Die amerikanische Rechte wittert Morgenluft. Nach der Entscheidung des Supreme Courts, das seit fast 50 Jahren geltende Recht auf Schwangerschaftsabbruch zu kippen, streben Konservative ein nationales Abtreibungsverbot an. So sagte der ehemalige Vizepräsident Mike Pence, der mit einer Kandidatur bei der nächsten Präsidentenwahl liebäugelt, in einer ersten Reaktion: «Wir dürfen nicht ruhen, bis die Unantastbarkeit des Lebens wieder in jedem Staat des Landes im Zentrum des amerikanischen Rechts steht.»
Diese Kampfansage richtet sich nicht nur gegen chirurgische Schwangerschaftsabbrüche, die nach dem Urteil des höchsten amerikanischen Gerichts noch in rund der Hälfte der 50 Bundesstaaten erlaubt sind. (2020 wurden, gemäss einer Schätzung des gemeinnützigen Guttmacher Institute, landesweit etwa 930'000 legale Schwangerschaften abgebrochen.)
Aktivistinnen und Aktivisten setzen sich auch für ein landesweites Verbot von Medikamenten wie der Abbruchpille Mifeprex oder der «Pille danach» ein, die eine Schwangerschaft verhindern soll.
Für die Zulassung von Arzneimitteln ist in Amerika die FDA (Food and Drug Administration) zuständig; die Behörde untersteht dem nationalen Gesundheitsministerium. Viele dieser Medikamente werden auf dem Postweg verschickt, nach einer ärztlichen Konsultation per Telefon oder Videokonferenz.
Der Knackpunkt eines solchen Verbotes ist deshalb die Durchsetzung. Selbst in einem Staat wie Missouri, in dem bereits am Freitag ein fast komplettes Abtreibungsverbot in Kraft trat, können die lokalen Behörden nicht einfach die Post von Privatpersonen abfangen. «Die Frage ist, wie wir einem Verbot Geltung verschaffen könnten», sagte am Wochenende der konservativer Abgeordneter Todd Russ aus Oklahoma, der in der Anti-Abtreibungsbewegung federführend tätig ist.
Bereits warnen linke Amerikanerinnen und Amerikaner vor einem Polizeistaat, der in weiten Teilen des Landes die Einhaltung von Abtreibungsverboten überwachen werde. Dies mag absurd klingen. In zahlreichen Staaten laufen aber bereits Bestrebungen, rechtlich gegen Menschen vorzugehen, die legale Abtreibungen vornehmen oder finanziell unterstützen – auch dann, wenn sie in einem anderen Staat wohnen. «Irgendwann werden wir uns zum Abtreibungstourismus zuwenden», sagte eine konservative Abgeordnete aus dem Bundesstaat Missouri einer Lokalzeitung.
Eine solche Einschränkung stünde im Konflikt mit der amerikanischen Verfassung und dem Föderalismus. Eine Wortmeldung eines konservativen Supreme Court-Mitglieds allerdings lässt unter Demokraten die Alarmglocken läuten. Das höchste amerikanische Gericht habe die Pflicht, «Fehler zu beheben», die es in den vergangenen Jahrzehnten gemacht habe, sagte Clarence Thomas am Freitag in einer separaten Urteilsbegründung.
Konkret sprach Thomas über Grundrechte, die das Gericht aus der Verfassung abgeleitet hatte, obwohl die jeweiligen Schlagworte im 1789 verabschiedeten Dokument nicht zu finden sind: Das Recht auf Eheschliessung für Homosexuelle zum Beispiel oder der Schutz der Privatsphäre von verheirateten Menschen. Thomas möchte die entsprechenden Grundsatzurteile kassieren, so wie das Recht auf Schwangerschaftsabbruch aus dem Jahr 1973 am Freitag kassiert wurde.
Nun scheint es unvorstellbar, dass eine Mehrheit der Richter sich dieser radikalen Haltung anschliessen wird. Thomas aber – von der populären «New York Times»-Kolumnistin Maureen Dowd als «Lügner, Perversling und sexueller Belästiger» beschimpft – besitzt an amerikanischen Gerichten viele Nachahmer. Präsident Donald Trump, im Amt von 2017 bis 2021, berief Dutzende von Bundesrichter, die einer aktivistischen, linken Rechtsprechung skeptisch gegenüberstehen. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass die Verfassung wörtlich auszulegen sei.
«Abtreibung ist bloss der Beginn», sagte deshalb die Rechtsprofessorin Melissa Murray in einer ersten Stellungnahme. Sie ist mit dieser Meinung nicht allein. Am Wochenende demonstrierten in amerikanischen Grossstädten erneut Tausende von Menschen und warnten vor einem reaktionären Amerika.
Der Bürgerkrieg in der USA oder die Zersplitterung der USA ist näher als viele in der USA glauben.