Die USA innovieren, China kopiert, Europa reguliert. So lautet die gängige Meinung zum KI-Wettlauf.
Doch das ist nur die halbe Wahrheit.
Das Vorurteil beruht auf einer verzerrten Wahrnehmung von Künstlicher Intelligenz. Im öffentlichen Diskurs dominieren KI-Chatbots wie ChatGPT oder Google Gemini, die auf grossen und teuren Sprachmodellen (Large Language Model, LLM) basieren und von Millionen Usern täglich genutzt werden. Laut «KI-Index-Report 2024» der Stanford University stammten 2023 61 bedeutende KI-Sprachmodelle von US-amerikanischen Institutionen, 21 aus der EU und 15 aus China. Europa hinkt den USA im Wettlauf der LLMs oder gar der Entwicklung einer allgemeinen Künstlichen Intelligenz also hinterher.
Kaum thematisiert und teils unterschätzt werden hingegen kleinere, spezialisierte KI-Modelle, die von Hunderten KI-Unternehmen in Europa laufend weiterentwickelt werden. Im konkreten Einsatz in der Wirtschaft haben diese günstigeren KI-Modelle, die oft auf Open Source basieren, viel Potenzial.
Beim KI-Wettrüsten kann oder will Europa finanziell nicht mithalten. Europa hat aber andere Stärken: KI-Spitzenforschung an den Universitäten und eine Open-Source-Kultur, die zusammen viele innovative KI-Start-ups hervorbringen.
Europäische Open Source Large Language Models spielen in den Medien und der öffentlichen Wahrnehmung höchstens eine Statistenrolle, sind aber für Europas digitale Souveränität von zentraler Bedeutung. Von Universitäten und (privaten) Forschungsinstituten entwickelte Open-Source-LLMs können von Unternehmen mit eigenen Datensätzen für spezifische Aufgaben weiter trainiert und in der eigenen IT-Umgebung sicher genutzt werden. Dies reduziert die Abhängigkeit von grossen US-Tech-Konzernen und soll garantieren, dass sensible Daten nicht in die USA oder nach China abfliessen.
Diese kleineren KI-Modelle arbeiten zuverlässig, wenn sie mit hochwertigen Datensätzen trainiert werden. Das erfordert viel Fachwissen, aber verhältnismässig wenig Geld und Rechenleistung – und genau hier spielen Europa und die Schweiz ihre Stärken aus. Überall im Umfeld europäischer Elite-Universitäten entstehen KI-Spin-offs, die sich auf bestimmte KI-Anwendungen spezialisieren und in ihrer Nische teils Weltspitze sind.
Wer behauptet, Europa hätte keine KI-Unternehmen, schaut vermutlich nicht gut genug hin. Allein die ETH Zürich generierte 2024 zehn neue KI-Startups.
Der Online-Übersetzer DeepL aus Deutschland ist eines der wenigen bekannten europäischen KI-Unternehmen mit Millionen Nutzern. Die allermeisten KI-Startups wirken indes im Hintergrund. Es ist diese Armada unscheinbarer KI-Unternehmen, die Europas KI-Landschaft bereichern und in der Industrie konkrete Probleme lösen: vom Aussortieren fehlerhafter Produkte bis zur Entwicklung neuer Medikamente.
Obwohl die Zahl der europäischen KI-Startups beeindruckend ist, stehen Europa und die Schweiz bei den Investitionen in KI-Neugründungen deutlich schlechter da. Das macht Open-Source-LLMs umso wichtiger.
Dass offene Sprachmodelle mit Big Tech mithalten können, zeigt das Ende Januar vorgestellte Open-Source-Sprachmodell Tülu 3 405B. Es wurde vom gemeinnützigen Allen Institute for AI entwickelt und soll die Performance von DeepSeek V3 und GPT-4o teils übertreffen. Tülu 3 basiert auf Metas Open-Source-Modell Llama 3.1 und wurde mit einer neuartigen Trainingsmethode optimiert, die allerdings enorme Rechenkapazitäten benötigt, wie die Forscher schreiben. Das LLM steht nun als Download frei zur Verfügung und kann im Web ausprobiert werden.
Die Bedeutung freier KI-Sprachmodelle wie Tülu 3 ist auch der EU bewusst, die Forschungseinrichtungen und Open-Source-Software fördert, um Europa von den US-Techgiganten unabhängiger zu machen. Schon jetzt stehen mehrere europäische Open-Source-Sprachmodelle zur Verfügung, etwa seit letztem November Teuken-7B. Es wurde vom europäischen Forschungsprojekt OpenGPT-X entwickelt und mit den 24 Amtssprachen der EU trainiert. Akteure aus Forschung und Wirtschaft können das datenschutzfreundliche LLM kostenlos herunterladen und auch in kommerziellen Anwendungen nutzen. Dabei bleiben die Daten im Eigentum der Unternehmen, während OpenAI, Google und Co. den US-Behörden den Zugriff auf alle Daten garantieren müssen, selbst wenn diese in der EU gespeichert sind.
Die Grundlagen vieler europäischer KI-Modelle kommen von europäischen Universitäten. Sie entwickeln kleinere, aber leistungsfähige LLMs, die sie kostenlos öffentlich verfügbar machen. Innovative Unternehmen mit beschränkten finanziellen Mitteln können diese LLMs übernehmen und an ihre spezifischen Bedürfnisse anpassen und weiterentwickeln. Open-Source-Modelle beschleunigen so die europäische KI-Entwicklung massiv.
Paris, London, Berlin und zusehends Zürich sind auf dem Weg zu bedeutenden KI-Hubs. In Zürich etwa entwickeln nebst Dutzenden ETH-Spin-offs die weltweit führenden KI-Unternehmen Google, Nvidia, Meta, OpenAI und Anthropic KI-Anwendungen.
Allein in Frankreich gibt es über 600 Startup-Firmen mit KI-Fokus, davon sind 34 Einhörner, also Startups, die mehr als eine Milliarde Euro wert sind. Doch selbst Europas KI-Highflyer Mistral, mit einer Bewertung von sechs Milliarden Euro, ist ausserhalb der KI-Szene kaum bekannt.
Mistral aus Paris wurde 2023 von KI-Forschern gegründet, die zuvor bei Google Deepmind und Meta an KI-Modellen forschten. Nach nur zehn Monaten verblüfften die Franzosen Anfang 2024 mit einem Large Language Model, das mit den grossen US-Sprachmodellen mithalten konnte. Mistrals LLM ist deutlich kleiner als die grössten LLMs von OpenAI oder Google, kann diesen Nachteil aber anscheinend dank gezielterem Training mit besser kuratierten Daten teils ausgleichen. Mistral wird deshalb auch als Europas Antwort auf OpenAI bezeichnet, was nur bedingt zutrifft. Das US-Unternehmen ist rund 26 Mal mehr wert als Mistral.
Aus europäischer Sicht ist bedeutsam, dass Mistral und andere in Europa trainierte KI-Modelle besser mit europäischen Sprachen arbeiten, auf Datenschutz ausgelegt sind und näher an der hiesigen Kultur liegen als ChatGPT oder DeepSeek aus China. Mistral zeigte zudem ein Jahr vor DeepSeek, dass kleinere KI-Modelle für bestimmte Aufgaben sehr effizient sein können.
Nebst dem Zürcher Standort forscht Google seit 2024 auch in Paris an Künstlicher Intelligenz und Microsoft steckt ebenfalls Milliarden in die KI-Entwicklung in Frankreich. Der Windows-Konzern ist nebst OpenAI auch an Mistral beteiligt.
Dass Mistral in Europa – und nicht im Silicon Valley – gegründet wurde, ist kein Zufall: Paris beherbergt den grössten Startup-Campus der Welt, gegründet 2017 vom französischen Tech-Milliardär Xavier Niel. Private Investoren und der französische Staat nehmen viel Geld in die Hand, um KI-Unternehmen zu fördern. Ein weiteres Puzzleteil ist die Fokussierung der Pariser Elite-Universitäten auf Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik und maschinelles Lernen. Französische KI-Talente sind deshalb im Silicon Valley gefragt, ziehen es aber immer öfter vor, Teil der dynamischen Pariser Start-up-Szene zu sein.
Auch die Mistral-Gründer verliessen Google und Meta, die sie als zu schwerfällig und ineffizient beschrieben. Verglichen mit schlanken KI-Startups sind die grossen Techkonzerne Bürokratie-Monster, was insbesondere Spitzentalente vergrault. KI-Startups wie OpenAI, DeepSeek oder Mistral sind daher im KI-Wettrennen ganz vorn dabei.
Ein neuer Konkurrent von Mistral heisst schlicht H, kommt ebenfalls aus Paris und wurde ebenfalls von ehemaligen Google-Deepmind-Ingenieuren gegründet. H sagt, es könne mit viel kleineren und günstigeren KI-Modellen bessere Resultate liefern als die grösseren Modelle der US-Rivalen. H erhielt 2024 eine Erstfinanzierung über 220 Millionen Euro, zu den Investoren zählen französische Geldgeber sowie Amazon und Samsung.
Apropos Deepmind: Die Google-Tochter Deepmind aus London gilt zusammen mit OpenAI und Anthropic aus den USA als führend im Bereich grosser KI-Sprachmodelle. Von Deepmind kommt etwa die KI AlphaFold, welche die Entwicklung neuer Medikamente stark beschleunigen dürfte.
Diese Unternehmen forschen auch am heiligen Gral der KI, also einer Artificial General Intelligence (AGI), die die Fähigkeit besitzt, jede intellektuelle Aufgabe zu verstehen oder zu lernen, die ein Mensch ausführen kann. Der britische Deepmind-Gründer Demis Hassabis, der 2024 den Nobelpreis für Chemie erhielt, glaubt, dass wir weniger als zehn Jahre davon entfernt sind.
Ob fünf, zehn oder fünfzig Jahre, KI dürfte die Dampfmaschine des 21. Jahrhunderts werden. Wer den KI-Wettlauf gewinnt, kann womöglich einen entscheidenden wirtschaftlichen und militärischen Vorsprung für sich herausholen. Die USA unter Donald Trump pumpen daher 500 Milliarden US-Dollar in das Projekt Stargate, sprich gewaltige Rechenzentren für noch grössere KI-Modelle.
Vielleicht verpuffen die Milliarden aber auch im Nirwana, und Europas günstigere Open-Source-Strategie erweist sich als klüger.
Europa hat mehr Potenzial als uns die vielen Unkenrufe glaubhaft machen wollen.
Europa steht sich in selbst im Weg.
Insbesondere wegen Politiker:innen, mit einen deutlich bis extremen Rechtsdrall, die uns seit Jahren mit einer Niedergangskakophonie zuschreien.
Hat die europ. Industrie Probleme? Natürlich! Aber welches Land/Region hat keine solchen?
Im medialen Rampenlicht stehen zwar meist US-/CN-Unternehmen. Doch für vieles von dem was die herstellen, benötigen sie weniger marketingträchtige Spitzentechnologie aus Europa.
Wir müssen uns unseren Stärken bewusst werden, anstatt uns selbst von destruktiven Politikern kleinreden zu lassen.