Auf der Insel zitieren die Menschen in diesen Tagen entweder Shakespeare – «Now is the winter of our discontent» (Richard III.) oder «O! Let me not be mad, not mad, sweet temper.» (King Lear). Oder sie flüchten sich in den britischen Galgenhumor. «Es ist passiert, wir werden alle sterben.»
Die Situation ist tatsächlich dramatisch. Premierministerin Theresa May hat soeben die Abstimmung über den Austrittsvertrag mit der EU vertagt. Sie hat einsehen müssen, dass sie keine Chance hat, ihn durch das britische Unterhaus zu boxen.
Deshalb rutscht sie nun auf den Knien nach Brüssel und hofft, dass die EU ihr wenigstens in letzter Sekunde noch ein paar Konzessionen macht. Sie hofft vergebens. Mehr als symbolische Zugeständnisse liegen nicht drin. Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, hat bereits erklärt, er sei höchstens bereit, «darüber zu diskutieren, wie man den Prozess der Ratifikation erleichtern könnte».
Mays Niederlage ist total. Sie, die einst grossspurig verkündete: «Lieber keinen Deal als einen schlechten Deal», hat nun einen Deal akzeptieren müssen, der miserabel ist. Keines der hochfliegenden Brexit-Ziele ist erreicht worden. Das Vereinigte Königreich wird nicht, wie die Brexiter versprochen haben, den Fünfer und das Weggli erhalten.
Das Vereinigte Königreich wird kein überdimensioniertes Singapur werden, das mit der ganzen Welt freien Handel betreibt und gleichzeitig seine Grenzen und seine Zuwanderung selbst kontrollieren kann.
Stattdessen muss London Konditionen akzeptieren, die erniedrigend sind. Um eine harte Grenze auf der irischen Insel zu vermeiden, muss das Vereinigte Königreich weiterhin in der Zollunion der EU bleiben und sich damit den EU-Regeln beugen. «Es ist klar, dass Mrs Mays Deal in jeder Hinsicht praktisch schlechter ist als das, was Grossbritannien bereits hat», stellt der «Economist» schonungslos klar.
Der Katzenjammer in London ist daher gewaltig. Das britische Pfund purzelt, die Wirtschaft heult auf. Carolyn Fairbairn, Direktorin des Unternehmensverbandes CBI, warnt: «Wenn nicht schnell ein Abkommen beschlossen wird, dann schlittert das Land in eine nationale Krise.»
In Westminster werden derweil die langen Messer gewetzt. May wird von den eigenen Parteikollegen niedergemacht. «Das kann man nicht mehr Regieren nennen, das ist nur noch ein schreckliches Chaos», sagt etwa Jacob Rees-Mogg, ein konservativer Brexit-Hardliner.
In Edinburgh werden alte Abspaltungsgelüste wieder wach. Nicola Sturgeon, Führerin der Scottish National Party, hat einen Misstrauensantrag gegen die Regierung eingereicht und will ein zweites Referendum. «Zusammen können wir den Menschen die Chance geben, den Brexit mit einer zweiten Abstimmung zu verhindern», tweetete sie.
Das ist tatsächlich eine Option. Der europäische Gerichtshof hat nämlich deutlich gemacht, dass Grossbritannien seinen Brexit aus eigener Kraft rückgängig machen kann. Annulliert London die Anrufung des Austrittsartikels 50, bleibt es in der EU, ohne dass alle EU-Staaten dem beipflichten müssen.
Diese Option rückt nun ins Zentrum, obwohl sie mit Risiken behaftet ist. Hardliner an der Brexitfront würden eine Dolchstosslegende verbreiten, wie dies die Nazis nach Versailles getan haben. Doch die Alternative ist noch verheerender. Ohne Deal besteht die Gefahr, dass die Insel im Chaos versinkt.
Um dies zu verhindern, müsste die Premierministerin zunächst den Brexit absagen und dann ein zweites Mal das Volk befragen. «Das wäre peinlich», kommentiert der «Economist». «Aber einen Brexit ohne Deal durchzustieren wäre ein schlimmer, permanenter Fehler.»