Digital
Datenschutz

Chatkontrolle: Wegen verdächtiger Lobby-Verflechtungen wächst der Druck

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und Hollywood-Star Ashton Kutcher.
Die EU-Kommissarin und der Hollywood-Star: Ylva Johansson und Ashton Kutcher bläst bei den gemeinsamen Überwachungs-Plänen ein steifer Wind entgegen. Screenshot: twitter.com

Verdächtige Lobby-Verflechtungen bei EU-Chatkontrolle – das solltest du wissen

Nachdem journalistische Recherchen fragwürdige Verbindungen zwischen Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft offengelegt haben, muss sich nun die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson erklären.
29.09.2023, 17:2029.09.2023, 17:52
Mehr «Digital»

Die von Mitgliedern der Europäischen Kommission vorangetriebenen Pläne für eine weitreichende digitale Überwachung der Bürgerinnen und Bürger geraten zunehmend unter Druck. Es geht um die «Chatkontrolle», wie das umstrittene Projekt im Volksmund heisst.

Der Innenausschuss des Europa-Parlaments hat die zuständige EU-Kommissarin Ylva Johansson aufgefordert, sich zu den brisanten Recherchen mehrerer europäischer Medien zu äussern, wie netzpolitik.org am Donnerstag berichtete.

Journalistinnen und Journalisten hatten zuvor minutiös nachgezeichnet, wie sich ein mächtiges Lobbying-Netzwerk dafür einsetzt, dass in der Europäischen Union (EU) eine weitreichende digitale Überwachung eingeführt wird.

Auch von der Leyen betroffen

Während Jahren spannten die Verantwortlichen von IT-Firmen, Stiftungen, NGOs, staatlichen Sicherheitsbehörden und PR-Agenturen heimlich zusammen, um das milliardenschwere IT-Projekt voranzutreiben. Dies geschehe nur zum Wohl der Kinder, wie gemeinhin versichert wurde.

Tatsächlich dürften nach der Einführung einer «Chatkontrolle» zur Bekämpfung von Kindesmissbrauchs-Darstellungen auch schon bald weitere Begehren geäussert werden.

Die Recherchen zeigten, dass auch Sicherheitsbehörden an einer umfassenden digitalen Überwachung interessiert sind. Und dann läge die Ausweitung auf andere Kriminalitätsbereiche nur noch wenige Entscheidungen entfernt.

Es ist schon länger bekannt, dass der US-Schauspieler Ashton Kutcher mit seiner Organisation Thorn – von der er jüngst zurücktrat – für die EU-Chatkontrolle lobbyiert. Dank der Recherchen zeigte sich ein weit grösseres Netzwerk. Demnach existiert neben Kutcher und seinen Aktivitäten «ein ganzes Geflecht von Lobbyvereinen und Organisationen», das enge Verbindungen zur EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der EU-Innenkommissarin Johansson pflege.

Offiziell gebe sich Thorn als gemeinnützige Organisation, sie verkaufe aber mit «Safer» auch Software, die mithilfe sogenannter Künstlicher Intelligenz Darstellungen von Kindesmissbrauch (CSAM genannt) aufspüren soll.

Und die Verstrickungen reichten tiefer:

«Neben Kutcher und seiner Stiftung Thorn lobbyiert laut den Recherchen zum Beispiel auch die Organisation WeProtect Global Alliance auf höchster Ebene. Dieser Organisation gehört Antonio Labrador Jimenez an, der gleichzeitig als ranghoher Mitarbeiter der Generaldirektion Inneres (DG Home) bei der EU-Kommission arbeitet – und dort für die umstrittene Gesetzesinitiative zuständig ist.»
quelle: netzpolitik.org

Bei WeProtect sitzen gemäss Recherche Vertreter von staatlichen Sicherheitsbehörden im Lenkungsausschuss («Board»), zu den Mitgliedern gehörten neben Vertretern von Kinderschutzorganisationen aber auch praktisch alle grossen Internetkonzerne sowie zahlreiche Regierungen.

Und dann ist da noch die Oak Foundation ...

Die fragwürdige Rolle der Stiftung in Genf

Die Oak Foundation mit Sitz in Genf ist laut eigenen Angaben bestrebt, den Missbrauch von Kindern zu verhindern und deren Sicherheit, Schutz, Wohlbefinden und ihre Entwicklung zu fördern.

Allerdings stossen diese hehren Ziele mit der von den Verantwortlichen befürworteten, aber höchst fragwürdigen digitalen Überwachung zusammen: Wie renommierte Cybersicherheits-Fachleute und Datenschutz-Expertinnen und -Experten einhellig und unermüdlich warnen, würde ein entsprechender Überwachungs-Zwang unweigerlich zu einer Aufweichung der Ende-zu-Ende-Verschlüsselung führen.

Ob Threema, WhatsApp oder Signal: Die Anbieter von abhörsicheren Messenger-Diensten müssten ungewollt technische Hintertüren in ihre Produkte einbauen – und dies wiederum würde massive Sicherheitsprobleme kreieren. Oder dann wandern die Anbieter ab respektive bieten ihre sicheren Produkte nicht mehr in Europa an, so wie es die Signal-Stiftung schon mal angedeutet hatte. Dies wäre ein schwerer Verlust für die Konsumentinnen und Konsumenten.

Die Befürworterinnen und Befürworter einer umfassenden Chatkontrolle scheint das nicht abzuschrecken: Sie argumentieren mit dem Totschlagargument «Wir wollen nur das Beste für die Kinder» und gehen nicht auf begründete sicherheitstechnische und gesellschaftliche Bedenken ein.

Laut der Recherchen von BalkanInsight hat die Oak Foundation seit 2019 mehr als 24 Millionen Dollar in verschiedene Organisationen rund um die Chatkontrolle gesteckt.

«Im Kern geht es den Organisationen darum, mit der Chatkontrolle in der EU einen Präzedenzfall für andere Regierungen zu schaffen, eine Zielvorgabe, die auch Ashton Kutcher bei Lobbyveranstaltungen vorbrachte.»
quelle: netzpolitik.org

Es gibt für die Verteidigerinnen und Verteidiger des Rechts auf digitale Privatsphäre aber noch einen Hoffnungsschimmer: Die von Johansson vorgeschlagene Chatkontrolle-Verordnung hat gemäss netzpolitik.org auch einen schweren Stand in den Verhandlungen des EU-Ministerrates.

Eine kleine Gruppe EU-Staaten lehne den aktuellen Gesetzesentwurf zur Chatkontrolle ab. Weil die für diesen Monat geplante Abstimmung scheitern würde, habe die spanische Ratspräsidentschaft das Thema bereits vertagt.

Quellen

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Zehntausende demonstrieren gegen EU-Uploadfilter
1 / 10
Zehntausende demonstrieren gegen EU-Uploadfilter
Am Dienstag will das EU-Parlament über die Reform des Urheberrechts entscheiden. Sie soll die Rechte von Autoren und Kreativen stärken. Kritiker fürchten Zensur. Kurz vor der Abstimmung machen Zehntausende dagegen mobil.

quelle: ap/dpa / peter endig
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Mr. Blindlife - der berühmteste Blinde Europas
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
57 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Habedi
29.09.2023 19:41registriert Januar 2016
Mir wird bei diesen Themen immer extrem unwohl. Wenn man bedenkt, was unter anderem amerikanische Geheimdienste vor 10 Jahren bereits alles an Daten speicherten...
Sie werden kaum damit aufgehört haben. Nur gibt es jetzt noch fortgeschrittene Machine Learning Algorhytmen. Das ist eine verdammte Waffe für künftige faschistische Präsidenten. Und nun will die EU gleichziehen? Die Kinder, die sie zu schützen vorgeben werden uns in Zukunft verfluchen, wenn wir das nicht verhindern!
1052
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pierre Michel (0.69 HQ)
29.09.2023 19:54registriert Juli 2021
Und ich habe tatsächlich für einen kurzen Moment geglaubt die EU diene dem Wohl der Bürger und Konsumenten. Herausgekommen ist eine zentralistische Bürokratie mit funktionierendem Lobbying, jedoch ohne demokratische Möglichkeiten der Einflussnahme. Ich liebe Cyberpunk als Genre, in einer solchen Dystopie leben wollte ich jedoch nie.
7814
Melden
Zum Kommentar
avatar
Weisch na?
29.09.2023 22:41registriert November 2022
Ist ja auch spannend zu sehen, wie die EU ja sonst so stolz auf ihren Datenschutz ist, diesen aber für solche Initiativen ohne Hemmungen aufzugeben bereit ist.
420
Melden
Zum Kommentar
57
Ex-FTX-Managerin und SBF-Freundin Caroline Ellison muss für zwei Jahre hinter Gitter
Caroline Ellison, die als einstige Vertraute massgeblich zur Verurteilung des Kryptowährungs-Unternehmers Sam Bankman-Fried beigetragen hatte, muss für zwei Jahre ins Gefängnis.

Ellison hatte gehofft, durch Hilfe für die Ermittler einer solchen Strafe zu entgehen. Doch aus Sicht des Richters Lewis Kaplan wäre nur eine Bewährungsstrafe nicht abschreckend genug für andere gewesen. Bankman-Fried, der Gründer und Chef der zusammengebrochenen Digitalwährungs-Börse FTX, wurde im Frühjahr zu 25 Jahren Haft wegen Betrugs verurteilt. Er ging in Berufung dagegen.

Zur Story