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Tabuthemen auf Tiktok: Wie Jugendliche öffentlich über Probleme sprechen

Video: watson/een

Tabuthemen auf Tiktok: Videos direkt aus der Psychiatrie

Auf Tiktok zeigen Jugendliche ihre Medusa-Tattoos, welche sich Opfer von sexuellen Übergriffen stechen lassen. Sick Style nennt sich der Trend, bei dem Tabus in den sozialen Medien offenherzig thematisiert werden, und der Chancen aber auch Gefahren mit sich bringt.
23.09.2022, 06:0323.09.2022, 10:12
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Es geht um Abschiedsbriefe von geliebten Personen kurz vor ihrem Suizid. Oder um Erfahrungen von sexuellen Übergriffen, Selbstverletzungen, Essstörungen, psychische Krankheiten und um harte Schicksalsschläge.

Auf der Videoplattform Tiktok zeigen User unverblümt, was in ihrem Leben los ist und was sie bedrückt. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene posten schonungslos schockierende Inhalte. Es gibt kaum etwas, dass so tabu ist, dass man auf Tiktok keine Videos dazu findet. Sick Style nennt sich dieser Trend. Doch warum postet man so persönliche Sachen?

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«Wir leben in einer Zeit voller Krisen, in welcher die psychische Belastung bei Jugendlichen hoch ist», sagt Lulzana Musliu-Shahin, Leiterin Politik und Medien bei der Stiftung Pro Juventute. Die aktuellen Weltgeschehnisse würden viele als Multikrise empfinden und die Sorgen und Ängste in den Alltag tragen – somit auch in die sozialen Medien. «Denn durchschnittlich beträgt die Bildschirmzeit der Generation Z drei bis fünf Stunden pro Tag», sagt Musliu.

Immer mehr nutzen die Jungen die Zeit online, um an Tabuthemen zu rütteln. «Diese Altersgruppe möchte ungeschönt und authentisch miteinander teilen, was sie erleben». So macht aktuell ein Trend die Runde, wo Nutzer Bilder und Videos von ihren Tattoos zeigen. Hauptsächlich, um auf die mentale Gesundheit aufmerksam zu machen.

Schmetterlinge stehen beispielsweise für den Kampf gegen Selbstverletzung. Das Symbol der Medusa aus der griechischen Mythologie steht für Opfer sexueller Übergriffe. Ein Semikolon (Punkt und Strichzeichen) für Überlebende eines Suizidversuchs. Eine Pflanze in der Form des NEDA-Logos (National Eating Disorders Association) für Essstörungen.

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Video: watson/een

«Für Betroffene, die solche Inhalte teilen, kann es durchaus unterstützend sein für ihren Heilungsprozess», meint dazu Musliu von Pro Juventute. Das Gefühl, nicht allein zu sein und Gleichgesinnte zu haben, könne für Jugendliche förderlich sein.

«Videos über Suizide, Selbstverletzungen oder Essstörungen können aber auch triggernd wirken und zu Nachahmungen führen», weiss Musliu. Gleichzeitig sei es wichtig, die psychische Gesundheit zu thematisieren und enttabuisieren. Doch das funktioniere für Betroffene nur, wenn sie zusätzlich professionelle Hilfe hätten.

«Ein Austausch mit Gleichgesinnten würden bei Menschen mit schwerwiegenden Problemen noch lange keine Therapie ersetzen. «Wenn man ein Kind hat, das immer über Selbstverletzung oder Traumas postet, dann ist eine professionelle Unterstützung unvermeidbar», erklärt Musliu.

Lulzana Musliu-Shahin, Leiterin Politik und Medien bei der Stiftung Pro Juventute
Lulzana Musliu-Shahin, Leiterin Politik und Medien bei der Stiftung Pro Juventute.Bild: zVg

Diese könne man sich bei einem Psychologen, einer Psychiaterin oder auch bei Pro Juventute holen: «Immer mehr Jugendliche stehen mit uns über das 147-Telefon in Kontakt. Die Zahlen steigen seit zwei Jahren stark. Und die Krisenfälle gehen massiv hoch». So seien bei der Stiftung schon mehrere 11-Jährige in der Telefon-Beratung gewesen, die ernsthafte Absichten für einen Suizid geäussert hatten.

Um solche Fälle zu verhindern, müsse sich laut Pro Juventute auf nationaler Ebene etwas verändern. «Es braucht mehr Unterstützung für Anlauf- und Beratungsstellen für psychisch belastete Kinder und Jugendliche», sagt Lulzana Musliu. Eine im Juni von SP-Nationalrätin Sandra Locher eingereichte und von allen Parteien unterstützte Interpellation an den Bundesrat hat genau diese Unterstützung gefordert.

Die Antwort ist für Pro Juventute ernüchternd: «Wir hätten uns angesichts der angespannten Situation und bei einer solch breit abgestützten Interpellation eine aktivere Rolle des Bundesrats gewünscht.» Pro Juventute plant nun in den Kantonen aktiv zu werden. Nur wenn die junge Generation vorbereitet ist, führen Videos von Abschiedsbriefen, Suizidgedanken und psychischen Problemen weniger zu Nachahmungen.

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40 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Sam1984
23.09.2022 07:05registriert Dezember 2014
Seine vulnerabelste Seite im Internet zeigen ist vielleicht nicht die beste Idee. Das Internet ist ein mehrheitlich rechtsfreier Raum voll von Trollen, welche meistens nichts gutes im Sinn haben.

Ich würde davon abraten. Es gibt sicher bessere Möglichkeiten wie sich betroffene austauschen können.
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