Die EU lanciert einen «Demokratieschild», um Desinformation im Internet zu bekämpfen
Die EU-Kommission hat am Mittwoch in Brüssel ihren lange vorbereiteten «European Democracy Shield» vorgestellt. Es handelt sich um ein Massnahmenpaket, mit dem die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union besser gegen Desinformation, hybride Angriffe und ausländische Einflussnahme gewappnet sein sollen.
Wie der Bundesrat tun sich auch die Verantwortlichen der Europäischen Union schwer, die marktbeherrschenden Techkonzerne an die Kette zu legen respektive für Recht und Ordnung zu sorgen. Die Reaktionen der Zivilgesellschaft fallen entsprechend kritisch aus.
Welche Massnahmen sieht der «Demokratieschild» konkret vor?
Wir beginnen mit dem Erfreulichen: Die EU reagiert explizit auf wachsende Bedrohungen durch Russland und andere autoritäre, demokratiefeindliche Staaten sowie den Einsatz generativer KI in Wahlkämpfen.
Wichtig zu wissen: Der Demokratieschild ist ein politisch-strategisches Paket gegen Desinformation, ausländische Einmischung und hybride Bedrohungen, wie Deepfakes und andere zunehmend KI-gestützte Attacken.
Er ist kein eigenes Gesetz zur besseren Regulierung von TikTok und anderen grossen Online-Plattformen. Vielmehr sollen bestehende Instrumente genutzt werden – allen voran der DSA (Digital Services Act), also jenes EU-Digitalgesetz, das 2022 verabschiedet wurde.
Zum Massnahmenpaket gehören:
- Ein gemeinsames Notfall- und Krisenprotokoll soll eine schnellere Reaktion bei grossangelegten Desinformations-Kampagnen gewährleisten.
- Ein unabhängiges europäisches Faktencheck-Netzwerk soll online verbreitete Falschinformationen systematisch identifizieren und einordnen.
- Plattformbetreiber wie Google, Meta, TikTok und X werden aufgefordert, über ihre Pflichten aus dem europäischen Digitalgesetz DSA hinauszugehen – etwa, indem sie KI-generierte oder manipulierte Inhalte zuverlässiger erkennen und kennzeichnen.
- Ein neu eingerichtetes Europäisches Zentrum für Demokratische Resilienz soll das Fachwissen und die Ressourcen der EU-Länder koordinieren und den Informationsaustausch erleichtern.
- Die für jede Demokratie unverzichtbare Arbeit von Journalistinnen und Journalisten soll durch rechtliche Schutzmassnahmen gestärkt werden. Und die Position der Medien soll wirtschaftlich gestärkt werden.
- Stichwort Medienkompetenz: Die Bürgerinnen und Bürger sollen besser in Bezug auf Desinformation und digitale Kompetenzen geschult werden, mit besonderem Schwerpunkt auf die Jugend.
Kommissionsvertreter betonten, dass diese Initiativen nicht der Schaffung eines «Wahrheitsministeriums» oder einer «Inhaltskontrolle» dienten. Man wolle sicherstellen, dass Transparenz herrscht und demokratische Debatten in einem Umfeld stattfinden, in dem die Menschen wissen, woher die Informationen stammen.
Wie die EU grosse Techkonzerne reguliert
Der Digital Services Act (DSA) gilt seit Februar 2024 vollständig in der Europäischen Union und verpflichtet die Betreiber von sehr grossen Online-Plattformen zu gewissen Massnahmen.
Gemäss diesem Digitalgesetz müssen die verantwortlichen Tech-Konzerne systematische Risikobewertungen vornehmen, etwa was die Verbreitung von Desinformation und Wahlbeeinflussung auf ihren Plattformen betrifft. Sie müssen zudem Massnahmen gegen Missbrauch treffen und sind zu Transparenz verpflichtet und sollen Forschern und Behörden Datenzugang gewähren.
Mit dem im November 2025 von der EU vorgestellten «Demokratieschild», einem Massnahmenpaket, werden die oben erwähnten Verpflichtungen konkretisiert.
Der DSA liefert also die Rechtsgrundlage und die Sanktionsmechanismen, der EU-Demokratieschild formuliert dazu die politische Strategie, Prioritäten und Einsatzszenarien.
Reicht das?
Nein.
In ersten Reaktionen ist von einem grossen Tamtam, aber begrenztem Durchsetzungswillen die Rede.
Gemeinnützige Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) wie Reporter ohne Grenzen kritisieren, das EU-Vorhaben identifiziere zwar das Problem richtig, bleibe aber vor allem im Bereich der Online-Plattformen zu vage und unverbindlich: Die Verantwortlichen setzten zu stark auf freiwillige Kooperation der Plattformbetreiber statt auf konsequente Durchsetzung bestehender Regeln.
Vertreter der Zivilgesellschaft gehen gar davon aus, dass die EU-Kommission mit ihren Plänen die Bevölkerung und die Demokratie im Stich lässt und die grossen Techkonzerne ungeschoren davonkommen.
Die irische Menschenrechts-Aktivistin Siobhan O'Donoghue, Direktorin von Uplift, einer Freiwilligen-Community mit über 350'000 Mitgliedern, sagt:
Was fehlt?
Anzumerken ist, dass seit Februar 2025 in der EU für grosse Online-Plattformen ein freiwilliger Verhaltenskodex gegen Desinformation gilt. Die EU-Kommission erachtet ihn als wichtiges Instrument, um fehlbare Betreiber zur Rechenschaft zu ziehen. Doch die Durchsetzung der Bestimmungen ist im besten Fall lax.
Trotz massiver und konkreter Hinweise auf Wahlbeeinflussung durch ausländische Akteure in Deutschland und Rumänien hat die EU-Kommission bislang keine Verfahren gegen Plattformbetreiber abgeschlossen.
Reporter ohne Grenzen vertritt nun die Haltung, dass dem Demokratieschutzschild konkrete gesetzgeberische Massnahmen folgen müssten, wie etwa:
- Die Algorithmen der Social-Media-Plattformen müssten «standardmässig zuverlässige Nachrichtenquellen bevorzugen», anstatt Desinformation und Propaganda zu verbreiten.
- Die Einführung einer Digitalsteuer für grosse Online-Plattformen könnte zur Finanzierung des Journalismus im öffentlichen Interesse verwendet werden.
- Zudem brauche es eine Kontrolle von KI-basierten Diensten wie ChatGPT bezüglich Informationsverbreitung. Denn es gelte sicherzustellen, dass gewisse Mindeststandards eingehalten werden.
Und die Schweiz?
Der Bundesrat setzt ebenfalls auf Eigenverantwortung der grossen Techkonzerne statt auf eine strenge Regulierung der marktbeherrschenden Plattformen. Die in weiten Teilen der Schweizer Bevölkerung alarmierend tiefe Medienkompetenz soll durch freiwillige Massnahmen und mehr Aufklärung gestärkt werden.
Vertretern aus der Zivilgesellschaft und dem bekannten Schweizer Unternehmer und Multimillionär Guido Fluri reichen diese Pläne nicht. Er will auf politischem Weg erreichen, dass der Bund verstärkt gegen Desinformation und Extremismus im Internet vorgeht. Er hat Ende Oktober angekündigt, dass er mit Fachleuten eine entsprechende Volksinitiative erarbeitet.
Warum wird nicht richtig durchgegriffen?
Kritische Stimmen weisen Richtung USA und Donald Trump. Bei den politischen Verantwortlichen in Europa besteht offenbar die Sorge, die US-Regierung mit weitreichenden Massnahmen zu verärgern. Die Massnahmen zur Bekämpfung von Desinformation werden quasi in vorauseilendem Gehorsam abgeschwächt.
Abschliessend ist aber auch das Lobbying der verantwortlichen Techkonzerne in Erinnerung zu rufen. Ob in Bundesbern oder in Brüssel: Amazon, Apple, Google, Microsoft und Meta bezahlen ein Heer von Juristen und PR-Fachleuten, um die Politik in ihrem Sinne zu beeinflussen und eine strengere Regulierung zu verhindern. Und in Washington D.C. haben sich Mark Zuckerberg und Co. den direkten Zugang zum Weissen Haus gekauft.
Quellen
- ec.europa.eu: Europäischer Demokratieschild und EU-Strategie für die Zivilgesellschaft (12. Nov.)
- euobserver.com: EU 'democracy shield' based on unwieldy digital laws
- reuters.com: EU looks to Big Tech, influencers to fight hybrid threats, fake news
- iccl.ie: Irish groups say EU “Democracy Shield” fails people, democracy and lets Big Tech off the hook
- rsf.org: European Union must strengthen Democracy Shield to ensure citizens’ access to reliable information
