianz aber noch immer sehr stark. Sie hat sogar an Schlagkraft gewonnen.
Die Nato-Staaten haben jedoch wenig Erfahrung in der Abwehr von Drohnenangriffen.
Das ist in der Tat eine Schwäche. Generell ist es so, dass Russland als aktive Kriegspartei seine Fähigkeiten laufend entwickeln kann, während sich die Nato auf dem Reissbrett abstrakt überlegen muss, wie sie vorgeht. Der Westen hat einen grossen Nachteil durch die praktische Kriegserfahrung Russlands, kann aber wiederum von der Ukraine lernen, wie man mit Bedrohungen aller Art umgeht. Die Schlagkraft durch traditionelle militärische Mittel ist da. Die Nato muss nun rasch einen grossen Schritt nehmen, was den Einsatz von neuen Kriegstechnologien wie Drohnen oder künstlicher Intelligenz angeht. Diese Arbeiten sind im Gange.
War die Nato jemals so unter Druck?
Die Nato hat seit ihrer Gründung 1949 viele Krisen durchlebt. Die aktuelle Situation mit der russischen Bedrohung und der wachsenden Unsicherheit, was die Unterstützung der USA angeht, gab es jedoch noch nie. Das ist sicher einer der schwierigsten Momente in ihrer Geschichte, auch weil sie Russland nach 2014 vielleicht zu spät als Bedrohung über die Ukraine hinaus wahrgenommen hat.
Der ehemalige Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte kürzlich in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger, er bereue die zögerliche militärische Unterstützung der Ukraine durch die Nato-Staaten nach 2014. Mit mehr Waffenlieferungen hätte der Krieg vielleicht verhindert werden können.
Hätte die Nato die Ukraine damals massiv aufgerüstet, hätte dies Risiken für die Diplomatie mit sich gebracht. Also hat man damals versucht, mit Diplomatie zu deeskalieren. Man hoffte, Russland nochmals in eine Spur lenken zu können, die nicht zum fundamentalen Bruch führt. Inzwischen wissen wir: Die Diplomatie hat nirgends hingeführt – Russland möchte mit roher Gewalt seine Interessen durchsetzen. Ich würde aber niemandem einen Vorwurf machen, der das 2014 anders eingeschätzt hat.
Wie sehr kommt Putin das zögerliche Vorgehen der USA unter Donald Trump entgegen?
Putin nutzt Trumps Sehnsucht, zum Friedensstifter zu werden, konsequent aus. Er weiss, dass die Europäer heute von den USA abhängig sind. Die Frage ist, wie lange Trump dieses Spiel mitspielt. Irgendwann kippt es und dann erhält die Ukraine möglicherweise plötzlich mehr Unterstützung, als dies unter Joe Biden der Fall war. Putin spielt mit seiner Diplomatie gegenüber Trump ein sehr gefährliches Spiel.
Wann ist das Mass bei Trump voll?
Derzeit sind wir immer noch in der Phase, in der Trump Putin beim Alaska-Gipfel den roten Teppich ausrollte. Eigentlich möchte Trump zusammen mit Russland als Partner die Welt gestalten, wenn da nur nicht dieser Krieg wäre. Eine glaubwürdige rote Linie hat Trump Putin gegenüber bislang jedoch nicht gezogen. Er eröffnet immer mal wieder ein rhetorisches Feuer, danach passiert jedoch trotzdem nichts.
Mitte September flogen drei russische Kampfjets zwölf Minuten lang durch den estnischen Luftraum – und damit auch durch Nato-Luftraum. Könnte die Nato nicht Stärke signalisieren, indem sie einen russischen Jet abschiessen würde?
Das wäre ein Spiel mit dem Feuer, das würde ich nicht unterstützen. Der Vergleich mit der Türkei, die vor zehn Jahren einen russischen Jet abgeschossen hatte, hinkt. Das war ein ganz anderer Kontext. Im Falle von Estland, direkt an der russischen Grenze, ist das Eskalationsrisiko riesig. Da kann alles passieren. Die Nato hat besonnen reagiert und die militärische Präsenz im Baltikum verstärkt.
Sie glauben, dass Russland einen Nato-Staat angreifen würde?
Man muss einfach vorsichtig sein. Ich bin aber auch ein Gegner davon, die unmittelbare russische Bedrohung zu stark zu zeichnen. Russland steckt im Sumpf der Ukraine. Putin konnte in dreieinhalb Jahren 20 Prozent des ukrainischen Territoriums erobern, diese Bilanz ist mager. Russland hat zwar einen imperialen Eroberungsgedanken und rüstet auf, aktuell sind die wirtschaftlichen und militärischen Probleme jedoch zu gross, um weiter in den Westen vorrücken zu können.
Ein Ziel Russlands könnte es sein, mit Drohnenflügen im Westen so viel Verunsicherung zu schüren, dass die Bevölkerung der eigenen Regierung nicht mehr vertraut und sich russlandfreundlichen Politikern zuwendet. Eine realistische Theorie?
Dass die Drohnenflüge dies direkt befeuern, da bin ich skeptisch.
Weshalb?
Europa befindet sich in einer sehr schwierigen Situation. Viele europäische Staaten sind innenpolitisch polarisiert. Sie wollen militärisch aufrüsten, geschieht dies jedoch zu stark auf Kosten des Sozialstaates, stärkt dies diejenigen Protestparteien und Kräfte, die wie Russland in einer postliberalen Gedankenwelt leben und ein ganz anderes als das heutige Europa wollen. Diese Kräfte werden von Russland zwar unterstützt. Die generelle, von innen kommende Dynamik erachte ich jedoch als gefährlicher als die spaltende Kraft unbewaffneter russischer Drohnen, die über Europa fliegen.
Verteidigungsminister Martin Pfister äusserte in der NZZ die Besorgnis, dass Russland durch Desinformation und Sabotage die Bevölkerung westlicher Staaten spalten könnte. Zudem habe die Schweizer Armee bezüglich Munition, Systemen und Ausrüstung grossen Nachholbedarf. Diese Aussagen können ein mulmiges Gefühl hinterlassen.
Bundesrat Pfister hat Transparenz geschaffen und auf die Bedrohungslage hingewiesen. Die Schweiz diskutiert immer noch sehr gemächlich darüber, was Russlands Invasion 2022 für unser Land bedeutet. In anderen Ländern findet eine strategische Diskussion statt, bei uns geht es häufig um die Finanzen, um die Schuldenbremse. Die Schweiz läuft Gefahr, sich ins europäische Abseits zu sparen.
Hat dies auch mit dem politischen System der Schweiz zu tun?
Ein direktdemokratisches Land wie die Schweiz hat sicher mehr Mühe, sich auf einen strategischen Wandel einzustellen. Zudem gehen wir stark davon aus, dass uns die Nato-Nachbarländer Schutz bieten. In gewisser Hinsicht ist das verständlich, die Schweiz profitiert stark von ihrer geografischen Lage. Diese Situation darf sie aber nicht ausreizen. Wenn die anderen Staaten das Gefühl haben, dass die Schweiz nur profitiert, kommt es nicht gut.
Die Schweizer Nachbarstaaten planen, ihr Armeebudget auf fünf Prozent des BIP aufzustocken. Das Ziel der Schweiz ist ein Prozent – ab 2032. Pfister sagte, bei seinen ausländischen Amtskollegen sei das Verständnis dafür begrenzt.
Ich war in Brüssel und bin fast erschrocken, als ich sah, wie die Schweiz im Bereich der Sicherheitspolitik wahrgenommen wird. Es scheint so, als hätten die US-Zölle von 39 Prozent die Schweiz mehr aufgerüttelt als die sicherheitspolitische Bedrohung in Europa. Verteidigungsfähig kann die Schweiz nur durch Kooperation werden, heute wird sie jedoch zu wenig als relevante Beiträgerin an die europäische Sicherheit wahrgenommen. Die Schweiz ist kein Nato-Staat, militärische Hilfe ist im Ernstfall nicht garantiert. Sie braucht zuverlässige europäische Partner. Eine Partnerschaft funktioniert aber nur, wenn beide Seiten etwas leisten.
Was hat die Schweiz denn zu bieten?
Eine innovative Rüstungsindustrie, die Europa gebrauchen kann. Und leistet man die nötigen Investitionen, verfügt die Schweiz über eine schlagkräftige Armee. Sie hat eine Wehrpflicht, um die sie andere Staaten beneiden. Was fehlt, sind die politischen Weichenstellungen.
Es gab auch in der Schweiz bereits Drohnen-Überflüge. Man weiss jedoch nicht, wer dahintersteckte. Kann im aktuellen Kontext auch die Schweiz ein Ziel Russlands werden?
Im hybriden Konflikt ist sie es bereits. In den öffentlichen Berichten des Nachrichtendienstes des Bundes steht, dass die Schweiz ein Ziel der russisch-chinesischen Nachrichtendienste ist. Als Technologiestandort, als Standort von internationalen Organisationen. Die russische Spionage in der Schweiz ist ausgeprägt, Drohnen sind diesbezüglich einfach ein neues Instrument. Das ist kein Geheimnis. Der Staat ist nun – speziell in der Drohnenabwehr – gefordert, dies zu unterbinden.
Militärexperten prognostizieren, dass Russland ab 2029 in der Lage sein könnte, einen Nato-Staat mit konventionellen militärischen Mitteln anzugreifen. Muss sich auch die Schweiz für einen Angriff wappnen?
Wir sind ein freies, demokratisches Land und schon als das eine Bedrohung für Russland. Auch glaube ich nicht, dass die Neutralität uns von anderen Staaten abgrenzt und wir deswegen explizit kein Ziel wären. Zumal Russland die Schweiz ohnehin nicht mehr als neutrales Land ansieht. Ich bin aber, wie gesagt, auch nicht der Meinung, dass sich der Krieg unmittelbar auf Westeuropa ausweiten wird. Einfach, weil Russland zu stark mit der Ukraine beschäftigt ist. Ob sich das ab 2029 ändert, hängt von zahlreichen Faktoren ab.
Die wären?
Stehen die USA im Eskalationsfall zu Europa? Wie entwickelt sich der Ukraine-Krieg? Wie gefestigt ist der europäische Zusammenhalt? Diese Fragen lassen sich jetzt nicht beantworten. Die Welt bewegt sich momentan in eine falsche Richtung, das ist unbestritten. Wir müssen in Szenarien denken. Ich finde aber dennoch, man sollte nicht unnötig Angst vor einem grossen Konflikt in Europa schüren, sondern in die eigene und die ukrainische Verteidigung investieren, damit es nicht so weit kommt. Hybride Konfliktführung ist mühsam und nicht zu unterschätzen, es ist deswegen aber seit 2022 gemäss den öffentlichen Daten in Europa noch zu keinem einzigen Todesfall gekommen. Wir sind heute nicht im Krieg.