Im ersten Moment versteht Frank Peter Wilde gar nicht, was er da sieht. Dann ist er schockiert. Sein eigenes Gesicht flackert über sein Telefon: ältere und neuere Bilder, auf Ukraine-Demos oder auf dem CSD. Dazu ein Moderator, der auf Russisch spricht: Der staatliche russische Propagandasender Rossija 1 berichtet über den Berliner Stylisten Wilde.
Die kurzen Ausschnitte, die T-Online vorliegen, wurden von einer Bekannten vom Fernseher abgefilmt und per WhatsApp an Wilde weitergeleitet. Aber wie ist der Berliner ins Visier der russischen Propagandisten geraten?
Die Geschichte beginnt auf Wildes Instagram-Account. Seit Jahren postet Wilde, der in Berlin auch als queerer Aktivist bekannt ist, beinahe täglich Fotos, die ihn in seinem Aufzug zeigen. In verschiedenen Outfits, mal mit Regenbogenflagge, mal mit Freunden, mal leicht bekleidet oder ganz nackt. Es ist sein Hobby, das zunächst nur wenig Aufmerksamkeit erregt.
Kurz bevor Russland im Februar die Ukraine angreift, beschliesst Wilde, seine Solidarität mit der Ukraine in seinen Aufzugselfies zum Ausdruck zu bringen. Seitdem dominiert das ukrainische Blaugelb seinen Account. Täglich kommt ein neues Bild hinzu. «Ich bin ein sehr politischer Mensch und finde es absolut wichtig, dass die Ukraine verteidigt wird», sagt er.
«Nach ein paar Wochen hat mich eine ukrainische Journalistin angerufen und gefragt, ob sie über mich berichten dürfe», sagt Wilde. Er habe sofort zugesagt und sich erst wenig dabei gedacht. «Erst als der Beitrag raus war, habe ich mitbekommen, was das für ein grosses Ding war. Die war von 'The Village', dem Kunstmagazin der Ukraine.»
Von da an wächst Wildes Popularität in der Ukraine schnell. Es folgen Fernsehbeiträge und weitere Artikel. Mittlerweile folgen ihm auf Instagram mehr als 100'000 Menschen, viele davon aus der Ukraine.
Das Feedback aus der Ukraine auf seine Bilder sei «überwältigend», sagt Wilde. Ihn habe das überrascht. Seine Bilder seien schliesslich «in the face gay», also offensichtlich schwul. «Dass das in den modernen Grossstädten gut ankommt, okay. Aber mir haben sogar Soldaten aus dem Süden des Landes geschrieben, dass sie mögen, was ich tue. So richtige Hardcore-Heteros.»
Die grosse Aufmerksamkeit in der Ukraine hat man offenbar auch in Russland mitbekommen. Für den Beitrag habe der russische Sender auch alte Fotos von seinem Facebook-Account geklaut, sagt Wilde. «Die sind teilweise supersuperschwul.» Er hat eine Vermutung, was das russische TV mit dem Beitrag zeigen will: «Seht her, das ist dieses dekadente Westeuropa, das unsere reine russische Seele korrumpieren will. Solche degenerierten Schwuchteln, so in die Richtung.»
In dem Beitrag stellt der russische Moderator Wilde vor und sagt, dass er mit «freizügigen Fotos» die Ukraine unterstütze. Mit solchen Freunden bräuchten die Ukrainer keine Feinde mehr. Andererseits seien solche «lächerlichen Darbietungen» genau das Niveau der Unterstützung, mit dem man rechnen könne.
Die hetzerischen und homophoben Kommentare oder Direktnachrichten auf seinem Instagram-Profil hätten seit dem russischen Fernsehbeitrag deutlich zugenommen, sagt Wilde. «Viele davon kommen von Accounts, die null Follower und kein Profilbild haben.»
Klein beigeben will der Berliner aber auf keinen Fall. Schon längst ist aus seinem politischen Aktivismus auch eine enge persönliche Verbundenheit geworden. Er hat ukrainische Freunde kennengelernt, am Hauptbahnhof ankommende Geflüchtete unterstützt. Und seinen Aktivismus auch auf sein Berufsleben ausgebaut.
Denn Wilde ist unter anderem seit Längerem der Stylist von Sarah Connor. Als der Krieg begann, sei er gerade mitten in den Vorbereitungen für Connors Tour gewesen. «Das sollte alles super glitzernd und pompös werden.» Als er dann die Bilder aus der Ukraine und die fliehenden Menschen gesehen habe, habe er gedacht: «Wir können das nicht so machen.»
Er habe Connor eine Nachricht geschickt und ihr vorgeschlagen, stattdessen ein schlichtes Shirt mit «No War» darauf zu tragen. «Ich dachte, die sagt, der Alte ist verrückt geworden. Aber sie wollte das auch unbedingt machen.» Das Shirt habe sie dann auf der gesamten Tour getragen.
Wilde macht also weiter mit seinem Aktivismus. «Ich habe keine Angst», sagt er. Ein paar Sicherheitsmassnahmen würde er aber trotzdem treffen. So habe er vor einiger Zeit ein ukrainisches Fernsehteam in seiner privaten Wohnung empfangen und dort drehen lassen. «Das würde ich nicht mehr tun, treffe Medien nur noch ausserhalb», sagt er.
Insgesamt will er aber betonen, wie sicher er sich fühlt. «Ich mache das hier bequem aus dem sicheren Deutschland heraus. Was machen Leute ganz woanders durch?»
Ja, sollen sie doch zuhause bleiben. Und wenns so dekadent ist sollen sie das sicher nicht noch mal auf TV verbreiten, damit ganz Russland nicht so «dekadent» wird.